05.07.2017 · IWW-Abrufnummer 194912
Amtsgericht Göttingen: Urteil vom 05.05.2017 – 74 IK 97/16
1. Haben keine Gläubiger Forderungen angemeldet, so kann in Stundungsverfahren die Restschuldbefreiung sofort erteilt werden Voraussetzung ist nicht, dass die Verfahrenskosten beglichen sind (Fortführung von AG Göttingen ZInsO 2015, 1357 = NZI 2015, 772 = VIA 2015, 71 = ZVI 2015, 268; ZInsO 2016, 242 = ZVI 2016, 117 = RPfleger 2016, 307).
2. Diese Rechtsprechung gilt fort (AG Aurich ZInsO 2017, 788 = NZI 2017, 38 mit Anm. Lackmann = VIA 2017 14 mit Anm. Schmerbach) auch nach der Entscheidung des BGH vom 22.09.2016 – IX ZB 29/16 (BGH ZInsO 2016, 2357 mit Anm. Laroche = InsbürO 2017, 68 mit Anm. Henning = NJW 2017, 75 mit Anm. Ahrens NJW 2017, 21 = NZI 2016, 1006 mit Anm. Schmerbach = VIA 2017, 3 mit Anm. Siebert = ZVI 2017, 71).
In dem Verbraucherinsolvenzverfahren
über das Vermögen der
vertreten durch:
Insolvenzverwalter: Rechtsanwalt
Der Schuldnerin wird in dem am 08.04.2016 eröffneten Insolvenzverfahren gemäß § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO InsO Restschuldbefreiung erteilt.
Mit der Rechtskraft dieser Entscheidung endet das Amt des Insolvenzverwalters.
G r ü n d e :
I. Aufgrund beim Insolvenzgericht am 31.03.2016 eingegangenen Insolvenzantrages ist am 08.04.2016 unter Bewilligung von Stundung das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet worden. Ihre monatlichen Gesamteinkünfte gibt die 1949 geborene und unter Betreuung stehende Schuldnerin mit 774 € an. Das Gläubiger- und Forderungsverzeichnis weist vier Gläubiger mit einer Gesamtverschuldung von 4.709,83 € aus. Forderungen von Gläubigern sind nicht angemeldet worden. Unter dem 03.02.2017 hat der Insolvenzverwalter Schlussbericht erstattet und die Anberaumung eines Schlusstermins beantragt. Masseverbindlichkeiten sind nicht vorhanden, ein Anderkonto ist nicht eingerichtet. Seinen Vergütungsanspruch hat der Insolvenzverwalter (unter Zugrundelegung einer Grundvergütung von 800 €) auf insgesamt 1.107,65 € beziffert. Der Rechtspfleger hat das schriftliche Verfahren angeordnet und die Akte nach Rücksprache mit den übrigen Rechtspflegern dem Richter zur Entscheidung vorgelegt.
II. Der Richter hat das Verfahren zur Entscheidung über den die sofortige Erteilung der Restschuldbefreiung an sich gezogen (1). Forderungen sind nicht angemeldet worden. Sonstige Masseverbindlichkeiten im Sinne des § 55 InsO existieren nicht. Die Schuldnerin hat zwar nicht die Kosten des Verfahrens berichtigt, jedoch ist dies unschädlich. (2.). Auch der erforderliche Antrag der Schuldnerin liegt vor (3.). Der Schuldnerin ist somit vorzeitig gemäß § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO Restschuldbefreiung zu erteilen (4).
1.) Gem. § 18 Abs. 2 RPflG kann sich der Richter nicht nur bei Eröffnung des Verfahrens die Bearbeitung ganz oder teilweise vorbehalten, vielmehr kann er auch nach Eröffnung ein vom Rechtspfleger bearbeitetes Verfahren im Wege des so genannten Evokationsrechtes an sich ziehen (FK-InsO/Schmerbach § 2 Rz. 42 mit weiteren Nachweisen). Von dieser Möglichkeit hat der Richter im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht, um – nach Rücksprache mit den beim Amtsgericht Göttingen in Insolvenzsachen tätigen Rechtspflegern – eine Grundsatzentscheidung zu treffen im Hinblick auf die Entscheidung des BGH vom 22.09.2016 – IX ZB 29/16.
2.) Unschädlich ist es, dass die Kosten des Verfahrens von der Schuldnerin nicht beglichen sind. Zwar fordert § 300 Abs. 1 S. 2 InsO, dass der Schuldner die Kosten des Verfahrens berichtigt hat. Dies gilt aber nicht in Fällen, in denen die Kosten des Verfahrens gestundet sind gemäß § 4 a InsO.
a) Dies entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtes bereits vor der Einfügung des § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO durch das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte (AG Göttingen, Beschl. v. 27.05.2008 - 74 IK 282/07, ZVI 2008, 358 = Rpfleger 2008, 475). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass mangels Forderungsanmeldung keine zur Stellung eines Versagungsanträge berechtigten Gläubiger vorhanden sind und nicht eine sinnentleerte, unnütze verfahrenskostenverursachende Wohlverhaltensperiode durchgeführt werden solle. Die Interessen der Landeskasse würden nicht nachhaltig berührt, da ein möglicher Vermögenserwerb noch über einen Zeitraum von vier Jahren im Rahmen der Nachhaftungsphase des § 4 b Abs. 1 InsO als Haftungsmasse zur Verfügung stehe.
b) Nach der Gesetzesänderung ist diese Rechtsprechung fortgeführt worden (AG Essen, Beschl. v. 23.02.2015 – 165 IK 218/14, BeckRS2015, 19076 mit Anm. Laroche VIA 2016, 16; AG Göttingen, Beschl. v. 29.04.2015 - 71 IK 99/14, NZI 2015, 772 mit Anm. Buchholz VIA 2015, 71; Beschl. v. 21.12.2015 – 71 IK 123/15, NZI 2016, 141; AG Aurich, Beschl. v. 20.11.2015 – 9 IK 395/14, BeckRS 2015, 20606 mit Anm. Schmerbach VIA 2016, 15; a. A. AG Norderstedt, Beschl. v. 10.09.2015 – 65 IK 218/14; LG Essen, Beschl. v. 24.09.2015 - 10 T 328/15, BeckRS 2016, 05735 mit Anm. Schmerbach VIA 2016, 53) unter Zustimmung eines Teiles der Literatur (FK-InsO/Kothe, § 4b Rz. 9; ebenso zur alten Rechtslage HK-InsO/Landfermann 6. Aufl. 2011, § 299 Rz. 6 und HWF-Schmerbach § 299 Rz. 10; a. A. AGR-Weinland § 300 n.F. Rz.4; FK-InsO/Ahrens § 299 Rz. 30 und § 300 Rz. 9; HambK-Streck § 300 Rz. 5,6; HK-InsO/Waltenberger § 299 a.F. Rz. 3 und § 300 n.F. Rz. 11,14; MK-InsO/Stephan § 299 Rz. 17 und § 300 neu Rz. 23; Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht Rz. 1012 ff; Mohrbutter/Ringstmeier/Pape 17/167).
c) Der BGH hat allerdings im Beschluss vom 22.9.2016 (IX ZB 29/16) die gegenteilige Ansicht angeschlossen und eine Begleichung der Verfahrenskosten gefordert. Die Entscheidung des BGH überzeugt weder von der Begründung noch vom Ergebnis her.
aa) Der Wortlaut der Vorschrift spricht zunächst für die vom BGH gefundene Lösung. Richtig ist weiter, dass der Vorrang der Berichtigung der Verfahrenskosten gem. § 53 InsO zu beachten ist, wie auch die Gesetzesbegründung zu Nr.3 InsO (BT-Drucks. 17/11268 S. 30 f.) ausführt. In der vorliegenden Konstellation geht es aber nicht um eine Verkürzung aufgrund überobligatorischer Anstrengungen des Schuldners, vielmehr sind keine Forderungen angemeldet. Mit der bekannten Streitfrage, ob die Stundung der Verfahrenskosten genügt, hat sich der Gesetzgeber gerade nicht auseinandergesetzt.
bb) Der BGH führt selber die entscheidenden Gegenargumente auf. Bereits im Beschluss vom 17. März 2005 (IX ZB 214/04, NZI 2005, 399 mit Anm. Ahrens = ZInsO 2005, 597 = ZVI 2005, 322 = Rpfleger 2005, 471) heißt es, dass ein förmliches Restschuldbefreiungsverfahren unter Einschluss einer Wohlverhaltensphase sinnlos sei, wenn keine Insolvenzgläubiger vorhanden seien. Im aktuellen Beschluss wird angemerkt (Rn. 8), dass im Rahmen des § 300 I S. 2 Nr. 1 InsO der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Durchführung eines Restschuldbefreiungsverfahrens aufgegriffen worden sei. Dieser gebietet aber gerade nicht die Durchführung eines Insolvenzverfahrens, in dem u. a. deshalb nichts zu verteilen ist, weil keine Insolvenzgläubiger ihre Forderung angemeldet haben (bzw. bei bestrittener Forderung keine Feststellungsklage erhoben haben). Ein solches Insolvenzverfahren wäre sinnentleert. Es würde dem Grundsatz des § 1 S. 1 InsO widersprechen, wonach das Insolvenzverfahren dazu dient, „die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen“ (so zutreffend schon AG Aurich, Beschl. v. 20.11.2015 – 9 IK 395/14, ZInsO 2016, 124 = BeckRS 2015, 20606 mit Anm. Schmerbach VIA 2016, 15 = ZVI 2016, 250 = RPfleger 2016, 306).
cc) Die Interessen der Landeskasse sind hinreichend gewahrt bzw. werden sogar effektiv geschützt.
Die Kosten eines durchschnittlichen IK - Verfahrens belaufen sich auf ca. 2.000 Euro, enthalten sind die Kosten für die Treuhändervergütung der Restschuldbefreiungsphase von ca. 714 €. Selbst wenn der Schuldner bei Durchführung der Restschuldbefreiungsphase in wenigen Fällen größeren Vermögenszuwachs erzielt, macht die Landeskasse bei sofortiger Erteilung der Restschuldbefreiung dennoch ein „gutes Geschäft“. In der überwiegenden Zahl der Fälle wird sich auch innerhalb der nächsten neun bis zehn Jahre kein die offenen Verfahrenskosten deckender Betrag ergeben. Im Übrigen gilt auch bei sofortiger Erteilung der Restschuldbefreiung die vierjährige Nachhaftungsphase des § 4 b InsO, in der nicht die günstigen Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO gelten, sondern § 115 Abs. 2 ZPO.
dd) Insgesamt erweist sich die Durchführung eines Restschuldbefreiungsverfahrens als sinnlos. Die Gläubiger erhalten nichts. Der Schuldner wird ca. 5 Jahre von der Erteilung der Restschuldbefreiung ferngehalten und ist bis zu 9 Jahre in Auskunfteien wie z.B. der Schufa aufgeführt. Auch bei Unredlichkeit muss er keine Versagungsanträge befürchten - dies dürfte auch gelten für Gläubiger, die bei bestrittener Forderung keine Feststellungsklage erhoben haben und deswegen nicht im Verteilungsverzeichnis aufgeführt sind. Die Landeskasse wird regelmäßig mit uneinbringlichen Kosten (Treuhändervergütung) belastet.
ee) Das insolvenzverfahren wird beherrscht vom Grundsatz der Gläubigerautonomie. Zeigen die Gläubiger ihr Desinteresse, fehlt es an den Voraussetzungen zur Durchführung eines Verfahrens. Ziel jedes Insolvenzverfahrens ist gem. § 1 Satz 1 InsO die gemeinschaftliche Befriedigung der Insolvenzgläubiger. Melden keine Gläubiger Forderungen an ist in Stundungsverfahren eine teleologische Reduktion geboten (AG Aurich, ZInsO 2017, 788; zust. Ahrens NJW 2017, 23; a. A. Sternal NZI 2017, 281, 287; Pape/Pape ZinsO 2017, 793, 806).
ff) Eine Abweichung von der Rechtsprechung des BGH ist möglich und auch sinnvoll. Entscheidungen des BGH binden nur im konkret entschiedenen Fall (FK-InsO/Schmerbach § 7 Rz. 73 f.). Entgegenstehende Entscheidungen bleiben zulässig. Zudem besteht das Risiko einer Aufhebung durch die Beschwerdeinstanz oder den BGH nicht. § 6 Abs. 1 Satz 1 InsO lässt Rechtsmittel nur in den ausdrücklich geregelten Fällen zu. Bei (vorzeitiger) Erteilung der Restschuldbefreiung ist beschwerdeberechtigt gem. § 300 Abs. 4 Satz 2 InsO jeder Insolvenzgläubiger, der die Versagung der Restschuldbefreiung beantragt oder der das Nichtvorliegen der Voraussetzungen einer vorzeitigen Restschuldbefreiung nach Absatz 1 Satz 2 geltend gemacht hat. Antragsberechtigte Insolvenzgläubiger gibt es aber mangels Forderungsanmeldung nicht.
e) Folglich setzt eine vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung, wenn keine Gläubigerforderungen angemeldet haben, nicht voraus, dass die Kosten des Verfahrens gedeckt sind.
3.) Die Schuldnerin hat zwar keinen ausdrücklichen Antrag gestellt auf sofortige Erteilung der Restschuldbefreiung. Das in § 300 Abs. 1 S. 2 InsO aufgeführte Antragserfordernis hat seine Berechtigung jedenfalls in den Fällen der Nr. 1, 2. Alternative und insbesondere Nr. 2, da in diesen Fällen für das Gericht nicht ersichtlich ist, ob die Voraussetzungen für eine vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung vorliegen. Anders würde sich im vorliegenden Fall. Einen ausdrücklichen Antrag von der Schuldnerin zu fordern wäre reine Förmelei.
4.) In der Tenorierung hat das Insolvenzgericht ausgesprochen, dass der Schuldnerin gem. § 300 InsO die Restschuldbefreiung erteilt wird und mit der Rechtskraft dieser Entscheidung das Amt des Insolvenzverwalters endet.
5.) Einer Zustellung der Entscheidung an den Bezirksrevisor bedarf es nicht, da der Landeskasse in § 4 d Abs. 2 InsO für diese Fallkonstellation kein Beschwerderecht eingeräumt worden ist. Mangels Forderungsanmeldung sind auch keine zur Einlegung einer sofortigen Beschwerde gem. § 300 Abs. Satz 2 InsO berechtigte Insolvenzgläubiger vorhanden. Deshalb kann der Beschluss auch sofort veröffentlicht werden.
III. Der Schuldnerin ist daher die Restschuldbefreiung zu erteilen. Es wird klarstellend darauf hingewiesen, dass die erteilte Restschuldbefreiung nur diejenigen Gläubiger betrifft, die im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin am 08.04.2016 bereits Insolvenzgläubiger im Sinne des § 38 InsO waren, unabhängig davon, ob sie an dem Insolvenzverfahren teilgenommen haben.
über das Vermögen der
vertreten durch:
Insolvenzverwalter: Rechtsanwalt
Der Schuldnerin wird in dem am 08.04.2016 eröffneten Insolvenzverfahren gemäß § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO InsO Restschuldbefreiung erteilt.
Mit der Rechtskraft dieser Entscheidung endet das Amt des Insolvenzverwalters.
G r ü n d e :
I. Aufgrund beim Insolvenzgericht am 31.03.2016 eingegangenen Insolvenzantrages ist am 08.04.2016 unter Bewilligung von Stundung das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet worden. Ihre monatlichen Gesamteinkünfte gibt die 1949 geborene und unter Betreuung stehende Schuldnerin mit 774 € an. Das Gläubiger- und Forderungsverzeichnis weist vier Gläubiger mit einer Gesamtverschuldung von 4.709,83 € aus. Forderungen von Gläubigern sind nicht angemeldet worden. Unter dem 03.02.2017 hat der Insolvenzverwalter Schlussbericht erstattet und die Anberaumung eines Schlusstermins beantragt. Masseverbindlichkeiten sind nicht vorhanden, ein Anderkonto ist nicht eingerichtet. Seinen Vergütungsanspruch hat der Insolvenzverwalter (unter Zugrundelegung einer Grundvergütung von 800 €) auf insgesamt 1.107,65 € beziffert. Der Rechtspfleger hat das schriftliche Verfahren angeordnet und die Akte nach Rücksprache mit den übrigen Rechtspflegern dem Richter zur Entscheidung vorgelegt.
II. Der Richter hat das Verfahren zur Entscheidung über den die sofortige Erteilung der Restschuldbefreiung an sich gezogen (1). Forderungen sind nicht angemeldet worden. Sonstige Masseverbindlichkeiten im Sinne des § 55 InsO existieren nicht. Die Schuldnerin hat zwar nicht die Kosten des Verfahrens berichtigt, jedoch ist dies unschädlich. (2.). Auch der erforderliche Antrag der Schuldnerin liegt vor (3.). Der Schuldnerin ist somit vorzeitig gemäß § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO Restschuldbefreiung zu erteilen (4).
1.) Gem. § 18 Abs. 2 RPflG kann sich der Richter nicht nur bei Eröffnung des Verfahrens die Bearbeitung ganz oder teilweise vorbehalten, vielmehr kann er auch nach Eröffnung ein vom Rechtspfleger bearbeitetes Verfahren im Wege des so genannten Evokationsrechtes an sich ziehen (FK-InsO/Schmerbach § 2 Rz. 42 mit weiteren Nachweisen). Von dieser Möglichkeit hat der Richter im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht, um – nach Rücksprache mit den beim Amtsgericht Göttingen in Insolvenzsachen tätigen Rechtspflegern – eine Grundsatzentscheidung zu treffen im Hinblick auf die Entscheidung des BGH vom 22.09.2016 – IX ZB 29/16.
2.) Unschädlich ist es, dass die Kosten des Verfahrens von der Schuldnerin nicht beglichen sind. Zwar fordert § 300 Abs. 1 S. 2 InsO, dass der Schuldner die Kosten des Verfahrens berichtigt hat. Dies gilt aber nicht in Fällen, in denen die Kosten des Verfahrens gestundet sind gemäß § 4 a InsO.
a) Dies entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtes bereits vor der Einfügung des § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO durch das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte (AG Göttingen, Beschl. v. 27.05.2008 - 74 IK 282/07, ZVI 2008, 358 = Rpfleger 2008, 475). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass mangels Forderungsanmeldung keine zur Stellung eines Versagungsanträge berechtigten Gläubiger vorhanden sind und nicht eine sinnentleerte, unnütze verfahrenskostenverursachende Wohlverhaltensperiode durchgeführt werden solle. Die Interessen der Landeskasse würden nicht nachhaltig berührt, da ein möglicher Vermögenserwerb noch über einen Zeitraum von vier Jahren im Rahmen der Nachhaftungsphase des § 4 b Abs. 1 InsO als Haftungsmasse zur Verfügung stehe.
b) Nach der Gesetzesänderung ist diese Rechtsprechung fortgeführt worden (AG Essen, Beschl. v. 23.02.2015 – 165 IK 218/14, BeckRS2015, 19076 mit Anm. Laroche VIA 2016, 16; AG Göttingen, Beschl. v. 29.04.2015 - 71 IK 99/14, NZI 2015, 772 mit Anm. Buchholz VIA 2015, 71; Beschl. v. 21.12.2015 – 71 IK 123/15, NZI 2016, 141; AG Aurich, Beschl. v. 20.11.2015 – 9 IK 395/14, BeckRS 2015, 20606 mit Anm. Schmerbach VIA 2016, 15; a. A. AG Norderstedt, Beschl. v. 10.09.2015 – 65 IK 218/14; LG Essen, Beschl. v. 24.09.2015 - 10 T 328/15, BeckRS 2016, 05735 mit Anm. Schmerbach VIA 2016, 53) unter Zustimmung eines Teiles der Literatur (FK-InsO/Kothe, § 4b Rz. 9; ebenso zur alten Rechtslage HK-InsO/Landfermann 6. Aufl. 2011, § 299 Rz. 6 und HWF-Schmerbach § 299 Rz. 10; a. A. AGR-Weinland § 300 n.F. Rz.4; FK-InsO/Ahrens § 299 Rz. 30 und § 300 Rz. 9; HambK-Streck § 300 Rz. 5,6; HK-InsO/Waltenberger § 299 a.F. Rz. 3 und § 300 n.F. Rz. 11,14; MK-InsO/Stephan § 299 Rz. 17 und § 300 neu Rz. 23; Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht Rz. 1012 ff; Mohrbutter/Ringstmeier/Pape 17/167).
c) Der BGH hat allerdings im Beschluss vom 22.9.2016 (IX ZB 29/16) die gegenteilige Ansicht angeschlossen und eine Begleichung der Verfahrenskosten gefordert. Die Entscheidung des BGH überzeugt weder von der Begründung noch vom Ergebnis her.
aa) Der Wortlaut der Vorschrift spricht zunächst für die vom BGH gefundene Lösung. Richtig ist weiter, dass der Vorrang der Berichtigung der Verfahrenskosten gem. § 53 InsO zu beachten ist, wie auch die Gesetzesbegründung zu Nr.3 InsO (BT-Drucks. 17/11268 S. 30 f.) ausführt. In der vorliegenden Konstellation geht es aber nicht um eine Verkürzung aufgrund überobligatorischer Anstrengungen des Schuldners, vielmehr sind keine Forderungen angemeldet. Mit der bekannten Streitfrage, ob die Stundung der Verfahrenskosten genügt, hat sich der Gesetzgeber gerade nicht auseinandergesetzt.
bb) Der BGH führt selber die entscheidenden Gegenargumente auf. Bereits im Beschluss vom 17. März 2005 (IX ZB 214/04, NZI 2005, 399 mit Anm. Ahrens = ZInsO 2005, 597 = ZVI 2005, 322 = Rpfleger 2005, 471) heißt es, dass ein förmliches Restschuldbefreiungsverfahren unter Einschluss einer Wohlverhaltensphase sinnlos sei, wenn keine Insolvenzgläubiger vorhanden seien. Im aktuellen Beschluss wird angemerkt (Rn. 8), dass im Rahmen des § 300 I S. 2 Nr. 1 InsO der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Durchführung eines Restschuldbefreiungsverfahrens aufgegriffen worden sei. Dieser gebietet aber gerade nicht die Durchführung eines Insolvenzverfahrens, in dem u. a. deshalb nichts zu verteilen ist, weil keine Insolvenzgläubiger ihre Forderung angemeldet haben (bzw. bei bestrittener Forderung keine Feststellungsklage erhoben haben). Ein solches Insolvenzverfahren wäre sinnentleert. Es würde dem Grundsatz des § 1 S. 1 InsO widersprechen, wonach das Insolvenzverfahren dazu dient, „die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen“ (so zutreffend schon AG Aurich, Beschl. v. 20.11.2015 – 9 IK 395/14, ZInsO 2016, 124 = BeckRS 2015, 20606 mit Anm. Schmerbach VIA 2016, 15 = ZVI 2016, 250 = RPfleger 2016, 306).
cc) Die Interessen der Landeskasse sind hinreichend gewahrt bzw. werden sogar effektiv geschützt.
Die Kosten eines durchschnittlichen IK - Verfahrens belaufen sich auf ca. 2.000 Euro, enthalten sind die Kosten für die Treuhändervergütung der Restschuldbefreiungsphase von ca. 714 €. Selbst wenn der Schuldner bei Durchführung der Restschuldbefreiungsphase in wenigen Fällen größeren Vermögenszuwachs erzielt, macht die Landeskasse bei sofortiger Erteilung der Restschuldbefreiung dennoch ein „gutes Geschäft“. In der überwiegenden Zahl der Fälle wird sich auch innerhalb der nächsten neun bis zehn Jahre kein die offenen Verfahrenskosten deckender Betrag ergeben. Im Übrigen gilt auch bei sofortiger Erteilung der Restschuldbefreiung die vierjährige Nachhaftungsphase des § 4 b InsO, in der nicht die günstigen Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO gelten, sondern § 115 Abs. 2 ZPO.
dd) Insgesamt erweist sich die Durchführung eines Restschuldbefreiungsverfahrens als sinnlos. Die Gläubiger erhalten nichts. Der Schuldner wird ca. 5 Jahre von der Erteilung der Restschuldbefreiung ferngehalten und ist bis zu 9 Jahre in Auskunfteien wie z.B. der Schufa aufgeführt. Auch bei Unredlichkeit muss er keine Versagungsanträge befürchten - dies dürfte auch gelten für Gläubiger, die bei bestrittener Forderung keine Feststellungsklage erhoben haben und deswegen nicht im Verteilungsverzeichnis aufgeführt sind. Die Landeskasse wird regelmäßig mit uneinbringlichen Kosten (Treuhändervergütung) belastet.
ee) Das insolvenzverfahren wird beherrscht vom Grundsatz der Gläubigerautonomie. Zeigen die Gläubiger ihr Desinteresse, fehlt es an den Voraussetzungen zur Durchführung eines Verfahrens. Ziel jedes Insolvenzverfahrens ist gem. § 1 Satz 1 InsO die gemeinschaftliche Befriedigung der Insolvenzgläubiger. Melden keine Gläubiger Forderungen an ist in Stundungsverfahren eine teleologische Reduktion geboten (AG Aurich, ZInsO 2017, 788; zust. Ahrens NJW 2017, 23; a. A. Sternal NZI 2017, 281, 287; Pape/Pape ZinsO 2017, 793, 806).
ff) Eine Abweichung von der Rechtsprechung des BGH ist möglich und auch sinnvoll. Entscheidungen des BGH binden nur im konkret entschiedenen Fall (FK-InsO/Schmerbach § 7 Rz. 73 f.). Entgegenstehende Entscheidungen bleiben zulässig. Zudem besteht das Risiko einer Aufhebung durch die Beschwerdeinstanz oder den BGH nicht. § 6 Abs. 1 Satz 1 InsO lässt Rechtsmittel nur in den ausdrücklich geregelten Fällen zu. Bei (vorzeitiger) Erteilung der Restschuldbefreiung ist beschwerdeberechtigt gem. § 300 Abs. 4 Satz 2 InsO jeder Insolvenzgläubiger, der die Versagung der Restschuldbefreiung beantragt oder der das Nichtvorliegen der Voraussetzungen einer vorzeitigen Restschuldbefreiung nach Absatz 1 Satz 2 geltend gemacht hat. Antragsberechtigte Insolvenzgläubiger gibt es aber mangels Forderungsanmeldung nicht.
e) Folglich setzt eine vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung, wenn keine Gläubigerforderungen angemeldet haben, nicht voraus, dass die Kosten des Verfahrens gedeckt sind.
3.) Die Schuldnerin hat zwar keinen ausdrücklichen Antrag gestellt auf sofortige Erteilung der Restschuldbefreiung. Das in § 300 Abs. 1 S. 2 InsO aufgeführte Antragserfordernis hat seine Berechtigung jedenfalls in den Fällen der Nr. 1, 2. Alternative und insbesondere Nr. 2, da in diesen Fällen für das Gericht nicht ersichtlich ist, ob die Voraussetzungen für eine vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung vorliegen. Anders würde sich im vorliegenden Fall. Einen ausdrücklichen Antrag von der Schuldnerin zu fordern wäre reine Förmelei.
4.) In der Tenorierung hat das Insolvenzgericht ausgesprochen, dass der Schuldnerin gem. § 300 InsO die Restschuldbefreiung erteilt wird und mit der Rechtskraft dieser Entscheidung das Amt des Insolvenzverwalters endet.
5.) Einer Zustellung der Entscheidung an den Bezirksrevisor bedarf es nicht, da der Landeskasse in § 4 d Abs. 2 InsO für diese Fallkonstellation kein Beschwerderecht eingeräumt worden ist. Mangels Forderungsanmeldung sind auch keine zur Einlegung einer sofortigen Beschwerde gem. § 300 Abs. Satz 2 InsO berechtigte Insolvenzgläubiger vorhanden. Deshalb kann der Beschluss auch sofort veröffentlicht werden.
III. Der Schuldnerin ist daher die Restschuldbefreiung zu erteilen. Es wird klarstellend darauf hingewiesen, dass die erteilte Restschuldbefreiung nur diejenigen Gläubiger betrifft, die im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin am 08.04.2016 bereits Insolvenzgläubiger im Sinne des § 38 InsO waren, unabhängig davon, ob sie an dem Insolvenzverfahren teilgenommen haben.
RechtsgebietInsolvenz