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06.12.2016 · IWW-Abrufnummer 190371

Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 19.02.2016 – I-32 Sa 1/16

Ob eine Schadenaußenstelle oder ein Schadensregulierungsbüro einer Versicherung eine Niederlassung im Sinne von § 21 Absatz 1 ZPO darstellt, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Nimmt ein Verweisungsbeschluss mit noch vertretbarer Begründung an, dass die Übertragung bloßer Schadensregulierung und Schadensabwicklung auf ein Regulierungsbüro für die Begründung (auch des Scheins) einer Niederlassung einer Kfz-Haftpflichtversicherung, aus der unmittelbar Geschäfte geschlossen werden, nicht ausreicht, kann der Beschluss bindend sein.


Oberlandesgericht Hamm

32 SA 1/16

Tenor:
Zuständig ist das Landgericht D.

1

Gründe:

2

I.

3

Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht auf Schadensersatz für Mietwagenkosten aus mehreren Verkehrsunfällen in Anspruch.

4

Die Beklagte ist ein Versicherungsunternehmen mit Sitz in D. Sie unterhält in E eine Schadenaußenstelle. Die vorgerichtliche Korrespondenz erfolgte jeweils über diese Schadenaußenstelle.

5

Die Klägerin vertritt unter Verweis auf die Regulierungstätigkeit der Schadenaußenstelle, insbesondere auf die selbständige Abrechnung der Schäden und auf Vergleichsangebote im Bereich weiterer 100 bis 200 €, die Auffassung, die Schadenaußenstelle stelle eine Niederlassung im Sinne von § 21 ZPO dar. Jedenfalls habe die Beklagte den Anschein erweckt, die Schadenaußenstelle in E stelle eine Niederlassung dar. Das folge aus der durchgehenden Führung der Korrespondenz über die Schadenaußenstelle wie auch aus dem erweckten Eindruck, die Regulierung erfolge eigenständig und selbständig über diese. Sie hat sich u.a. auf eine Entscheidungen des Amtsgerichts E berufen, in denen die dortige Zuständigkeit bejaht wurde.

6

Die Beklagte behauptet, die Schadenaußenstelle sei keine Niederlassung. Sie sei nicht zum Abschluss von Verträgen pp. befugt. Die Beklagte hat sich weiter auf Entscheidungen des Amts- und des Landgerichts E berufen, in denen die Eigenschaft der Niederlassung für die Schadenaußenstelle verneint werde.

7

Das Landgericht E hat den Rechtsstreit nach Hinweis an die Parteien auf den Hilfsantrag der Klägerin durch Beschluss vom 04.11.2015 an das Landgericht D verwiesen. Es sei gerichtsbekannt, dass die Beklagte keine Niederlassung in E unterhalte. Auch ein Anschein einer Niederlassung sei nicht gesetzt. Aus der Korrespondenz ergebe sich lediglich, dass diese von E aus geführt worden sei, da als Absenderanschrift die Schadenaußenstelle angegeben sei. Das Schreiben ende aber mit dem Namen der Beklagten und dem bloßen Zusatz „Ihr Schaden-Team“. Das erwecke nicht den Anschein, dass in E eine selbständige Niederlassung betrieben werde.

8

Das Landgericht D hat mit den Parteien bekannt gemachtem Beschluss vom 12.12.2015 die Übernahme des Rechtsstreits abgelehnt und ihn an das Landgericht E zurückgegeben. Der Anschein einer Niederlassung in E sei von der Beklagten begründet und durch das Landgericht E willkürlich verneint worden. Im Schriftverkehr sei durchgehend lediglich die Schadenaußenstelle angegeben, auch unter der Unterschrift weise der Zusatz „Schaden-Team“ wieder auf die Schadenaußenstelle. Das begründe für den Rechtsverkehr den Anschein einer selbständigen Niederlassung bei der Schadenaußenstelle, die mit der Regulierung durchgehend befasst gewesen sei. Der Beschluss sei willkürlich, weil eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den von der Klägerseite vorgelegten Entscheidungen fehle.

9

Das Landgericht E hat den Rechtsstreit zur Bestimmung der Zuständigkeit dem Oberlandesgericht Hamm vorgelegt.

10

II.

11

1.

12

Da das zunächst höhere gemeinschaftliche Gericht der Bundesgerichtshof wäre, ist das zuständige Gericht durch das Oberlandesgericht Hamm zu bestimmen, zu dessen Bezirk das zuerst mit der Sache befasste Landgericht E gehört (§ 36 Abs. 1, Abs. 2 ZPO).

13

2.

14

Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO sind gegeben.

15

Gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO wird das zuständige Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Unzuständigkeitserklärungen liegen mit den Beschlüssen des Landgerichts E vom 04.11.2015 und dem Beschluss des Landgerichts D vom 12.12.2015 vor.

16

3.

17

Zu bestimmen war das Landgericht D.

18

Das Landgericht D ist jedenfalls aufgrund der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses gem. § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO zuständig. Die Entscheidung des Landgerichts E ist bindend.

19

a)

20

Grundsätzlich ist ein Verweisungsbeschluss gem. § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO bindend, da - im Einklang mit der in § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO normierten Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen - im Interesse der Prozessökonomie das Verfahren verzögernde und verteuernde Zuständigkeitsstreitigkeiten vermieden werden sollen.

21

Die Bindungswirkung ist auch im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Als zuständig ist daher dasjenige Gericht zu bestimmen, an das die Sache durch den ersten Verweisungsbeschluss gelangt ist, wenn diesem die Bindungswirkung nicht ausnahmsweise fehlt (st. Rspr., z.B. BGH, Beschluss vom 13.03.1964 – Ib ARZ 44/64, juris Rn. 16; BGH, Beschluss vom 15.03.1978 – IV ARZ 17/78, juris Rn. 4; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 31. Auflage 2016, § 36 ZPO Rn. 28 m.w.N.).

22

b)

23

Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt jedoch dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (BGH, Beschluss vom v. 19.02.2013 – X ARZ 507/12, juris Rn. 7 m.w.N.).

24

Für die Bewertung als willkürlich genügt es nicht, dass der Verweisungsbeschluss schlicht inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Willkür liegt vielmehr nur vor, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (st. Rspr., z. B. BGH, a.a.O.; BGH, Beschluss vom 09.06.2015 – X ARZ 115/15 –, juris Rn. 9). Erforderlich sind in der Gesamtbetrachtung Umstände, die über das bloße Übersehen oder Verkennen einer Zuständigkeitsnorm hinausgehen und die Verweisung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (st. Rspr., z. B. BGH, a.a.O.; BGH, Beschluss vom 09.07.2002 – X ARZ 110/02 –, Rn. 8, juris).

25

c)

26

Nach diesen Grundsätzen ist der Verweisungsbeschluss des Landgerichts E bindend.

27

aa)

28

§ 21 Abs. 1 ZPO verlangt eine Niederlassung, von der aus unmittelbar Geschäfte geschlossen werden.

29

Als Niederlassung wird allgemein jede von dem Inhaber an einem anderen Ort als dem seines (Wohn-)Sitzes für eine gewisse Dauer eingerichtete, auf seinen Namen und für seine Rechnung und selbständig betriebene, aus eigener Entscheidung zum Abschluss von Geschäften und Handeln berechtigte Geschäftsstelle verstanden (z. B. BGH, Urteil vom 13.07.1987 – II ZR 188/86 –, juris Rn. 17; Vollkommer in: Zöller, a.a.O. § 21 ZPO Rn. 6 m.w.N.).

30

Bei Zweigniederlassungen kommt es darauf an, ob ihnen ein Teil des Geschäftsbetriebs zur selbständigen Erledigung in eigener Verantwortung übertragen worden ist (Heinrich in: Musielak, 12. Aufl. 2015, § 21 ZPO Rn. 6, beck-online). Nicht ausreichend ist, wenn die Nebenstelle nur untergeordnete, dem Geschäftsbetrieb dienende Geschäfte selbständig abschließt (RG, Urteil vom 30.01.1902 - VI 396/01, Z 50, 396, 398f., juris; OLG Hamm, Urteil vom 20. Mai 2009 – I-20 U 110/08) oder wenn eine „Leitung“ nur nach solchen Weisungen handeln darf, die sie von der Hauptstelle erhält (OLG Hamm, a.a.O., juris Rn. 51).

31

bb)

32

Zu Lasten des Gewerbetreibenden besteht eine Bindung an den gesetzten Schein einer Niederlassung (BGH a.a.O.; Patzina in: MüKoZPO § 21 Rn. 9 ZPO, beck-online; Vollkommer in: Zöller, a.a.O.). Es ist hinreichend, wenn hinsichtlich aller Merkmale einer Niederlassung zurechenbar der Rechtsschein gesetzt wird, es handele sich um solche (Roth in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Auflage 2003, § 21 ZPO Rn. 11; Heinrich in: Musielak, ZPO, 12. Auflage 2015, § 21 ZPO Rn. 2, beck-online m.w.N.).

33

cc)

34

Ob danach eine Schadenaußenstelle oder ein Schadens(-regulierungs-)büro eine Niederlassung darstellt, wird unterschiedlich beantwortet (bejahend: OLG Köln, Beschluss vom 26.09.2012 – 8 AR 67/12, juris Rn. 13 und Beschluss vom 10.12.2012 – 8 AR 84/12, juris Rn. 12; Heinrich in: Musielak, a.a.O., § 21 ZPO Rn. 6, beck-online; verneinend LG Karlsruhe, Urteil vom 22.11.1995 - 11 O 81/95, juris; Smid/Hartmann in: Wieczorek/Schütte, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 21 ZPO Rn. 20; Vollkommer in: Zöller, Zivilprozessordnung, 31. Aufl. 2016, § 21 ZPO Rn. 9; Roth in: Stein/Jonas, a.a.O., § 21 ZPO Rn. 16; unklar Patzina in: MüKoZPO, § 21 ZPO Rn. 9, beck-online).

35

Soweit in diesem Zusammenhang ausgeführt wird, dass die Vornahme der Schadensregulierung zur Herstellung des erforderlichen Bezugs zum Geschäftsbetrieb der Niederlassung ausreicht (Vollkommer in: Zöller, a.a.O., § 21 ZPO Rn. 11), betrifft dies den Fall, dass das Vorhandensein einer Niederlassung feststeht und zu prüfen ist, ob der für § 21 ZPO weiter erforderliche Bezug zu dieser vorhanden ist, nicht aber die Frage nach der Qualifizierung des Schadensbüros als solchen (unklar allerdings OLG Köln, Beschluss vom 26. September 2012 – 8 AR 67/12, juris Rn. 13).

36

dd)

37

Wenn das Landgericht E vor diesem Hintergrund eine Niederlassung und auch den Schein einer selbständigen Niederlassung verneint hat, ist das jedenfalls nicht willkürlich.

38

(1)

39

Ob die Übertragung bloßer Schadensregulierung und Schadensabwicklung auf ein Regulierungsbüro für die Begründung (des Scheins) einer Niederlassung einer Kfz-Haftpflichtversicherung, aus der unmittelbar Geschäfte geschlossen werden, ausreicht, ist - wie dargestellt - streitig und vom Landgericht E jedenfalls noch vertretbar mit den oben dargestellten Auffassungen verneint worden. Vom Senat ist sie im Rahmen des vorliegenden Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens nicht zu entscheiden. Weitere Umstände sprechen nicht für eine selbständige Niederlassung oder den Rechtsschein einer solchen.

40

Aus den vorgelegten Schreiben der Schadensaußenstelle ergibt sich die Übertragung einer über den Geschäftskreis der Schadensregulierung hinausgehenden Befugnis zum Abschluss von Geschäften – insbesondere zum Abschluss oder zur Gestaltung von Versicherungsverhältnissen - gerade nicht. Einen solchen hat auch die Klägerin nicht behauptet. Vielmehr geht es insoweit nur um den Teilbereich der Abwicklung der aus einem Vertrag gegenüber dem Versicherungsnehmer oder dem Direktanspruchsberechtigten geschuldeten Leistung.

41

Aus den von der Klägerin vorgelegten Abrechnungsschreiben, in denen Zahlungen an die Sachverständigen veranlasst und geringe Summen zur vergleichsweisen Beendigung angeboten werden, ist bei objektiver Betrachtung auch nicht zwingend auf die Selbständigkeit der Leitung des Schadensbüros zu schließen.

42

(2)

43

Der Beschluss ist unter Wahrung des rechtlichen Gehörs der Parteien ergangen und war auch noch hinreichend begründend.

44

Allerdings ist der Verweis, es sei „gerichtsbekannt“, pauschal und entbehrt der Darlegung, woher die Kenntnis des verweisenden Gerichts folgt. Letztlich hat die Klägerin zu einem über die Schadenregulierung hinausgehenden Tätigkeitsbereich der Schadenaußenstelle und auch zum Innenverhältnis zwischen der Schadenaußenstelle und dem Hauptsitz aber jedenfalls nicht konkret vorgetragen.

45

Im Übrigen hat das Landgericht E die - wesentliche - klägerische Argumentation, es sei durch Inhalt und Gestaltung der Korrespondenz der Schein einer Niederlassung in E gegeben, aufgenommen. Es hat die geführte Korrespondenz gewürdigt und zur Verneinung des Anscheins auf die Angabe des Namens der Beklagten mit dem Zusatz „in D“ in der Unterschriftszeile abgestellt. Aus diesem konnte letztlich – noch vertretbar – auf eine Legitimierung der Korrespondenz über die Hauptstelle in D und eine bloße abhängige Stellung des Schadensteams in E geschlossen werden, die dem Anschein einer selbständigen Niederlassung entgegenstand. Eine tiefere Begründung war vor dem Hintergrund fehlenden weiteren Vortrags insoweit nicht erforderlich.

46

(3)

47

Da die Entscheidung des Senats über die Frage der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses maßgeblich auf den Umständen des Einzelfalls zu der Bewertung des erweckten Scheins beruht, war auch in Ansehung der Entscheidungen des OLG Köln vom 26.09.2012 – 8 AR 67/12 – und vom 10.12.2012 - 8 AR 84/12 – eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gem. § 36 Abs. 3 ZPO nicht vorzunehmen. Dort ist entscheidend auf die gänzlich fehlende Auseinandersetzung mit dem Schein einer Niederlassung abgestellt worden. Im Übrigen war auch die Gestaltung der Korrespondenz abweichend.

RechtsgebietZPOVorschriften§§ 36 I Nr. 6, 281 ZPO

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