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06.11.2015 · IWW-Abrufnummer 145664

Landgericht Neubrandenburg: Beschluss vom 30.09.2015 – 82 Qs 112/15

Wird Akteneinsicht nach Eingang der Akte beim zuständigen Gericht versagt, steht diese Entscheidung in engem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung und ist somit in der Regel nicht beschwerdefähig im Sinn des § 305 Satz 1 StPO. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn dem Betroffenen ein Rechtsmittel gegen das Urteil nicht oder wenn dem Angeklagten zwar ein Rechtsmittel gegen das Urteil zusteht, die betroffene Entscheidung aber im Rahmen dieses Rechtsmittels nicht überprüft werden kann. Die vage Möglichkeit der Zulassung der Rechtsbeschwerde im Bußgeldverfahren steht dem nicht entgegen.
Der Verteidiger hat ein Recht auf Einsicht in den gesamten Messfilm.


Aktenzeichen: 82 Qs 112/15
Landgericht Neubrandenburg
Beschluss
In dem Bußgeldverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt Tim Küchenmeister, Reißiger Straße 33, 01307 Dresden, Gz.: KÜ-kö 330/15
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit hier: Beschwerde des Betroffenen -
hat das Landgericht Neubrandenburg - 82. Strafkammer, Beschwerdekammer - durch die unterzeichnenden Richter am 30.09.2015 beschlossen:
Auf die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 28.08.2015 wird dieser aufgehoben.
Die Verwaltungsbehörde wird angewiesen, die vollständige Messsequenz (Rohdaten) vom 24.4.2015, 13:26 bis 20:06 in digital verschlüsselter Form sowie die Statistik-Datei der Messörtlichkeit A 20, Abfahrt Neubrandenburg Ost, ABS 700, Kilometer 262, Fahrtrichtung Stralsund, zur Auswertung an das Ingenieurbüro P. zu übersenden.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Betroffenen dadurch entstandenen
notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe:
Gegen den Betroffenen wird ein Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren geführt. Wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erging gegen ihn am 12.6.2015 ein Bußgeldbescheid über 85 € (110 € incl. Gebühren). Dagegen legte der Betroffenen über seinen Verteidiger fristgerecht Einspruch ein. Der Verteidiger beauftrage einen Sachverständigen mit der Auswertung der gegenständlichen Messsequenz.
Dieser beantragte in Untervollmacht des Verteidigers beim Landkreis Seenplatte/Bußgeldstelle die Herausgabe des Rohdatensatzes vom Tattage (24.4.2015) für den Zeitraum 13:26 bis 20:06 in digitaler verschlüsselter Form sowie der Statistik-Datei von der Messörtlichkeit A 20, Abfahrt Neubrandenburg Ost, Abschnitt 700, km 262, in Fahrtrichtung Stralsund, zur Auswertung zu übersenden (inklusive Token und Passwort) sowie die Übersendung sämtlicher Instandsetzungs- und Wartungsprotokolle. Dies lehnte die Bußgeldstelle ab, übersandte nur den den Betroffenen betreffenden Rohdatensatz.
Daraufhin beantragte der Verteidiger die Übersendung der vollständigen Messsequenz vom 24.4.2015, 13:26 bis 20:06 in digitaler verschlüsselter Form sowie die Statistikdatei an das in Riesa befindliche Ingenieurbüro zu übersenden.
Ohne die vollständige Messsequenz sei es dem Sachverständigen nicht möglich, Aussagen zur Veränderung des Messwinkels innerhalb der Messsequenz, zur Integrität- und Authentitätsprüfung aller Datensätze zu treffen. Darüber hinaus verlange § 37 EichO, dass die Messbeständigkeit der Messanlage überprüft wird.
Durch den angefochtenen Beschluss lehnte das Amtsgericht dies ab. Es bestehe nur Anspruch darauf, dass die Datei ausgehändigt werde, die den Verkehrsvorgang des Betroffenen zum Inhalt hat. Die Aushändigung mehrerer hundert Dateien, die andere Verkehrsteilnehmer betreffen käme - zum Zwecke der Weitergabe an einen privaten Sachverständigen - aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht in Betracht.
Der dagegen gerichteten Beschwerde vom 8.9.2015, auf deren Inhalt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, hat das Amtsgericht nicht abgeholfen.
Gegen den Beschluss wendet sich der Betroffene mit Schreiben vom 08.09.2015 eingegangen beim Amtsgericht am 08.09.2015.
Der Beschwerde hat das Amtsgericht Neubrandenburg nicht abgeholfen.
II.
1. Die Beschwerde des Betroffenen ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO. § 305 StPO steht dem nicht entgegen.
Allerdings hat die Kammer in einem Fall, in dem es ebenfalls um die Herausgabe einer voll-ständigen Messsequenz ging, die Unzulässigkeit der Beschwerde festgestellt (82 Qs 47/15). Dass im vorliegenden Fall von einer Zulässigkeit der Beschwerde ausgegangen wird, bedeutet ausdrücklich nicht die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung der Kammer:
Nach § 305 Satz 1 StPO unterliegen Entscheidungen des erkennenden Gerichts, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. Dies gilt auch für Verfügungen und Beschlüsse des Vorsitzenden, die wie hier nach gerichtlicher Anhängigkeit getroffen werden, wenn sie der Urteilsvorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung selbst der nochmaligen Prüfung unterliegen und vom Gericht unter bestimmten Voraussetzungen überprüft werden können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 305, Rdn. 1).
Vorliegend macht der Verteidiger sein Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO geltend, das den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren - insbesondere Waffengleichheit - gewährleistet und das vornehmlich der Vorbereitung und/oder Begründung von Beweisanträgen bzw. Beweisanregungen in der bevorstehenden Hauptverhandlung dient und damit eine effektive Verteidigung ermöglichen soll (vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 2001, 374 m.w.N.).
Da die Gewährleistung dieser grundlegenden Prozessrechte vorrangige Aufgabe jedes Gerichtes ist, muss diese Entscheidung durch das erkennende Gericht vor der Urteilsfällung erneut auf ihre Rechtmäßigkeit hin geprüft werden. Die Verletzung der Prozessgrundrechte aus Art. 103 Abs. 1 GG und des Rechts auf ein faires Verfahren wird - unter bestimmten Voraussetzungen - auch durch den Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG geschützt. Wird somit Akteneinsicht nach Eingang der Akte beim zuständigen Gericht versagt, steht diese Entscheidung in engem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung und ist somit in der Regel nicht beschwerdefähig im Sinn des § 305 Satz 1 StPO.
Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn dem Betroffenen ein Rechtsmittel gegen das Urteil nicht zusteht (vgl. OLG Hamm NStZ 1986, 328, 329) oder wenn dem Angeklagten zwar ein Rechtsmittel gegen das Urteil zusteht, die betroffene Entscheidung aber im Rahmen dieses Rechtsmittels nicht überprüft werden kann (vgl. OLG Koblenz, 1 Ws 501/05 vom 16.08.2005). In einem derartigen Fall besteht keine „Konkurrenzsituation" zwischen dem Rechtsmittel in der Hauptsache und der Beschwerde, die deren Ausschluss rechtfertigen könnte.
So verhält es sich hier. Die Geldbuße beträgt weniger als 250 €, Nebenfolgen wurden durch den Bußgeldbescheid nicht verhängt (die „Punkteeintragung" ist keine Nebenfolge im Sinne des OWiG), sodass ein ergangenes Urteil nicht mit der Rechtsbeschwerde wird angefochten werden können - auf die bloß vage Möglichkeit einer Zulassung nach § 80 OWiG kann bei der Frage des Anwendungsbereiches des § 305 StPO nicht abgestellt werden.
2. Die Beschwerde ist begründet.
Der Betroffene hat über das Akteneinsichtsrecht seines Verteidigers einen Anspruch auf Übersendung einer Kopie des kompletten Datensatzes der Messserie an den Verteidiger, die auch die Messung zu der ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung enthält,
Dieser Anspruch ergibt sich aus § 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO. Das Akteneinsichtsrecht um-fasst auch die Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke. Grundsätzlich erfolgt die Besichtigung von Aufzeichnungen dadurch, dass sie sich der Verteidiger in der Polizeidienststelle bzw. Bußgeldstelle vorspielen lässt. Reicht dies im Einzelfall zu Informationszwecken nicht aus, hat er Anspruch auf die Herstellung einer amtlich gefertigten Kopie (Meyer-Goßner, § 147 StPO, Rnr. 19).
Bei den Datenaufzeichnungen zu der dem Betroffenen vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung handelt es sich zweifellos um ein verfahrensbezogenes Beweismittel, auf welches sich das Akteneinsichtsrecht bezieht. Für den Beweiswert der Messung kommt es aber auf deren Richtigkeit an. Da bei einer gewissen Fehlerhäufigkeit innerhalb einer Messserie Zweifel an der Richtigkeit sämtlicher Messungen der Messserie entstehen können, ist die gesamte Messserie beweisrelevant, ebenso die Statistik-Datei der Messörtlichkeit.
Das Recht des Verteidigers auf Einsicht betrifft alle Unterlagen und Beweistücke, die regelmäßig einem — gerichtlich bestellten — Sachverständigen vorgelegt werden. Bei Geschwindigkeitsmessungen überprüft der Sachverständige regelmäßig den Film unter anderem hinsichtlich der Vollständigkeit, eventueller zwischenzeitlicher Standortsveränderungen, Besonderheiten der Ablichtung der Messung des Betroffenen aber auch der sonstigen Messungen etc.. Gegebenenfalls auf dem übrigen Film erkennbare Besonderheiten sind bei der Bewertung der gesamten Messreihe von Bedeutung und somit auch für die Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verteidigung von Bedeutung. Deswegen hat der Verteidiger ein Recht auf Einsicht in den gesamten Messfilm (so auch AG Cottbus OWi 174/08; AG Ulm 5 OWi 45/13 AG Senftenberg 59 OWi 93/11, AG Stuttgart 16 OWi 3433/11, AG Luckenwalde 28 OWi 122/13, AG Stuttgart 11 OWi 575/14, zweifelnd und offen lassend OLG Düsseldorf IV-2 RBs 63/15, 2 RBs 63/15).
Soweit das OLG Düsseldorf (a.a.O.) entschieden hat, ein derartiges Akteneinsichtsrecht zum Zwecke der Einholung eines Privatgutachtens bestehe in der Hauptverhandlung nicht, es be-stehe ausschließlich die Möglichkeit, bereits im Verwaltungsverfahren ein entsprechendes Akteneinsichtsgesuch zu stellen und ggfs. Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) zu beantragen und gegen eine ablehnende Gerichtsentscheidung Verfassungsbeschwerde einzulegen, ist dem jedenfalls wenn es um die Bescheidung eines im Rahmen der Vorbereitung der Hauptverhandlung vor Anberaumung des Hauptverhandlungstermins gestellten Antrags auf Akteneinsicht geht, nicht zu folgen. Nach Eingang der Akten beim Gericht ist dieses für die Bescheidung des Gesuches zuständig, es geht nicht (mehr) um eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde.
Dies gilt umso mehr, als die Bußgeldbehörden, wie eine Anfrage ergeben hat, aufgrund daten-schutzrechtlicher Bedenken jedenfalls derzeit komplette Messreihen stets nur aufgrund richterlicher Anordnung herausgeben.
Dass allerdings in der laufenden Hauptverhandlung das Akteneinsichtsrecht eingeschränkt ist, ist allerdings nahezu einhellige Auffassung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO § 147 Rdr. 10). Auch wird ein allgemeines Akteneinsichtsgesuch regelmäßig nicht so auszulegen sein, dass die gesamte Messreihe zugänglich gemacht werden soll. Darum aber geht es hier nicht, so dass sich weitere Ausführungen der Kammer dazu ebenso erübrigen wie zu der Frage, wie zu verfahren ist, wenn sich die Erstellung eines Privatgutachtens verzögert.
Durchgreifende datenschutzrechtliche Bedenken bestehen nicht.
Aufgrund der Komplexität der Überprüfung einer Messreihe muss sich der Verteidiger auch nicht auf eine Einsichtnahme des Messfilms in den Räumen der Behörde verweisen lassen, sondern kann Einsicht durch Gewährung einer Kopie - falls technisch machbar, auf einem von ihm bereit gestellten Datenträger - verlangen.
Der Persönlichkeitsschutz anderer abgebildeter Verkehrsteilnehmer steht dem Einsichtsrecht nicht entgegen, da sich die anderen abgebildeten Personen sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und auch der Kontrolle ihres Verhaltens im Straßenverkehr durch die Polizei ausgesetzt haben. Hinzu kommt, dass der aufgezeichnete und festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist (vgl. BVerfG NJW 2011, 2783, 2785).
Ob hinsichtlich der Herausgabe von Token/Passwort datenschutzrechtliche Bedenken bestehen könnten (vgl. dazu AG Lüdenscheid 86 OWi 76/13 (b) ) ist jedenfalls unbeachtlich geworden. Diese Entschlüsselungsinstrumente wurden nämlich bereits bei Herausgabe des den Betroffenen betreffenden Rohdatensatzes an den Sachverständigen übergeben, wie die Bußgeldstelle auf telefonische Anfrage erklärt hat.
Unzumutbare Belastungen entstehen bei der Bussgeldstelle ebenso wenig. Vom Arbeitsaufwand her sei, so die Bußgeldstelle, der Aufwand bei der Herausgabe einer Messreihe vergleichbar mit dem Aufwand bei der Herausgabe eines einzelnen Rohdatensatzes.
Schließlich bestehen keine Bedenken, die Datensätze an das Ingenieurbüro herauszugeben, an welches bereits ein Rohdatensatz durch die Behörde herausgegeben worden ist.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.

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