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15.10.2015 · IWW-Abrufnummer 145558

Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 10.09.2015 – C-266/14

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


EuGH, 10.09.2015 - C-266/14

Urteil des Gerichtshofes - 10. September 2015#Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras#Rechtssache C-266/14 Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras PROPCELEX
Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, unter denen die Arbeitnehmer keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, die Fahrzeit, die diese Arbeitnehmer für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden aufwenden, „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Urteil

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras (CC.OO.) einerseits und der Tyco Integrated Security SL und der Tyco Integrated Fire & Security Corporation Servicios SA (im Folgenden zusammen: Tyco) andererseits über die Weigerung von Tyco, die Zeit, die ihre Angestellten für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden (im Folgenden: Fahrzeit Wohnort-Kunden) aufwenden, als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie anzusehen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3. Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.“

4. Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie

b) bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.

(3) Diese Richtlinie gilt unbeschadet ihrer Artikel 14, 17, 18 und 19 für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 89/391/EWG [des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. L 183, S. 1)].



(4) Die Bestimmungen der Richtlinie 89/391 … finden unbeschadet strengerer und/oder spezifischer Vorschriften in der vorliegenden Richtlinie auf die in Absatz 2 genannten Bereiche voll Anwendung.“

5. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie sieht in seinen Nrn. 1 und 2 vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie sind:

1. Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;

2. Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“.

6. Art. 3 („Tägliche Ruhezeit“) der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden gewährt wird.“

Spanisches Recht

7. Art. 34 des Arbeitnehmerstatuts in der Fassung des Königlichen Gesetzesdekrets 1/1995 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut vom 24. März 1995 (Real Decreto Legislativo 1/1995, de 24 de marzo, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores, BOE Nr. 75 vom 29. März 1995, S. 9654) bestimmt in den Abs. 1, 3 und 5:

„(1) Die Arbeitszeit wird durch Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag festgelegt.

Die Regelarbeitszeit beträgt im Jahresdurchschnitt höchstens 40 tatsächlich geleistete Wochenstunden.



(3) Zwischen dem Ende eines Arbeitstags und dem Beginn des folgenden liegen mindestens zwölf Stunden.

Die Anzahl der tatsächlich geleisteten gewöhnlichen Arbeitsstunden darf neun Stunden täglich nicht überschreiten, sofern nicht in einem Tarifvertrag oder in Ermangelung dessen in einer Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und den Arbeitnehmervertretern eine andere Verteilung der täglichen Arbeitszeit vereinbart wird, wobei in jedem Fall die täglichen Ruhezeiten zu beachten sind.



(5) Bei der Berechnung der Arbeitszeit wird sowohl für den Beginn als auch für das Ende des Arbeitstags auf den Zeitpunkt abgestellt, an dem sich der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz befindet.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8. Tyco ist in den meisten Provinzen Spaniens in der Installation und Wartung von Sicherheitssystemen zur Erkennung von Einbrüchen und zur Verhinderung von Einbruchsdiebstählen tätig.

9. Im Jahr 2011 schloss Tyco ihre Büros in den Provinzen (im Folgenden: Regionalbüros) und wies sämtliche ihrer Angestellten dem Zentralbüro in Madrid (Spanien) zu.

10. Die bei Tyco angestellten Techniker installieren und warten Sicherheitsvorrichtungen in Häusern sowie industriellen und gewerblichen Einrichtungen in dem ihnen zugewiesenen Gebiet, das die ganze Provinz oder einen Teil davon oder gelegentlich mehrere Provinzen umfasst.

11. Diesen Arbeitnehmern steht ein Firmenfahrzeug zur Verfügung, mit dem sie täglich von ihrem Wohnort zu den Standorten fahren, an denen sie die Installation oder Wartung der Sicherheitsvorrichtungen auszuführen haben. Dieses Fahrzeug benutzen sie auch, um am Ende des Tages zu ihrem Wohnort zurückzukehren.

12. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts kann die Entfernung zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und ihren Einsatzorten beträchtlich variieren und manchmal über 100 Kilometer betragen. Das vorlegende Gericht nennt als Beispiel einen Fall, in dem die Fahrzeit Wohnort-Kunden aufgrund des Verkehrsaufkommens drei Stunden betragen habe.

13. Die Arbeitnehmer müssen sich außerdem ein- oder mehrmals pro Woche in die Büros einer Transportlogistikagentur in der Nähe ihres Wohnorts begeben, um Materialien, Apparate und Ersatzteile abzuholen, die sie für ihre Einsätze benötigen.

14. Zur Durchführung ihrer Aufgaben verfügen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmer jeweils über ein Mobiltelefon, mit dem sie aus der Ferne mit dem Zentralbüro in Madrid kommunizieren können. Durch eine auf ihrem Telefon installierte Anwendung können sie am Vortag ihres Arbeitstags einen Fahrplan mit den verschiedenen Standorten, die sie an dem Tag in ihrem Gebiet aufsuchen müssen, und die Uhrzeiten der Termine mit den Kunden abrufen. Mit einer weiteren Anwendung erfassen die Arbeitnehmer die Daten über die durchgeführten Einsätze und übermitteln sie an Tyco zur Speicherung der aufgetretenen Vorfälle und der ausgeführten Tätigkeiten.

15. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Tyco die Fahrzeit Wohnort-Kunden nicht als Arbeitszeit anrechne, sondern als Ruhezeit betrachte.

16. Tyco berechne die tägliche Arbeitszeit, indem sie auf die Zeit zwischen der Ankunft des Arbeitnehmers am Standort des ersten Kunden des Tages und seiner Abreise vom Standort des letzten Kunden abstelle, wobei ausschließlich die Einsatzzeiten an den Standorten und die Fahrzeiten von einem Kunden zum anderen berücksichtigt würden. Vor der Schließung der Regionalbüros habe Tyco die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten hingegen ab der Ankunft in diesen Büros, um das ihnen zur Verfügung gestellte Fahrzeug, die Kundenliste und den Fahrplan entgegenzunehmen, bis zur Rückkehr am Abend, um das Fahrzeug abzugeben, berechnet.

17. Die Richtlinie 2003/88 stelle die Begriffe der Arbeitszeit und der Ruhezeit einander gegenüber und lasse daher keine dazwischen liegenden Situationen zu. Die Fahrzeit Wohnort-Kunden werde in Art. 34 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts in der Fassung des Königlichen Gesetzesdekrets 1/1995 nicht der Arbeitszeit gleichgestellt. Der spanische Gesetzgeber habe diese Lösung gewählt, weil der Arbeitnehmer bei der Auswahl seines Wohnorts frei sei. Allein der Arbeitnehmer entscheide daher entsprechend seinen Möglichkeiten über die geringere oder größere Entfernung zwischen seinem Arbeitsort und seinem Wohnort.

18. Dies sei bei mobilen Arbeitnehmern im landgebundenen Verkehr zu relativieren. Denn bei dieser Kategorie von Arbeitnehmern scheine der nationale Gesetzgeber davon ausgegangen zu sein, dass sich ihr Arbeitsplatz im Fahrzeug befinde, so dass die gesamte Fahrzeit als Arbeitszeit betrachtet werde. Fraglich sei, ob die Situation der in Rede stehenden Arbeitnehmer mit derjenigen der mobilen Arbeitnehmer im landgebundenen Verkehr gleichgesetzt werden könne.

19. Dass den in Rede stehenden Arbeitnehmern die von ihnen abzufahrende Route und die den Kunden zu erbringenden einzelnen Dienstleistungen einige Stunden vor dem jeweiligen Termin über ihr Mobiltelefon mitgeteilt würden, habe zur Folge, dass diese Arbeitnehmer nicht mehr die Wahl hätten, ihr Privatleben und ihren Wohnort auf die Nähe zu ihrem Arbeitsort auszurichten, da dieser sich täglich ändere. Folglich könne die Fahrzeit Wohnort-Kunden, insbesondere unter Berücksichtigung des mit der Richtlinie 2003/88 verfolgten Ziels des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer, nicht als Ruhezeit angesehen werden. Es handele sich aber auch nicht um eine Zeit, in der die Arbeitnehmer streng genommen ihrem Arbeitgeber in dem Sinne zur Verfügung stünden, dass dieser ihnen neben der eigentlichen Fahrt eine weitere Aufgabe zuweisen könne. Daher sei nicht hinreichend klar, ob die Fahrzeit Wohnort-Kunden nach der Richtlinie Arbeitszeit oder Ruhezeit darstelle.

20. Unter diesen Voraussetzungen hat die Audiencia Nacional beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass die Zeit, die ein Arbeitnehmer, der keinem festen Arbeitsort zugewiesen ist, sondern unter den Bedingungen des Ausgangsverfahrens (nach einer am Vortag vom Unternehmen festgelegten Route oder Liste) jeden Tag von seinem Wohnort zum Standort eines täglich anderen Kunden des Unternehmens fahren und vom Standort eines wiederum anderen Kunden zu seinem Wohnort zurückkehren muss, wobei die Kunden immer in einem mehr oder weniger großen Gebiet angesiedelt sind, für die Fahrt zu Beginn und am Ende des Arbeitstags aufwendet, als „Arbeitszeit“ im Sinne der Definition dieses Begriffs in Art. 2 der Richtlinie oder vielmehr als „Ruhezeit“ zu betrachten ist?

Zur Vorlagefrage

21. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, unter denen die Arbeitnehmer keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, die Fahrzeit Wohnort-Kunden dieser Arbeitnehmer „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

22. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass auf die Art. 1 bis 8 der Richtlinie 2003/88, die im Wesentlichen mit den Art. 1 bis 8 der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18) in der Fassung der Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 2000 (ABl. L 195, S. 41) übereinstimmen, die Auslegung dieser letztgenannten Artikel durch den Gerichtshof in vollem Umfang übertragbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 32, und Beschluss Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 39).

23. Weiter is t zunächst festzustellen, dass durch die Richtlinie 2003/88 Mindestvorschriften festgelegt werden sollen, die dazu bestimmt sind, die Lebens‑ und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern. Diese Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung auf der Ebene der Europäischen Union soll einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer durch Gewährung von – u. a. täglichen und wöchentlichen – Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen sowie die Festlegung einer durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden, bezüglich deren ausdrücklich klargestellt ist, dass sie auch die Überstunden einschließt, gewährleisten (vgl. Urteile BECTU, C‑173/99, EU:C:2001:356, Rn. 37 und 38, Jaeger, C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 46, sowie Beschluss Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 40).

24. Die verschiedenen Bestimmungen, die diese Richtlinie in Bezug auf die Höchstdauer der Arbeit und die Mindestruhezeit enthält, sind besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union, die jedem Arbeitnehmer als ein zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit bestimmter Mindestanspruch zugutekommen müssen (Urteil Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 41).

25. Sodann hat der Gerichtshof zum Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 wiederholt entschieden, dass die Richtlinie diesen Begriff als jede Zeitspanne definiert, während deren ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt, und dass dieser Begriff im Gegensatz zur Ruhezeit zu sehen ist, da beide Begriffe einander ausschließen (Urteile Jaeger, C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 48, Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 42, sowie Beschlüsse Vorel, C‑437/05, EU:C:2007:23, Rn. 24, und Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 42).

26. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die genannte Richtlinie keine Zwischenkategorie zwischen den Arbeitszeiten und den Ruhezeiten vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 43, sowie Beschlüsse Vorel, C‑437/05, EU:C:2007:23, Rn. 25, und Grigore, C ‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 43).

27. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich insoweit, dass die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 unionsrechtliche Begriffe darstellen, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie zu bestimmen sind, der darin besteht, Mindestvorschriften zur Verbesserung der Lebens‑ und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer aufzustellen. Denn nur eine solche autonome Auslegung kann die volle Wirksamkeit dieser Richtlinie und eine einheitliche Anwendung der genannten Begriffe in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherstellen (vgl. Urteil Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 44 und 45, sowie Beschlüsse Vorel, C‑437/05, EU:C:2007:23, Rn. 26, und Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 44).

28. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 der Richtlinie nicht zu den Vorschriften dieser Richtlinie gehört, von denen abgewichen werden darf (vgl. Beschluss Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 45).

29. Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist daher zu prüfen, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Bestandteile des Begriffs „Arbeitszeit“ während der Fahrzeit Wohnort-Kunden vorliegen oder nicht und ob diese Zeit damit als Arbeitszeit oder als Ruhezeit anzusehen ist.

30. Zum ersten Bestandteil des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88, wonach der Arbeitnehmer seine Tätigkeit auszuüben oder seine Aufgaben wahrzunehmen hat, ist festzustellen, dass nicht bestritten worden ist, dass Tyco vor ihrer Entscheidung, die Regionalbüros zu schließen, die Fahrzeit ihrer Arbeitnehmer zwischen diesen Büros und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages als Arbeitszeit betrachtete, die Fahrzeit zwischen dem Wohnort und den Regionalbüros zu Beginn und am Ende des Tages dagegen nicht. Außerdem steht fest, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmer vor dieser Entscheidung täglich zu den Regionalbüros begaben, um die ihnen von Tyco bereitgestellten Fahrzeuge abzuholen und ihren Arbeitstag zu beginnen. Diese Arbeitnehmer beendeten ihren Arbeitstag auch in diesen Büros.

31. Nach Ansicht von Tyco kann die Fahrzeit Wohnort-Kunden der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmer nicht als Arbeitszeit im Sinne der genannten Bestimmung betrachtet werden, weil die Tätigkeit und die Aufgaben dieser Arbeitnehmer, obwohl sie eine Fahrt durchzuführen hätten, um sich zu den von ihr bestimmten Kunden zu begeben, darin bestünden, bei diesen Kunden Sicherheitssysteme zu installieren und zu warten. Während der Fahrzeit Wohnort-Kunden übten die Arbeitnehmer daher weder ihre Tätigkeit aus, noch nähmen sie ihre Aufgaben wahr.

32. Dem kann nicht gefolgt werden. Wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Fahrten von Arbeitnehmern, die eine Beschäftigung wie die des Ausgangsverfahrens ausüben, zu den von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden das notwendige Mittel, damit diese Arbeitnehmer bei den Kunden technische Leistungen erbringen können. Diese Fahrten nicht zu berücksichtigen, liefe darauf hinaus, dass ein Arbeitgeber wie Tyco geltend machen könnte, dass nur die für die Tätigkeit der Installation und Wartung der Sicherheitssysteme aufgewandte Zeit unter den Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 falle, was zur Folge hätte, dass dieser Begriff verfälscht und das Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigt würde.

33. Dass Tyco vor der Schließung der Regionalbüros die Fahrten der betreffenden Arbeitnehmer zu Beginn und am Ende des Tages zu oder von den Kunden als Arbeitszeit betrachtete, zeigt im Übrigen, dass die Aufgabe, ein Fahrzeug von einem Regionalbüro zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zu diesem Büro zu führen, zuvor zu den Aufgaben und zur Tätigkeit dieser Arbeitnehmer gehörte. Am Wesen dieser Fahrten hat sich aber seit der Schließung der Regionalbüros nichts geändert. Nur der Ausgangspunkt der Fahrten wurde geändert.

34. Daher ist bei Arbeitnehmern, die sich in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens befinden, anzunehmen, dass sie während der Fahrzeit Wohnort-Kunden ihre Tätigkeiten ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen.

35. Zum zweiten Bestandteil des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88, wonach der Arbeitnehmer während dieser Zeit dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen muss, ist festzustellen, dass der Umstand entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten und sich zu dessen Verfügung zu halten, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteile Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 48, sowie Beschlüsse Vorel, C‑437/05, EU:C:2007:23, Rn. 28, und Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 63).

36. Ein Arbeitnehmer steht also nur dann seinem Arbeitgeber zur Verfügung, wenn er sich in einer Lage befindet, in der er rechtlich verpflichtet ist, den Anweisungen seines Arbeitgebers Folge zu leisten und seine Tätigkeit für ihn auszuüben.

37. Dagegen spricht es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dafür, dass der betrachtete Zeitraum keine Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie 2003/88 ist, wenn die Arbeitnehmer ohne größere Zwänge über ihre Zeit verfügen und ihren eigenen Interessen nachgehen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Simap, C‑303/98, EU:C:2000:528, Rn. 50).

38. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erläuterungen von Tyco in der mündlichen Verhandlung, dass sie die von den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmern einzuhaltende Liste und Reihenfolge der Kunden sowie die Uhrzeit der Kundentermine festlegt. Tyco hat auch vorgetragen, dass die betreffenden Arbeitnehmer, obwohl jedem von ihnen ein Mobiltelefon gestellt worden sei, auf dem ihnen am Vortag des Arbeitstags ihre Route mitgeteilt werde, nicht verpflichtet seien, dieses Telefon während der Fahrzeit Wohnort-Kunden angeschaltet zu lassen. Folglich werde die Route zu diesen Terminen nicht von Tyco festgelegt, da es den Arbeitnehmern freistehe, sich über die von ihnen gewünschte Route dorthin zu begeben, so dass sie ihre Fahrzeit so organisieren könnten, wie sie wollten.

39. Insoweit ist festzustellen, dass die Arbeitnehmer, die sich in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens befinden, während der Fahrzeit Wohnort-Kunden über eine gewisse Freiheit verfügen, über die sie während eines Einsatzes bei einem Kunden nicht verfügen, sofern sie bei dem bezeichneten Kunden zu der von ihrem Arbeitgeber vereinbarten Uhrzeit ankommen. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch hervor, dass diese Freiheit bereits vor der Schließung der Regionalbüros bestand, als die Fahrzeit ab dem Zeitpunkt der Ankunft in diesen Büros als Arbeitszeit gezählt wurde, und sich allein der Ausgangspunkt der Fahrt zu diesem Kunden geändert hat. Diese Änderung berührt jedoch nicht die Rechtsnatur der Pflicht dieser Arbeitnehmer, den Anweisungen ihres Arbeitgebers Folge zu leisten. Während dieser Fahrten unterstehen die Arbeitnehmer den Anweisungen ihres Arbeitgebers, der die Kundenreihenfolge ändern oder einen Termin streichen oder hinzufügen kann. Jedenfalls haben die Arbeitnehmer während der erforderlichen Fahrzeit, die sich zumeist nicht verkürzen lässt, nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen, so dass sie demnach ihren Arbeitgebern zur Verfügung stehen.

40. Tyco, die spanische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs haben die Befürchtung geäußert, dass solche Arbeitnehmer zu Beginn und am Ende des Tages ihren persönlichen Beschäftigungen nachgehen könnten. Eine solche Befürchtung kann jedoch keine Auswirkung auf die rechtliche Einstufung der Fahrzeit haben. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist es Sache des Arbeitgebers, die zur Verhinderung etwaiger Missbräuche erforderlichen Kontrollinstrumente einzurichten.

41. Zum einen war es nämlich bereits vor der Schließung der Regionalbüros möglich, zu Beginn und am Ende des Arbeitstags während der Fahrten zwischen den Standorten der Kunden und diesen Büros solchen Beschäftigungen nachzugehen. Zum anderen dürfen die Ziele der Richtlinie 2003/88, wie aus ihrem vierten Erwägungsgrund hervorgeht, keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden. Im Übrigen hat Tyco in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgetragen, dass die Verwendung der Kreditkarten, die sie ihren Angestellten aushändige, auf die Bezahlung des für einen beruflichen Einsatz bestimmten Kraftstoffs für die Fahrzeuge beschränkt sei, die ihren Arbeitnehmern zur Verfügung gestellt würden. Tyco würde damit über ein Mittel neben anderen verfügen, um ihre Fahrten zu kontrollieren.

42. Solche Kontrollen können für ein Unternehmen in einer Situation wie der von Tyco zwar eine zusätzliche Belastung schaffen, doch ist diese Belastung eine zwangsläufige Folge ihrer Entscheidung, die Regionalbüros zu schließen. Dagegen liefe es dem von der genannten Richtlinie gesetzten Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwider, wenn diese Entscheidung dazu führen würde, dass diese Belastung in vollem Umfang den Angestellten von Tyco auferlegt würde.

43. Zum dritten Bestandteil des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88, wonach der Arbeitnehmer während der betrachteten Zeitspanne arbeiten muss, ist festzustellen, dass – wie aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils hervorgeht – bei einem Arbeitnehmer, der keinen festen Arbeitsort mehr hat und der seine Aufgaben während der Fahrt zu oder von einem Kunden wahrnimmt, auch davon auszugehen ist, dass er während dieser Fahrt arbeitet. Denn die Fahrten gehören, wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, untrennbar zum Wesen eines Arbeitnehmers, der keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort hat, so dass der Arbeitsort solcher Arbeitnehmer nicht auf die Orte beschränkt werden kann, an denen sie bei den Kunden ihres Arbeitgebers physisch tätig werden.

44. An dieser Feststellung kann auch der Umstand nichts ändern, dass Arbeitnehmer in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens diese Fahrten an ihrem Wohnort beginnen und beenden, da dies eine unmittelbare Folge der Entscheidung ihres Arbeitgebers ist, die Regionalbüros zu schließen, und nicht Ausdruck ihres eigenen Willens. Da diesen Arbeitnehmern die Möglichkeit genommen wurde, die Entfernung zwischen ihrem Wohnort und dem gewöhnlichen Ort des Beginns und des Endes ihres Arbeitstags frei zu bestimmen, kann ihnen nicht auferlegt werden, die Folgen der Entscheidung ihres Arbeitgebers, diese Büros zu schließen, zu tragen.

45. Ein solches Ergebnis liefe auch dem mit der Richtlinie 2003/88 verfolgten Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwider, das die Notwendigkeit einschließt, den Arbeitnehmern eine Mindestruhezeit zu gewährleisten. Es stünde nämlich im Widerspruch zu dieser Richtlinie, wenn die Ruhezeit von Arbeitnehmern, die keinen gewöhnlichen oder festen Arbeitsort haben, aufgrund des Ausschlusses der Fahrzeit Wohnort-Kunden vom Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie verkürzt würde.

46. Nach alledem ist bei Arbeitnehmern, die unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein Firmenfahrzeug benutzen, um sich von ihrem Wohnort zu einem von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden zu begeben bzw. vom Standort eines solchen Kunden zu ihrem Wohnort zurückzukehren und um sich während ihres Arbeitstags vom Standort eines Kunden zu einem anderen zu begeben, davon auszugehen, dass sie während dieser Fahrten im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie „arbeiten“.

47. Diese Schlussfolgerung kann nicht mit dem Argument der Regierung des Vereinigten Königreichs in Frage gestellt werden, dass sie zu einer insbesondere für Tyco unvermeidbaren Erhöhung der Kosten führen würde. Insoweit ist lediglich festzustellen, dass Tyco, auch wenn die Fahrzeit unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens als Arbeitszeit anzusehen ist, die Vergütung für die Fahrzeit Wohnort-Kunden frei bestimmen kann.

48. Es genügt der Hinweis, dass sich die Richtlinie 2003/88 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs mit Ausnahme des in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie geregelten besonderen Falles des bezahlten Jahresurlaubs darauf beschränkt, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, so dass sie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet (vgl. Urteil Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 38, sowie Beschlüsse Vorel, C‑437/05, EU:C:2007:23, Rn. 32, und Grigore, C‑258/10, EU:C:2011:122, Rn. 81 und 83).

49. Folglich fällt die Art und Weise der Vergütung der Arbeitnehmer in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht unter die genannte Richtlinie, sondern unter die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts.

50. Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, unter denen die Arbeitnehmer keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, die Fahrzeit, die diese Arbeitnehmer für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden aufwenden, „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Kosten

51. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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