03.09.2015 · IWW-Abrufnummer 145270
Hessisches Finanzgericht: Beschluss vom 21.05.2015 – 2 K 155/13
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
2 K 155/13
Gerichtsbescheid
Tenor
Der Bescheid der Familienkasse Hessen vom ...2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom …2013 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe der erstattungsfähigen Kosten leistet.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Ausbildung des Kindes A der Klägerin zum Rettungshelfer im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres – FSJ – eine Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der Fassung des Steuervereinfachungsgesetzes vom 1. November 2011 darstellt.
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Ausweislich einer Beschäftigungsvereinbarung zwischen dem X des Landesverbandes ... als Träger, dem X des ... als Einsatzstelle und dem Kind der Klägerin als Teilnehmer vom ...2011 verpflichtete sich Letzteres in der Zeit vom ...2011 bis …2012 im Rahmen eines FSJ im Rettungs- und Sanitätsdienst tätig zu sein. Im Zuge dieser Tätigkeit wurde das Kind zum Rettungshelfer ausgebildet.
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Im Rahmen einer Erklärung zu einer abgeschlossenen Erstausbildung und Erwerbstätigkeit eines über 18 Jahre alten Kindes gab die Klägerin an, dass das Kind seit dem ... 2012 bis zum Studienbeginn als Rettungshelfer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden tätig sei.
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Mit Bescheid der Familienkasse ... vom ... 2012 wurde die Kindergeldfestsetzung für das am ... 1991 geborene Kind A ab ... 2012 aufgehoben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Kind eine erste Berufsausbildung bzw. ein Erststudium abgeschlossen habe und sich auf Ausbildungssuche befinde. Da das Kind wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehe, könne es nicht mehr berücksichtigt werden.
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Hiergegen legte die Klägerin am ... 2012 zur Niederschrift Einspruch ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Ausbildung des Kindes im Zuge des FSJ keine abgeschlossene Erstausbildung darstelle. Auch sei nicht die Ausbildung zum Rettungshelfer, sondern erst die zum Rettungsassistenten eine anerkannte Berufsausbildung.
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Mit Einspruchsentscheidung der Familienkasse ... vom ... 2013 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Kind eine erstmalige Berufsausbildung als Rettungshelfer abgeschlossen habe. Gemäß DA 63.4.2.1.1 (1) liege eine Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG vor, wenn das Kind durch eine berufliche Ausbildungsmaßnahme die notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse erwerbe, die zur Aufnahme eines Berufs befähigen. Voraussetzung sei, dass der Beruf durch eine Ausbildung in einem öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang erlernt werde und der Ausbildungsgang durch eine Prüfung abgeschlossen werde. Das in Rede stehende Kind habe während des FSJ beim X eine Ausbildung zum Rettungshelfer erhalten und sei nach dieser Ausbildung im Rettungs- und Sanitätsdienst tätig gewesen. Nach dem Abschluss des FSJ sei das Kind auf der Suche nach einem Studienplatz gewesen. Bis zum Beginn des Studiums sei das Kind weiterhin als Rettungshelfer tätig gewesen, bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Unabhängig von der Ausbildungsdauer und eines möglichen Aufbaus dieser Ausbildung zum Rettungssanitäter oder Rettungsassistentin, sei der Beruf des Rettungshelfers ein eigenständiges Berufsfeld. Dies ergebe sich bereits daraus, dass das in Rede stehende Kind nach Beendigung des FSJ in diesem Beruf Vollzeit erwerbstätig sei und hierdurch seinen Lebensunterhalt bestreiten könne.
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Hiergegen erhob die Klägerin mit am ... 2013 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz ihres Bevollmächtigten Klage. Zur Begründung wird lediglich ausgeführt, dass die Ausbildung des Kindes der Klägerin zum Rettungssanitäter keine Ausbildung darstelle.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Familienkasse Hessen vom ... 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... .2013 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Ausbildung im Rettungsdienst grundsätzlich dreigliedrig aufgebaut sei und sämtliche Ausbildungsstufen, nämlich die des Rettungshelfers (erste Stufe), des Rettungssanitäters (zweiter Stufe) und schließlich die des Rettungsassistentin (dritte Stufe) eigenständige Berufsausbildungen darstellen würden.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist begründet.
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Der Aufhebungsbescheid der Familienkasse Hessen vom ...2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ...2013 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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Für den Streitzeitraum hat die Klägerin einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld für ihren Sohn A, weil er sich unstreitig um einen Studienplatz bemüht hat und daher eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatz nicht beginnen oder fortsetzen konnte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 c EStG).
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Dem Kindergeldanspruch steht auch nicht § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen. Der Sohn hatte nach der Auffassung des Gerichts bisher keine erstmalige Berufsausbildung absolviert, so dass die Erwerbstätigkeit mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Wochenstunden dem Kindergeldanspruch nicht entgegensteht.
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Gemäß Art. 1 Nr. 17 des Steuervereinfachungsgesetzes vom 1. November 2011 (BGBl I, 2131) hat der Gesetzgeber § 32 Abs. 4 S. 2 und 3 EStG ab dem 1. Januar 2012 neu gefasst und festgelegt, dass ein Kind nach einer erstmaligen Berufsausbildung oder einem Erststudium in den Fällen des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 EStG nur berücksichtigt wird, wenn das Kind keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Nach § 32 Abs. 4 S. 3 EStG sind eine Erwerbstätigkeit mit bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit, ein Ausbildungsdienstverhältnis oder ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis im Sinne der §§ 8 und 8a SGB IV unschädlich. Gemäß Art. 18 Abs. 1 des Steuervereinfachungsgesetzes vom 1. November 2011 ist Art. 1 Nr. 17, d. h. § 32 Abs. 4 S. 2 und 3 EStG, zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten. Unter einer Erwerbstätigkeit im Sinne des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG ist eine auf die Erzielung von Einkünften gerichtete Beschäftigung zu verstehen, die den Einsatz der persönlichen Arbeitskraft erfordert (BFH-Urteil vom 16. Mai 1975, VI R 143/73, BStBl II 1975, 537). Den Wechsel von der Einkünfte- und Bezügegrenze des Kindes in Höhe von 8.004,- € gemäß § 32 Abs. 4 S. 2 EStG in der bis zum 31. Dezember 2011 gültigen Fassung zu der ab dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung hat der Gesetzgeber damit begründet, dass sich die Berechnung der Einkünfte und Bezüge des Kindes zum einen in vielen Fällen als aufwändig und kompliziert gestalte. Zum anderen werde die Einkünfte- und Bezügegrenze nur von einer relativ kleinen Gruppe der nach § 32 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG berücksichtigungsfähigen Kinder überschritten. Der Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze für volljährige Kinder beim Familienleistungsausgleich sei mit einer erheblichen Vereinfachung der Anspruchsvoraussetzungen verbunden. Der Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze mache es erforderlich, die Berücksichtigung von Kindern mit einer nebenbei ausgeübten Erwerbstätigkeit neu zu fassen. Zukünftig solle eine Erwerbstätigkeit nur noch bis zum Abschluss der ersten Berufsausbildung oder eines Erststudiums (vgl. § 12 Abs. 5 EStG) eines Kindes außer Betracht bleiben. Nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung oder eines Erststudiums bestehe die widerlegbare Vermutung, dass das Kind in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten, und damit nicht mehr zu berücksichtigen sei.
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Die Vermutung gelte durch den Nachweis als widerlegt, dass sich das Kind in einer weiteren Berufsausbildung befinde und tatsächlich keiner (schädlichen) Erwerbstätigkeit nachgehe, die Zeit und Arbeitskraft des Kindes überwiegend in Anspruch nehme. Der Umfang der schädlichen Tätigkeit werde - ausgehend von einer wöchentlichen Regelarbeitszeit von 40 Stunden - im Wege der Typisierung aus Gründen der Rechtsklarheit gesetzlich festgelegt. Danach sei eine Erwerbstätigkeit unschädlich, wenn die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nicht mehr als 20 Stunden betrage. Ein Ausbildungsdienstverhältnis oder ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis seien ebenfalls unschädlich. Für den Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wolle der Gesetzgeber von einem anderen engeren Ausbildungsbegriff ausgehen, als in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG. Es solle sichergestellt werden, dass nicht bereits jede allgemein berufsqualifizierende Maßnahme, wie z.B. ein Computerkurs zum Verbrauch der Erstausbildung führt. Eine Berufsausbildung liege demnach vor, wenn der Steuerpflichtige durch eine berufliche Ausbildungsmaßnahme die notwendigen fachlichen Fertigkeiten erwerbe, die zur Aufnahme eines Berufs befähigen. Voraussetzung sei, dass der Beruf durch eine Ausbildung im Rahmen eines öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgangs erlernt und der Ausbildungsgang durch eine Prüfung abgeschlossen werde (vgl. BT-Drucks 17/512, S.41). Der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten in einem Anlernverhältnis, Praktikum oder in Kursen ohne formale Abschluss reiche für die Berufsausbildung nicht aus, wenn sie von einem anderen Arbeitgeber nicht als Berufsausbildungsnachweis anerkannt werde oder nicht anerkannt werden müssen (vgl. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Loseblatt, I. A § 32 121.3).
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Unter Berücksichtigung der dargelegten Zielsetzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG und der dadurch einhergehenden engeren Auslegung des Ausbildungsbegriffs geht das Gericht im Streitfall nicht davon aus, dass das Kind der Klägerin durch seine Qualifizierung zum Rettungshelfer im Rahmen des FSJ eine Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG erfahren hat.
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Dies insbesondere deshalb, weil es sich bei der Ausbildung zum Rettungshelfer um eine zeitlich sehr kurze Qualifizierungsmaßnahme (durchschnittlich 6 – 8 Wochen) handelt, nicht bundesweit im Rahmen landesrechtlicher geordneter Prüfungs- und Ausbildungsverordnungen erlernt und der Ausbildungsgang auch nicht bundesweit durch eine Prüfung abgeschlossen wird.
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Im Gegensatz zu den Tätigkeiten eines Rettungssanitäters bzw. Rettungsassistenten, die jeweils erstmalige Berufsausbildungen darstellen, weil sie regelmäßig als Vollerwerbstätigkeit ausgeübt werden und mehrmonatige bzw. mehrjährige landesrechtlich geregelte Ausbildungen voraussetzen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 27.10.2011, VI R 52/10, BStBl. II 2012 zum Rettungssanitäter), ist die Ausbildung zum Rettungshelfer nicht bundesweit einheitlich und durchgehend durch landesrechtliche Ausbildungs- und Prüfungsordnungen geregelt. Die Ausbildung zum Rettungshelfer dauert in den meisten Bundesländern 320 Stunden und umfasst eine theoretische Ausbildung (160 Stunden), ein 80-stündiges Krankenhauspraktikum und ein 80-stündiges Praktikum in einer Rettungswache. Abweichend davon gibt es hinsichtlich der Ausbildungsdauer anders lautende Regelungen in verschiedenen Bundesländern. In Hessen beispielsweise umfasst die Ausbildung ausweislich einer eingeholten Auskunft des für die Aus- und Fortbildung im Rettungswesen in Hessen zuständigen Regierungspräsidiums Darmstadt unter Hinweis auf Ziffer 3.4.1.2. des Rettungsdienstplans des Landes Hessen insgesamt 240 Stunden (160 Stunden theoretische Ausbildung und 80 Stunden Klinikpraktikum). Darüber hinaus ist die Ausbildung zum Rettungshelfer in Hessen, im Gegensatz zur Ausbildung zum Rettungssanitäter bzw. Rettungsassistenten, nicht durch eine landesrechtliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung geregelt (vgl. hierzu § 18 HRDG, wonach lediglich die Ausbildungen zum Rettungssanitäter und zum Rettungsassistenten durch Rechtsverordnungen geregelt werden). Landesrechtliche Regelungen zur Ausbildung zum Rettungshelfer in Hessen finden sich nur unter 3.4.1.2. des Rettungsdienstplans des Landes Hessens, wonach zum Führen von Rettungsmitteln nur Personen als Rettungshelfer eingesetzt werden dürfen, die eine vierwöchige theoretische Ausbildung und eine zweiwöchige klinisch-praktische Ausbildung entsprechend § 1 der VO über die Ausbildung und Prüfung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter abgeschlossen haben. Eine eigenständige Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Ausbildung eines Rettungshelfers sieht das Hessische Landesrecht hingegen nicht vor.
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Gegen die Qualifizierung der Ausbildung zum Rettungshelfer als Berufsausbildung spricht neben den fehlenden bundesweiten Prüfungs- und Ausbildungsordnungen der Umstand, dass die Ausbildung zum Rettungshelfer, sofern keine landesrechtlichen Sonderregelungen bestehen, in der Regel ohne eine Abschlussprüfung absolviert wird (beispielsweise in Hessen).
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Die dargelegte Rechtsansicht wird weiterhin durch den Umstand gestützt, dass der Rettungshelfer früher in vielen Bundesländern aufgrund der kurzen Ausbildungszeit die typische Qualifizierung für Zivildienstleistende war, bzw. aktuell für FSJler oder Bundesfreiwilligendienstleistende im Rettungsdienst und Krankentransport ist. Hieraus folgt, dass die Ausbildung in der Regel lediglich Kenntnisse und Fähigkeiten an einen bestimmten Personenkreis vermittelt, die zudem vom Umfang her eher denen eines Anlernverhältnisses entsprechen. Dies verdeutlicht auch die Tatsache, dass die Rettungshelfer im Allgemeinen lediglich als Fahrer des Rettungswagens eingesetzt werden und deren Qualifizierung hauptsächlich dazu dient, dem höher qualifizierten Rettungspersonal zu assistieren. Eigenständige Berufsausbildungen im Rahmen des Rettungsdienstes stellen nach der Auffassung des Gerichts erst die qualifizierteren Ausbildungen zum Rettungssanitäter oder Rettungsassistenten dar. Aus den dargelegten Gründen kommt es im Streitfall nicht darauf an, dass das Kind als Rettungshelfer Vollzeit erwerbstätig ist und durch diese Tätigkeit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
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Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 115 Abs. 2 FGO).
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Im Streitfall konnte der Senat nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil einerseits keinerlei weitere Sachverhaltsaufklärung notwendig erscheint und andererseits der Senat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (§ 90 a FGO).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war wegen der in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bestehenden Schwierigkeit der Streitsache erforderlich (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der der Beklagten auferlegten Kosten ergibt sich aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO i. V. m. §§ 708, Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.