25.08.2015 · IWW-Abrufnummer 179063
Landesarbeitsgericht Köln: Urteil vom 11.02.2015 – 11 Sa 703/14
Zu den Anforderungen an die Dringlichkeit des Verdachts
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 01.07.2014 - 18 Ca 2399/14 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses, die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung sowie widerklagend über eine Rückforderung wegen Gehaltsüberzahlung.
Der am 1971 geborene Kläger, verheiratet und vier Kindern zum Unterhalt verpflichtet, ist seit dem Juli 2001 für die Beklagte, einem Versicherungsunternehmen, als Sachbearbeiter K-Schaden in einem Großraumbüro tätig. Sein Monatsverdienst liegt bei durchschnittlich 4.500,-- € brutto. Wegen der Einzelheiten des Anstellungsvertrages vom 14.05.2001 wird auf Bl. 8 ff. d. A. verwiesen.
Die Arbeitszeit der Arbeitnehmer wird über das elektronische Zeiterfassungssystem ZINA erfasst. Hiernach ziehen die Arbeitnehmer nach Betreten oder Verlassen des Dienstgebäudes eine speziell für sie codierte Karte an dem Buchungsterminal vorbei.
Auf Initiative der Führungskraft des Klägers wurden die Anwesenheitszeiten des Klägers an seinem Arbeitsplatz in der Zeit vom 11.09.2013 bis 27.09.2013 beobachtet. Der Kläger war in der Zeit vom 01.10.2013 bis 11.10.2013 in Erholungsurlaub. Am 16.10.2013 wurde er mit Abweichungen zwischen den im ZINA hinterlegten Zeiten des Kommens und Gehens und einer von der Beklagten erstellten Liste über die angeblich beobachteten Abwesenheitszeiten konfrontiert.
Am 18.10.2013 hörte die Beklagte den Betriebsrat schriftlich und mündlich zur beabsichtigten außerordentlichen, vorsorglich ordentlichen Tat- und Verdachtskündigung des Arbeitsverhältnisses an. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 149 ff. d. A. verwiesen. Der Betriebsrat erklärte unter dem 21.10.2013 u.a., dass er die fristlose Kündigung für unangemessen erachte, eine Abmahnung oder ggfs. ein Ausschluss des Klägers aus der flexiblen Arbeitszeit sei eine ausreichende Reaktion auf die Arbeitszeitverstöße.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 22.10.2013 wegen Zeitbetrugs (Tat- und Verdachtskündigung) außerordentlich, hilfsweise ordentlich.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 01.07.2014 (Bl. 160 ff. d. A.) dem Kündigungsschutzantrag und dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats nicht hinreichend substantiiert vorgetragen, jedenfalls sei ihr Vorbingen als verspätet nach § 61 a ArbGG zurückzuweisen. Die Widerklage wegen angeblicher Überzahlung im Oktober sei ebenfalls unbegründet, denn die Beklagte habe nicht schlüssig dargelegt, aus welchem Grunde von einer Überzahlung auszugehen sei. Wegen der weiteren Einzelheiten des streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der Antragstellung der Parteien erster Instanz wird auf den Tatbestand, wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Gegen das ihr am 22.07.2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30.07.2014 Berufung eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 21.10.2014 begründet.
Die Beklagte rügt, dass das Arbeitsgericht auf die angeblich unzureichende Substantiierung nicht konkret hingewiesen habe. Unter Bezugnahme und Vertiefung des erstinstanzlichen Vortrags behauptet die Beklagte, der Betriebsratsvorsitzende sei am 18.10.2013 ergänzend mündlich über den Kündigungssachverhalt auf der Grundlage der tabellarischen Aufzeichnungen im Einzelnen informiert worden. Der Kläger habe wiederholt seinen Arbeitsplatz im Großraumbüro verlassen ohne ordnungsgemäß Pausenzeiten bzw. Gehenszeiten zu buchen, ferner habe er abends ohne plausiblen Grund mehrfach Kurz-Buchungen vorgenommen. Wegen der Einzelheiten der Zeitdifferenzen wird auf die Aufstellung der Beklagten (Bl. 234 f. d.A.) Bezug genommen. Es bestehe zumindest der Verdacht, dass sich der Kläger durch Täuschung Arbeitszeit erschlichen habe. Er habe sich in seiner Anhörung zum Teil auf Erinnerungslücken zurückgezogen und die von der Beklagten festgestellten Zeiten nicht bestritten. Das ZINA-System arbeite störungsfrei. Auch am 15.10.2013, seinem ersten Arbeitstag nach dem Erholungsurlaub, habe sich der Kläger schon um 8.00 Uhr in ZINA eingebucht, seinen Arbeitsplatz habe er aber erst um 9:20 Uhr aufgesucht. Es sei eine Selbstverständlichkeit, dass Pausen immer zu buchen seien, egal ob sie innerhalb oder außerhalb des Dienstgebäudes verbracht würden.
Die Beklagte beantragt,
Der Kläger beantragt,
Der Kläger verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Der Betriebsrat sei auch nicht ordnungsgemäß angehört worden. Ihm sei nicht offenbart worden, wer, wo wie den Kläger angeblich beobachtet habe. Dem Betriebsrat seien entlastende Umstände nicht mitgeteilt worden. Der Kläger habe bereits im Rahmen seiner Anhörung die Zeiten abgestritten und auf Fehler in den Beobachtungen hingewiesen. Er habe Kollegen benannt, mit denen er in den fraglichen Zeiten Gespräche und Rücksprachen geführt habe. Entgegen der Zusage sei eine Überprüfung seiner Angaben nicht erfolgt. Entlastungszeugen seien nicht angehört, die Aktennotiz vom 25.09.2013 nicht berücksichtigt worden. Er habe Zeiten, die er außerhalb des Dienstgebäudes verbracht habe, regelmäßig ein- und ausgebucht. Soweit er sich nicht an seinem Arbeitsplatz befunden habe, habe er mit Arbeitskollegen fachlich Rücksprache gehalten. Zudem sei es üblich, dass Pausenzeiten innerhalb des Dienstgebäudes, z.B. in der Teeküche, nicht gestempelt würden. Eine Abmeldepflicht bestehe nur bei längeren Abwesenheitszeiten. Die Kurzbuchungen im ZINA-System hätten ihre Ursache in technischen Problemen des Systems. Am 15.10.2013 sei er zwar erst gegen 9:00 Uhr an seinem Arbeitsplatz erschienen. Der Grund dafür liege aber in einem Notfallanruf seiner Familie, einem Toilettenbesuch wegen Magenbeschwerden und der Unterrichtung von Arbeitskollegen über die aktuellen Geschehnisse. Die Beklagte habe die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist versäumt, sie habe die Anhörung des Klägers bewusst hinaus gezögert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze der Parteien vom 21.10.2014, 23.12.2014, 02.02.2015 und 06.02.2015, die Sitzungsniederschrift vom 11.02.2015 und den übrigen Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, denn sie ist gemäߧ 64 Abs. 2 b), c) ArbGG statthaft und wurde innerhalb der Fristen des§ 66 Abs. 1 ArbGG ordnungsgemäß eingelegt und begründet.
II. Die Berufung blieb in der Sache ohne Erfolg. Die Ausführungen in der Berufungsbegründung rechtfertigen keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
1. Weder die am 22.10.2013 zugegangene außerordentliche noch die ordentliche Kündigung sind rechtswirksam, denn für die Kündigung fehlt es bereits an einer sozialen Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG; erst Recht liegt kein wichtiger Kündigungsgrund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB vor. Die Berufungskammer vermochte der Beurteilung der Beklagten, es lägen jedenfalls hinreichende Verdachtsmomente für den Ausspruch einer Verdachtskündigung vor, nicht folgen. Liegen bereits keine hinreichenden Verdachtsmomente vor, scheidet auch die Annahme einer rechtswirksamen Tatkündigung aus.
a) Mit der Beklagten ist zunächst davon auszugehen, dass der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB an sich in Betracht kommt. Es stellt in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar, wenn der Arbeitnehmer vorsätzlich ein elektronisches Zeiterfassungssystem falsch bedient (vgl. BAG, Urt. v. 26.09.2013 - 2 AZR 682/12 - m.w.N.).
Auch der Verdacht einer schwerwiegenden arbeitsvertraglichen Verfehlung kann zum Ausspruch einer Kündigung genügen, wobei der Verdacht sich auf konkrete Tatsachen gründen und dringend sein muss. Dabei sind an die Darlegung und Qualität der schwerwiegenden Verdachtsmomente besonders strenge Anforderungen zu stellen, weil bei einer Verdachtskündigung immer die Gefahr besteht, dass ein "Unschuldiger" betroffen ist (BAG, Urt. v. 29.11.2007 - 2 AZR 724/06 - m. w. N.). Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Verdacht zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (BAG, Urt. v. 24.05.2012 - 2 AZR 206/11 - m. w. N.). Auch als ordentliche Kündigung ist eine Verdachtskündigung sozial nur gerechtfertigt, wenn Tatsachen vorliegen, die zugleich eine außerordentliche, fristlose Kündigung gerechtfertigt hätten. Dies gilt auch für die Anforderungen an die Dringlichkeit des Verdachts als solchen. In dieser Hinsicht bestehen keine Unterschiede zwischen außerordentlicher und ordentlicher Kündigung. Für beide Kündigungsarten muss der Verdacht gleichermaßen erdrückend sein (BAG, Urt. v. 21.11.2013 - 2 AZR 797/11 - m. w. N.).
b) Die hiernach gebotene Verdachtsintensität konnte die Kammer nicht feststellen.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Kläger zu den von der Beklagten im Einzelnen ausgeführten Zeiten (Bl. 234 f. d. A.) nicht an seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro war, folgt daraus noch nicht der dringende, erdrückende Verdacht, er habe die Arbeitszeiten systematisch erschlichen. Die Beklagte hat nicht dargetan, was der Kläger in diesen Zeiten tatsächlich gemacht hat. Sie kann sich insoweit auf keine eigenen Beobachtungen stützen, auch nicht zum Verlassen des Dienstgebäudes. Es ist daher nicht mit der gebotenen Sicherheit auszuschließen, dass der Kläger in den Abwesenheitszeiten (auch) dienstliche Dinge verrichtet hat. Hat ein verständiger Arbeitgeber begründeten Anlass zur Annahme, ein Mitarbeiter bediene ein Zeiterfassungssystem nicht ordnungsgemäß, so liegt es nahe, dass er den Arbeitnehmer unverzüglich hierauf oder die Gründe der Abwesenheit anspricht. Wer hingegen etwa zwei Wochen lediglich die Abwesenheitszeiten minutengenau sammelt und den Mitarbeiter nach einer weiteren urlaubsbedingten Abwesenheit von fast zwei Wochen mit diesen Zeitdifferenzen konfrontiert, muss erwarten, dass dieser in einen Erklärungsnotstand gerät und eine sachgerechte Aufklärung nicht mehr möglich ist. Die von der Beklagten monierten Erinnerungslücken oder Unsicherheiten des Klägers in der Erklärung der Zeitdifferenzen sind daher auch nicht geeignet, den von der Beklagten gehegten Verdacht zu erhärten. Hinsichtlich der sechsmaligen abendlichen, auch aus Sicht der Beklagten "unverständlichen", Kurzbuchungen von wenigen Minuten ist darüber hinaus nicht auszuschließen, dass der Kläger aus seiner Sicht diese für die Beklagte erkennbaren Buchungen vorgenommen hat, weil er von einem Fehler am Buchungsterminal ausging.
c) Schließlich erweist sich die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit mangels vorheriger Abmahnung als unwirksam.
Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist. Dies gilt grundsätzlich auch bei Störungen im Vertrauensbereich (BAG, Urt. v. 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 - m.w.N.).
Angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Kündigung keine klare, unmissverständliche Anordnung der Beklagten gegenüber dem Kläger zur Handhabung des ZINA-Systems bei Pausen (Ort und Dauer der Arbeitsunterbrechung) bestand, automatisch 45 Minuten als Pausenzeit gebucht wurden und der Kläger für die Beklagte erkennbar, unregelmäßig Pausen gebucht hatte, war die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung gehalten, dem Kläger sein vermeintliches Fehlverhalten klar und unter Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen im Falle des wiederholten Verstoßes zwecks Verhaltensänderung vor Augen zu führen. Das mit dem Vorgesetzten am 04.12.2012 geführte Gespräch genügt ausweislich der Gesprächsnotiz (Bl. 341 d.A.) diesen Anforderungen nicht. Hierin ist lediglich festgehalten, dass dem Kläger wegen seiner Abwesenheitszeiten am Arbeitsplatz Kläger gesagt wurde, er solle seine Anwesenheit am Arbeitsplatz auch mit Rücksicht auf seine Kollegen gestalten. Konkrete Vorgaben zur Handhabung des Systems ZINA für den Fall des Verlassens des Arbeitsplatzes wurden nicht gemacht, eine Abmahnung nicht erteilt.
2. Aufgrund der festgestellten Unwirksamkeit der Kündigung liegt auch keine Gehaltsüberzahlung des Klägers für den Zeitraum ab dem 23.10.2013 vor, der eine Rückzahlung nach § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB rechtfertigen könnte. Die Beklagte schuldete dem Kläger das Gehalt aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. Mit Zugang der unberechtigten fristlosen Kündigung gerät der Arbeitgeber in Annahmeverzug, wenn er den Arbeitnehmer nicht auffordert, die Arbeit wieder aufzunehmen (vgl. z.B.: BAG, Urt. v. 09.08.1984 - 2 AZR 374/83 -; BAG, Urt. v. 06.11.1986 - 2 AZR 744/85 -).
III. Einer Zurückverweisung an das Arbeitsgericht steht bereits § 68 ArbGG entgegen, wonach wegen eines Mangels im Verfahren des Arbeitsgerichts eine Zurückverweisung unzulässig ist.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
V. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Entscheidung auf den Besonderheiten des Einzelfalles beruht und eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht Gegenstand der Entscheidung war.