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13.01.2015 · IWW-Abrufnummer 174129

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 03.12.2014 – 4 Sa 48/14


In der Rechtssache
- Kläger/Berufungskläger -
Proz.-Bev.:
gegen
- Beklagte/Berufungsbeklagte -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 4. Kammer -
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Stöbe, den ehrenamtlichen Richter Dick und den ehrenamtlichen Richter Lux
auf die mündliche Verhandlung vom 03.12.2014
fürRechterkannt:

Tenor:
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 08.05.2014 (1 Ca 118/14) abgeändert.


Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Befristung gem. § 10 des Zusatztarifvertrages Hofmann Menü Manufaktur GmbH zum 30.06.2014 beendet wurde.


2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.


3. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten darüber, ob das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund einer tariflichen Altersgrenzenregelung beendet wurde.



Der am XXX 1951 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit 01.03.2000 beschäftigt als Mitarbeiter im Packraum auf der Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 26.01.2000 (Bl. 67-67R der LAG-Akte). In diesem Arbeitsvertrag heißt es unter Ziffer 4:

"4. Besondere Vereinbarungen:.........Im Übrigen finden auf das Arbeitsverhältnis die für die Firma geltenden Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und Arbeitsordnung Anwendung, die in der Personalabteilung jederzeit eingesehen werden können..........."



Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt und könnte aufgrund der Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg vom 20.01.2014 (Bl. 20 der arbeitsgerichtlichen Akte) mit Rentenbeginn XXX.2014 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Abschläge beziehen. Die Altersrente würde monatlich 979,69 EUR betragen. Eine Regelaltersrente könnte er erst ab XXX 2016 (65 Jahre und 5 Monate) beziehen. Diese würde hochgerechnet 1.017,82 EUR betragen.



Die Beklagte schloss mit der Gewerkschaft NGG am 07.10.2005 einen "Zusatztarifvertrag" (nachfolgend: Zusatz-TV) genannten Haustarifvertrag. In diesem Zusatz-TV heißt es unter § 10:

"§ 10 Beendigung des ArbeitsverhältnissesFür die Arbeitnehmer/innen der Firma H. GmbH endet das Arbeitsverhältnis spätestens mit dem Ablauf des Monats, in dem er/sie die jeweilige Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht oder in dem er/sie Anspruch auf eine ungekürzte gesetzliche Altersrente hat, ohne dass es einer Kündigung bedarf..........."



Aufgrund von Neuverhandlungen schlossen die Beklagte und die NGG am 28.06.2013 erneut einen Zusatz-TV (Bl. 48-50R der LAG-Akte) mit wortgleicher Regelung in § 10.



Die Beklagte teilte dem Kläger mit, dass sie von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2014 ausgehe. Der Kläger forderte daraufhin die Beklagte mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 20.01.2014 (Bl. 23 der arbeitsgerichtlichen Akte) auf zu bestätigen, dass das Arbeitsverhältnis nicht zum 30.06.2014 ende, was die Beklagte mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 28.01.2014 zurückweisen ließ.



Mit seiner am 12.03.2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage machte der Kläger geltend, der Begriff "ungekürzte gesetzliche Altersrente" im Zusatz-TV sei so auszulegen, dass damit nur die ungekürzte gesetzliche Regelaltersrente gemeint sei und nicht schon eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Das Wort "ungekürzt" bedeute etwas anderes als "abschlagsfrei". Außerdem stelle die Tarifregelung eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung wegen Behinderung dar und würde zudem die Bestandsschutzregelungen des Kündigungsschutzgesetzes unzulässig aushebeln.



Der Kläger hat beantragt:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien zu unveränderten Arbeitsbedingungen über den 30.06.2014 hinaus fortbesteht.



Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.



Sie vertrat die Auffassung, für die vom Kläger bevorzugte Auslegung der Tarifregelung hätte es des zweiten Regelungsteils, wonach das Arbeitsverhältnis auch ende, wenn der Arbeitnehmer einen Anspruch auf ungekürzte Rente habe, nicht bedurft. Ein sachlicher Grund für die Andersbehandlung schwerbehinderter Menschen läge schlicht darin, dass schwerbehinderte Menschen eben schon früher abschlagsfrei in Rente gehen können. Auch eine unzulässige Benachteiligung wegen Alters läge nicht vor, da Altersgrenzenregelungen bei Bezug gesetzlicher Altersrenten gerechtfertigt seien und somit einen Sachgrund gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG darstellen können.



Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 08.05.2014 abgewiesen. Es führte zur Begründung aus, der Zusatz-TV verweise auf die Rechtsbegriffe des SGB VI. Auch die Altersrente für schwerbehinderte Menschen sei eine gesetzliche Altersrente. Mit ungekürzter gesetzlicher Rente sei somit eine Altersrente gemeint, die abschlagsfrei in Anspruch genommen werden könne. Die tarifliche Regelung stelle einen Sachgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 TzBfG dar. Die tarifliche Altersgrenzenregelung sei auch nicht unzulässig altersdiskriminierend, da mit dieser ein zulässiges sozialpolitisches Ziel der Eröffnung von Beschäftigungschancen für junge Menschen verfolgt werde und das Mittel zur Zielerreichung wegen des möglichen ungekürzten Altersrentenbezugs und der damit verbundenen wirtschaftlichen Absicherung angemessen und erforderlich sei.



Dieses Urteil wurde der Klägerseite am 30.05.2014 zugestellt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Berufung des Klägers, die am 26.06.2014 beim Landesarbeitsgericht einging und am 30.07.2014 begründet wurde.



Der Kläger rügt eine Verletzung materiellen Rechts.



Er meint, es gebe keine Hinweise, dass die Tarifvertragsparteien die Terminologie des SGB VI verwendet hätten. Vielmehr sei der Tarifvertrag autonom auszulegen. Es habe insbesondere für die Gewerkschaft NGG keine Veranlassung bestanden, Arbeitnehmerrechte zu verkürzen, den Arbeitnehmern finanzielle Einbußen zukommen zu lassen und sie vom durch die Berufsausübung vermittelten sozialen Ansehen abzuschneiden. Vielmehr sei die Tarifregelung so auszulegen, dass ein Ausscheiden erst eintrete, wenn eine Rentenleistung bezogen werden könne, die einer Rentenzahlung entspricht, die der Kläger mit Erreichen des Regelrentenalters hätte erreichen können.



Der Kläger beantragt:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 08.05.2014, 1 Ca 118/14, wird abgeändert.1.Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Befristung gemäß § 10 des Zusatztarifvertrags zum 30.06.2014 geendet hat.2.Hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit Antrag Ziffer 1: Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien zu unveränderten Arbeitsbedingungen über den 30. Juni 2014 hinaus fortbesteht.



Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.



Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.



Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gemäß § 64 Abs. 7 ArbGG iVm. § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schrift-sätze nebst Anlagen, sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.



Entscheidungsgründe



Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist begründet.



I.



Die Klage ist als Befristungskontrollklage zulässig.



1.



Auch Befristungen von Arbeitsverhältnissen, die durch tarifliche Regelungen begründet wurden, sind mit einem Befristungskontrollantrag und nicht mit einer allgemeinen Feststellungsklage anzugreifen (BAG 12. Juni 2013 - 7 AZR 917/11 - NZA 2013, 1428). Der Kläger hat deshalb seinen Klageantrag auf Hinweis der Kammer auch zutreffend umgestellt.



2.



Diese Umstellung des Klageantrags stellte keine nach § 533 ZPO zu prüfende Klageänderung dar, sondern lediglich eine Einschränkung des Klagebegehrens gemäß § 264 Nr. 2 ZPO (BAG 12. Mai 2005 - 2 AZR 426/04 - AP KSchG 1969 § 4 Nr. 53).



II.



Die Befristungskontrollklage ist auch begründet. Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis wurde nicht gemäß Ziffer 4 des Arbeitsvertrages in Verbindung mit § 10 Zusatz-TV zum 30.06.2014 beendet. Die Befristung des Arbeitsverhältnisses ist nicht durch einen Sachgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 TzBfG gedeckt.



1.



Die Befristung des Arbeitsverhältnisses gilt nicht deshalb schon als wirksam, weil diese nicht rechtzeitig innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrages mit einer Befristungskontrollklage angegriffen wurde gemäß § 17 TzBfG iVm. § 7 KSchG.



Der Kläger hat zwar ursprünglich nur einen allgemeinen Feststellungsantrag gestellt. Die Umstellung des Antrags auf einen Befristungskontrollantrag erfolgte erst in der Berufungsinstanz und weit nach Ablauf der dreiwöchigen Frist des § 17 Satz 1 TzBfG. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, die Klage sei zu spät erhoben worden. Der Arbeitnehmer muss im Befristungskontrollprozess nicht den Wortlaut des § 17 Satz 1 TzBfG wiederholen, wenngleich dies zweckmäßigerweise geschehen sollte. Entscheidend ist, dass sich aus dem gegebenenfalls auszulegenden Klageantrag ergibt, dass der Arbeitnehmer der Sache nach die von der Fiktionswirkung des § 7 KSchG erfassten Unwirksamkeitsgründe geltend machen wollte (BAG 12. Mai 2005 a.a.O.). Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat von Anfang an geltend gemacht, dass eine Beendigung aufgrund der Regelung des § 10 Zusatz-TV nicht eingetreten sei. Die Beklagte war also unter Wahrung der Frist des § 17 Satz 1 TzBfG gewarnt, dass der Kläger eine Beendigung seines Arbeitsverhältnisses auf dieser Grundlage nicht hinnehmen wollte.



2.



Die Befristung des Arbeitsverhältnisses ist nicht bereits wegen eines Verstoßes gegen das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG unwirksam.



a)



Die Befristungsabrede ergibt sich, da der Kläger nicht Mitglied der Gewerkschaft NGG ist, somit der Zusatz-TV nicht gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend gilt, allenfalls aus der arbeitsvertraglichen Verweisung auf die bei der Beklagten geltenden Tarifverträge. Ob eine arbeitsvertragliche Verweisung auf einen Tarifvertrag geeignet wäre, das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG zu wahren, ist zumindest zweifelhaft (BAG 12. Juni 2013 a.a.O.). Darauf käme es vorliegend aber eigentlich nicht an, da der Arbeitsvertrag nebst Bezugnahme auf den Tarifvertrag noch abgeschlossen wurde vor dem Inkrafttreten des § 14 Abs. 4 TzBfG als auch vor der Geltungsdauer des § 623 BGB in der vom 01.05. bis 31.12.2000 geltenden Fassung, mit der erstmals ein Schriftformerfordernis begründet wurde. Eine im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung nicht der Schriftform bedürfende Befristung würde durch die spätere Einführung der Schriftform nicht unwirksam (BAG 12. Juni 2013 a.a.O.).



b)



Vorliegend könnte allenfalls deshalb wegen des Schriftformerfordernisses ein Problem bestehen, weil der Zusatz-TV, der die Befristung beinhaltet, erst im Jahre 2005 abgeschlossen wurde, somit zum Zeitpunkt des Arbeitsvertragsabschlusses noch nicht bestand. Im Jahre 2005 bestand jedoch bereits das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG.



Aber selbst wenn man von einer zeitdynamischen Verweisung des Arbeitsvertrages auf die bei der Beklagten geltenden Tarifverträge ausgehen wollte und man davon ausgehen wollte, dass eine bloße Bezugnahmeklausel das Schriftformerfordernis nicht wahren könnte, scheitert die Befristung nicht an einer fehlenden Schriftform. Denn das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG gilt nur für arbeitsvertragliche Abreden und nicht, wenn die Beendigungsvorschrift Bestandteil eines normativ geltenden Tarifvertrages ist. Denn Tarifverträge bedürfen nicht gleichermaßen einer Klarstellungs-, Beweis- und Warnfunktion wie vertragliche Abreden. Einem Tarifvertrag kommt eine vom Gesetzgeber anerkannte Richtigkeitsgewähr zu. Greift aber bei normativ geltenden Tarifverträgen das Schriftformerfordernis nicht ein, so muss dies auch bei arbeitsvertraglich vollständig in Bezug genommenen Tarifverträgen gelten. Denn anderenfalls entstünde ein im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG schwerwiegender Wertungswiderspruch, wenn den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern aufgrund der arbeitsvertraglichen Bezugnahme sämtliche mit dem Tarifvertrag verbundenen Vorteile zukämen, nicht aber in gleicher Weise die mit dem Tarifvertrag verbundenen Nachteile. Außerdem bedarf es bei einer vollständigen Inbezugnahme eines Tarifvertrages nicht in gleicher Weise wie bei einer bloßen arbeitsvertraglichen Abrede der Klarstellungs-, Beweis- und Warnfunktion (BAG 23. Juli 2014 - 7 AZR 771/12 - [...]).



Vorliegend wurden "die für die Firma geltenden Tarifverträge" zwar nur "im Übrigen" in Bezug genommen. Der Arbeitsvertrag beinhaltet aber neben der Bezugnahmeklausel nahezu keine substanzielle Regelung. Selbst das Entgelt ist nur unter Bezugnahme auf eine tarifliche Entgeltgruppe geregelt. Es ist nicht ersichtlich, dass irgendwelche Tarifregelungen durch vorrangige arbeitsvertragliche Regelungen ausgenommen worden sein könnten. Es handelt sich somit um eine vollständige Bezugnahme auf die bei der Beklagten geltenden Tarifverträge, die das Erfordernis der Einhaltung des Schriftformerfordernisses ausschließt.



3.



Die Bezugnahmeklausel in Ziffer 4 des Arbeitsvertrages stellt eine sogenannte zeitdynamische Verweisung dar. Die arbeitsvertragliche Bezugnahme aus dem Jahre 2000 umfasst somit auch den erst im Jahre 2005 in Kraft getretenen Zusatz-TV.



a)



Ob eine vertragliche Bezugnahmeklausel statisch oder dynamisch ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Enthält die arbeitsvertragliche Regelung keine ausdrückliche sogenannte "Jeweiligkeitsklausel", so kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei fehlender Angabe einer konkret nach Datum festgelegten Fassung des in Bezug genommenen Tarifvertrages regelmäßig angenommen werden, der Tarifvertrag solle in der jeweiligen Fassung gelten (BAG 20. April 2012 - 9 AZR 504/10 - NZA 2012, 982; BAG 27. Februar 2002 - 9 AZR 562/00 - BAGE 100, 339).



b)



Auch vorliegend ergibt sich aus dem Wortlaut der Bezugnahmeklausel nichts für eine bloß statische Verweisung. Eine datumsmäßige Beschränkung auf bestimmte Tarifverträge ist in der Vertragsregelung nicht enthalten. Die Bezugnahme ist somit dynamisch.



4.



Die arbeitsvertragliche Verweisung auf Vorschriften eines anderen Regelungswerks ist auch nicht wegen fehlender Transparenz gemäß §§ 306 Abs. 1, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unwirksam, selbst wenn sie dynamisch ausgestaltet ist (BAG 23. Juli 2014 a.a.O.).



5.



Die vertraglich in Bezug genommene tarifliche Regelung des § 10 Zusatz-TV ist so auszulegen, dass eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses eintreten soll bei abschlagsfreier Inanspruchnahmemöglichkeit jeglicher gesetzlicher Altersrenten.



a)



Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung ohne am Buchstaben zu haften. Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags oder die praktische Tarifübung ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 17. Oktober 2007 - 4 AZR 1005/06 - BAGE 124, 240).



b)



Wendet man diese Grundsätze an, so ist festzustellen, dass die Tarifvertragsparteien den Begriff der "gesetzlichen Altersrente" als Anknüpfungspunkt für die Ausscheidensregelung gewählt haben. Verweisen die Tarifvertragsparteien aber auf das Gesetz, so ist davon auszugehen, dass sie Begrifflichkeiten auch genauso verstehen wollen wie das Gesetz. Gesetzliche Altersrenten sind aber alle im Zweiten Kapitel, Zweiter Abschnitt, Zweiter Unterabschnitt, Erster Titel des SGB VI benannten Renten. Dieser Titel ist nämlich bereits überschrieben mit "Renten wegen Alters". Dazu gehört auch die Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß § 37 SGB VI.



Soweit die Tarifvertragsparteien die Beendigung des Arbeitsverhältnisses an eine "ungekürzte" gesetzliche Altersrente geknüpft haben, ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz diesen Begriff im Bereich der Altersrenten nicht benutzt, genausowenig wie den Begriff der "abschlagsfreien" Rente. Das Gesetz sieht lediglich bei bestimmten Altersrenten die Möglichkeit einer vorzeitiger Inanspruchnahme vor. Eine solche vorzeitige Inanspruchnahme führt dann dazu, dass der gemäß § 64 Nr. 1 SGB VI in der Rentenformel zu berücksichtigende Zugangsfaktor, der bei Altersrenten gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI 1,0 beträgt, je Kalendermonat, um den die Rente vorzeitig in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger ist. Mit "ungekürzter" Rente ist somit schlicht eine Rente mit dem Zugangsfaktor 1,0 gemeint, also dasselbe was im allgemeinen Sprachgebrauch auch als abschlagsfreie Rente bezeichnet wird.



6.



Diese tarifliche Befristungsregelung stellt aber keinen zulässigen Sachgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 TzBfG für die Befristung des Arbeitsverhältnisses des Klägers dar. Die Tarifregelung des § 10 Zusatz-TV ist nämlich wegen Gesetzesverstoß jedenfalls insoweit nichtig, als sie auch eine Beendigung von Arbeitsverhältnissen vor Erreichen des Regelrenteneintrittsalters gemäß §§ 35, 235 SGB VI vorsieht. Insoweit wird nämlich mit der Tarifregelung in unzulässiger Weise die Schutznorm des § 41 Satz 2 SGB VI umgangen.



a)



Eine Regelung, die zur einer Umgehung von § 41 Satz 2 SGB VI führt, ist unwirksam und kann nicht zur Rechtfertigung einer Befristung des Arbeitsverhältnisses herangezogen werden (BAG 12. Juni 2013 a.a.O.).



aa)



Nach § 41 Satz 2 SGB VI gilt eine Vereinbarung, die die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann, dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt bestätigt wurde. Mit "Vereinbarung" in diesem Sinne sind nur einzelvertragliche Vereinbarungen gemeint, nicht jedoch kollektivrechtliche Vereinbarungen (BAG 20. Oktober 1993 - 7 AZR 135/93 - BAGE 74, 363). Daraus kann aber nicht im Umkehrschluss geschlossen werden, dass kollektivrechtliche Altersgrenzen ohne Weiteres zulässig sind. Es ist vielmehr durch Auslegung zu ermitteln, welchem Sinn und Zweck die gesetzliche Regelung dient und ob durch diesen Normzweck das Normsetzungsrecht der Tarifvertragsparteien beschränkt wird (BAG 20. Oktober 1993 a.a.O.).



Die Regelung des § 41 Satz 2 SGB VI soll als arbeitsrechtliche Flankierung die sozialrechtliche Dispositionsmacht des Arbeitnehmers schützen, vor Erreichen der Regelaltersgrenze frei über den Beginn des Ruhestandes entscheiden zu können. Die Regelung soll sicherstellen, dass ein möglicher vorzeitiger Rentenanspruch nicht zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führt (BT-Drs. 16/3794 Seite 34; LPK-SGB VI/Wingerter 3. Aufl. § 41 Rn. 2). Diesem Schutz der Dispositionsmacht dient auch § 10 Satz 3 Nr. 5 2. HS AGG, wonach trotz grundsätzlich diskriminierungsrechtlicher Zulässigkeit von Vereinbarungen über die Beendigung von Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt, zu dem eine Rente wegen Alters beantragt werden kann, § 41 SGB VI unberührt bleibt. Diese Norm begründet eine Wahlfreiheit des Arbeitnehmers. Er kann entscheiden, ob er zu dem Termin des möglichen Rentenbezugs ausscheiden will oder ob er bis zur Vollendung des Regelrenteneintrittsalters arbeiten möchte (Wendeling-Schröder in Wendeling-Schröder/Stein AGG § 10 Rn. 56).



Ist es aber ausdrücklich erklärtes Ziel des Gesetzgebers, die Dispositionsmacht des Arbeitnehmers über seinen Renteneintritt jedenfalls bis zur Erreichung des Regelrenteneintrittsalters zu sichern, so kann dieses nicht durch gegenläufige tarifliche Regelungen konterkariert werden. Hierfür steht den Tarifvertragsparteien keine Tarifmacht zu.



bb)



Die zur Entscheidung berufende Kammer folgt ausdrücklich nicht der entgegengesetzten Auffassung der 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg (LAG Baden-Württemberg 19. Juli 2012 - 16 Sa 34/12), welche bei einem identischen Sachverhalt keine Umgehung von § 41 Satz 2 SGB VI angenommen hat.



Die 16. Kammer begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen mit der im Vergleich zu § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI in der bis 31.07.1994 geltenden Fassung, die der Entscheidung des BAG vom 20.10.1993 (BAG 20. Oktober 1993 a.a.O.) zugrunde lag, geänderten Regelungstechnik des § 41 Satz 2 SGB VI in der aktuellen Fassung. § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI a.F. sah die Unwirksamkeit einer Vereinbarung vor, wonach ein Arbeitsverhältnis enden sollte zu einem Zeitpunkt, in dem der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Rente wegen Alters hatte, es sei denn die Vereinbarung wurde innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt geschlossen oder bestätigt. § 41 Satz 2 SGB VI in der aktuellen Fassung sehe dagegen keine Unwirksamkeit mehr vor, sondern bewirke über eine Fiktion lediglich die Verschiebung des Beendigungsdatums auf einen späteren Zeitpunkt. Ordnet der Gesetzgeber bei "Vereinbarungen" keine Unwirksamkeit mehr an, könnten auch Tarifregelungen nicht gesperrt sein.



Diese Auffassung überzeugt nicht. Die Änderung des § 41 SGB VI ist tatsächlich unter anderem vor dem Hintergrund der Entscheidung des BAG vom 20.10.1993 erfolgt. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass aufgrund dieser Entscheidung ältere Menschen dazu übergegangen sind, ihr freiwilliges Ausscheiden mit dem 65. Lebensjahr von der Zahlung einer Abfindung abhängig zu machen (BT-Drs. 12/8145 Seite 1,6). Außerdem wurde erkannt, dass eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über das 65. Lebensjahr hinaus bei Bezug des vollen Arbeitsentgelts neben der vollen Altersrente nicht wünschenswert sei. Auch bestehe Handlungsbedarf, weil durch den Wegfall der Möglichkeit tariflicher Altersgrenzenregelungen die wesentliche Grundlage der Personal- und Nachwuchsplanung in den Unternehmen entfallen sei (BT-Drs. 12/8145 Seite 1). Deswegen wurde aber lediglich die Regelungstechnik geändert. Das Ziel der gesetzlichen Regelung änderte sich dagegen nicht (wesentlich). Ziel der Neuregelung war nämlich, dass das Arbeitsverhältnis bei Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren (damalige Regelaltersgrenze) - auch unter Berücksichtigung der Fiktion - enden könne, sofern eine tarifliche oder sonstige Vereinbarung getroffen ist. Eine vorherige Beendigung solle dagegen nur zulässig sein, wenn es eine einzelvertragliche Vereinbarung gebe, die erst innerhalb der letzten drei Jahre vor Vollendung des 65. Lebensjahres geschlossen oder vom Arbeitnehmer bestätigt wurde (BT-Drs. 12/8145 Seite 6). Der Änderungsgesetzgeber wollte also erreichen, dass Arbeitsverhältnisse auch tariflich mit dem 65. Lebensjahr (Regelrenteneintrittsalter) tatsächlich beendet werden können. An der Sicherung der Wahlfreiheit des Arbeitnehmers hat der Gesetzgeber aber nichts ändern wollen.



Es bleibt also dabei, dass den Tarifvertragsparteien keine Regelungsmacht zusteht, die gesetzlich gesicherte Wahlfreiheit des Arbeitnehmers auszuhebeln.



b)



Vorliegend sieht die Tarifregelung in § 10 Zusatz-TV aber gerade eine gegen die Wahlfreiheit der Arbeitnehmer gerichtete und somit gegen § 41 Satz 2 SGB VI verstoßende "Zwangsverrentung" auch schon vor Eintritt der Regelaltersrente vor, wie zum Beispiel beim Kläger, der mit Erreichen des 63. Lebensjahres wegen der Abschlagsfreiheit Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß § 236a Abs. 1 SGB VI in Anspruch nehmen müsste.



II.



Der Hilfsantrag Ziffer 2 fiel nicht zur Entscheidung an.



III.



Nebenentscheidung



1.



Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.



2.



Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG zuzulassen wegen Divergenz zur Entscheidung des LAG Baden-Württemberg vom 19.07.2012 (16 Sa 34/12).

Stöbe
Dick
Lux

Verkündet am 03.12.2014

Vorschriften§ 14 Abs. 1 TzBfG, § 64 Abs. 7 ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO, § 533 ZPO, § 264 Nr. 2 ZPO, § 17 TzBfG, § 7 KSchG, § 17 Satz 1 TzBfG, § 14 Abs. 4 TzBfG, § 4 Abs. 1 TVG, § 623 BGB, Art. 3 Abs. 1 GG, §§ 306 Abs. 1, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 37 SGB VI, § 64 Nr. 1 SGB VI, § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI, §§ 35, 235 SGB VI, § 41 Satz 2 SGB VI, § 10 Satz 3 Nr. 5 2. HS AGG, § 41 SGB VI, § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI, § 236a Abs. 1 SGB VI, § 91 Abs. 1 ZPO, § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG

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