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19.05.2014 · IWW-Abrufnummer 171637

Hessisches Landesarbeitsgericht: Urteil vom 02.12.2013 – 16 Sa 1248/12

Kündigungsrecht: Informiert der ArbN den ArbG nach einer Inhaftierung nicht umgehend, dass er die Arbeitsleistung nicht erbringen kann, ist eine außerordentliche Kündigung wirksam (Orientierungssatz der Red.)


Tenor: Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2012 - 21 Ca 4130/11 - teilweise abgeändert: Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand: Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug noch um die Rechtmäßigkeit zweier außerordentlicher und einer ordentlichen Kündigung. Die Beklagte ist ein IT-Unternehmen und beschäftigt in ihrem Betrieb Rhein Main regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer. Bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet. Der am XXX geborene, ledige, mit einem GdB von 50 schwerbehinderte Kläger ist ausgebildeter Dipl.-Informatiker und seit 1. Dezember 2000 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt ca. 4500 EUR beschäftigt. Maßgeblich ist der zwischen dem Kläger und der Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossene Arbeitsvertrag sowie die dort in Bezug genommenen Ergänzungsbestimmungen zum Anstellungsvertrag (Bl. 12-21 der Akten). Anfang 2011 versetzte die Beklagte den Kläger von der Betriebsstätte F in die Betriebsstätte M und übertrug ihm die Erstellung eines Handbuchs. Zwischen den Parteien ist streitig, ob diese Ausübung des Direktionsrechts wirksam erfolgt ist. Zu einer tatsächlichen Arbeitsaufnahme in der Betriebsstätte M kam es wegen Krankheit und wegen bis 13. Mai 2011 genehmigtem Erholungsurlaub des Klägers nicht. Mit Mail vom 26. April 2011 bat der Kläger seinen Vorgesetzten, Herrn S, ihn im Hinblick auf das über die Wirksamkeit der Versetzung anhängige Arbeitsgerichtsverfahren bis 4. August 2011 von der Arbeitsleistung freizustellen. Dies lehnte Herr S unter dem 29. April 2011 ab und teilte dem Kläger mit, dass er ihn nach seinem Urlaubsende am 16. Mai 2011 an seinem Arbeitsplatz erwarte. Auf der Grundlage eines Haftbefehls des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 16. Februar 2011-213 Ls - 641 Js 35458/09 (Bl. 181-205 der Akten) wurde der Kläger am 28. April 2011 anlässlich eines gegen ihn geführten Strafverfahrens im Gerichtssaal verhaftet. Hierbei war im Auftrag der Beklagten als Beobachterin die Rechtsanwältin Dr. T zugegen. Der Kläger wurde in Untersuchungshaft in die JVA W gebracht. Dort befand er sich bis zur Hauptverhandlung am 8. November 2011. Während dieser Zeit meldete er sich bei der Beklagten nicht. Er informierte sie nicht über seinen derzeitigen Aufenthaltsort und teilte ihr auch nicht mit, dass und aus welchen Gründen er an einer Arbeitsleistung gehindert ist. Mit Schreiben vom 20. Mai 2011 (Bl. 136 der Akten) mahnte die Beklagte den Kläger wegen unentschuldigtem Fehlen ab. Der Zugang des Schreibens beim Kläger ist zwischen den Parteien streitig. Unter dem 30. Mai 2011 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers (Bl. 63-66 der Akten). Im Anhörungstermin vor dem Integrationsamt am 9. Juni 2011 erfuhr die Beklagte, dass sich der Kläger in Untersuchungshaft in der JVA W befindet. Mit Bescheid vom 10. Juni 2011, bei der Beklagten eingegangen am 16. Juni 2011, erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung, allerdings unter dem Vorbehalt, dass im arbeitsgerichtlichen Verfahren die wirksame Festsetzung des Klägers an die Betriebsstätte der Beklagten in M erfolgt ist und somit die örtliche Zuständigkeit des Integrationsamts M i.S.d. § 87 Abs. 1 SGB IX gegeben ist (Bl. 143-145 der Akten). Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers an, der die Frist zur Stellungnahme verstreichen ließ, ohne eine Stellungnahme abzugeben. Mit Schreiben vom selben Tag beteiligte die Beklagte die bei ihr gebildete Schwerbehindertenvertretung. Mit Schreiben vom 16. Juni 2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich (Bl. 146 d.A.). Das Schreiben ging am 20. Juni 2011 bei der JVA W ein; der Kläger bestreitet den Zugang dieses Kündigungsschreibens nicht. Unter dem 23. Juni 2011 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung (Bl. 76-86 d.A.), die hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung mit Bescheid vom 7. Juli 2011 erteilt wurde (Bl. 216, 217 d.A). Nach mit Schreiben vom 24. Juni 2011 2011 erfolgter Betriebsratsanhörung und Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung kündigte die Beklagte unter dem 11. Juli 2011 das Arbeitsverhältnis außerordentlich (Bl. 218, 219 d.A.). Der Zugang dieses Kündigungsschreibens beim Kläger ist zwischen den Parteien streitig. Mit Schreiben vom 23. Mai 2011 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung (Bl. 67-75 d.A.), die unter dem 25. Juli 2011 erteilt wurde (Bl. 147, 148). Nach mit Schreiben vom 30. Mai 2011 erfolgter Betriebsratsanhörung und Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung kündigte die Beklagte unter dem 28. Juli 2011 das Arbeitsverhältnis ordentlich zum nächst zulässigen Zeitpunkt, den die Beklagte mit dem Datum 29. Februar 2012 benannte (Bl. 149 d.A.). Der Zugang dieses Kündigungsschreibens beim Kläger ist zwischen den Parteien streitig. Am 8. November 2011 wurde der Kläger vom Landgericht Darmstadt aufgrund der in dem Haftbefehl genannten Vorwürfe zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Der Kläger betreibt derzeit die Wiederaufnahme des (Straf-) Verfahrens. Hinsichtlich der fristlosen Kündigung vom 16. Juni 2011 hat der Kläger das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung mit Nichtwissen bestritten. Ferner sei die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten, weil der Beklagten die Festnahme des Klägers seit 28. April 2011 bekannt gewesen sei. Aufgrund des in dem Zustimmungsbescheid des Integrationsamts enthaltenen Vorbehalts der Feststellung einer wirksamen Versetzung des Klägers von F nach M im arbeitsgerichtlichen Verfahren, sei diese Frage zunächst zu klären. Das Integrationsamt M sei örtlich unzuständig gewesen. Folglich liege keine wirksame Zustimmung des Integrationsamts vor. Außerdem sei die Kündigung nicht unverzüglich im Sinne von § 91 Abs. 5 SGB IX erklärt worden. Der Kläger habe nicht gegen seine Arbeitspflicht verstoßen, weil die zuvor erfolgte Versetzung rechtswidrig gewesen sei. Wegen der Einzelheiten des unstreitigen Sachverhalts, des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und der gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der Entscheidung des Arbeitsgerichts (Bl. 469-478 d.A.) Bezug genommen. Das Arbeitsgericht hat die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 16. Juni 2011 festgestellt. Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB liege nicht vor. Zwar sei ein unentschuldigtes Fehlen des Arbeitnehmers an sich als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung geeignet. Hier sei der Kläger jedoch wegen seiner Inhaftierung nicht in der Lage gewesen, seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Aufgrund der Anwesenheit der von der Beklagten beauftragten Rechtsanwältin sei der Beklagten die Vollstreckung des Haftbefehls bekannt gewesen. Der dem Kläger vorzuwerfende Pflichtverstoß beschränke sich daher auf den Vorwurf, dass er die Beklagte nicht über die Fortdauer der Untersuchungshaft über den 16. Mai 2011 hinaus informiert habe. Ein solcher Pflichtenverstoß könne allenfalls eine ordentliche Kündigung rechtfertigen. Hinsichtlich der weiteren Kündigungen vom 11. Juli 2011 und 28. Juli 2011 sei der Beklagten zuzugestehen, dass die insoweit angeführten Gründe eine außerordentliche bzw. ordentliche Kündigung rechtfertigen könnten. Der Wirksamkeit dieser Kündigungen stehe jedoch entgegen, dass sie dem Kläger nicht zugegangen seien. Die Beklagte habe nicht vorgetragen, wann genau und gegebenenfalls von welchem Justizbediensteten die Schreiben dem Kläger ausgehändigt wurden. Dieses Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 23. August 2012 zugestellt. Er hat dagegen mit einem am 12. September 2012 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 23. November 2012 am 22. November 2012 begründet. Hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung vom 16. Juni 2011 habe das Arbeitsgericht nicht hinreichend berücksichtigt, dass die von der Beklagten mit der Prozessbeobachtung beauftragte Rechtsanwältin Dr. T am 28. April 2011 zwar erfahren habe, dass der Kläger verhaftet wurde. Der Beklagten sei jedoch nicht bekannt gewesen, dass der Kläger noch am selben Tag zur Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt W verbracht worden und dort ununterbrochen für einige Monate inhaftiert gewesen sei. Der Kläger habe der Beklagten weder am 28. April noch danach mitgeteilt, dass er sich in Untersuchungshaft befindet. Hiervon habe die Beklagte erst im Rahmen des Anhörungstermins vor dem Integrationsamt am 9. Juni 2011 erfahren. Angesichts dessen sei von einer schwerwiegenden Pflichtverletzung des Klägers auszugehen, die die mit Schreiben vom 16. Juni 2011 erklärte außerordentliche Kündigung rechtfertige. Das Arbeitsgericht habe auch verkannt, dass die Kündigungen vom 11. und 28. Juli 2011 dem Beklagten zugegangen seien. Es habe verkannt, dass die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Empfangsboten des Klägers kraft Verkehrsanschauung gewesen seien. Dies ergebe sich aus § 27 Hessisches Untersuchungsgefangenenvollzugsgesetz. Jedenfalls sei das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 19. März 2012 -21 Ca 4130/11- abzuändern soweit es der Klage stattgegeben hat und die Klage insgesamt abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis der Parteien zum Ablauf des 31. Dezember 2011 gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aufzulösen. Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Zu dem im Verhandlungstermin vor dem Landesarbeitsgericht gestellten Auflösungsantrag der Beklagten erklärte er: hierzu kann ich mich nicht einlassen. Der Kläger beantragt die Aussetzung des Rechtsstreits nach § 148 ZPO, bis über den Wiederaufnahmeantrag hinsichtlich des Strafverfahrens (Az. 5610 Js 30222/12-3 KLs) entschieden ist. Soweit es auf die Vorwürfe im Haftbefehl nicht ankomme, weil die Kündigungen nicht zugegangen sind, bittet er um einen richterlichen Hinweis. Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen. Entscheidungsgründe: I. Die Berufung ist statthaft, § 8 Abs. 2 ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO, § 64 Abs. 2a ArbGG. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, § 46 Abs. 1 ArbGG, § 519, § 520 ZPO. II. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 16. Juni 2011 aufgelöst. 1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile -jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist- zumutbar ist oder nicht (Bundesarbeitsgericht 9. Juni 2011-2 AZR 323/10-Rn. 14). Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zuzumuten ist oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf einem steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Einer entsprechenden Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 i.V.m. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes demnach nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (Bundesarbeitsgericht 19. April 2012- 2 AZR 186/11 - Rn. 20-22 m.w.N.). Die Verletzung der Anzeigepflicht ist "an sich" geeignet, eine fristlose Kündigung gem. § 626 Abs. 1 BGB zu rechtfertigen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 15. Januar 1986 -7 AZR 128/83 (Rn. 17)- entschieden. Dort ging es um die Verletzung der Nachweispflicht bei Arbeitsunfähigkeit. Das Bundesarbeitsgericht hat ausgeführt, dass wegen der Auswirkungen auf den Betriebsablauf der Arbeitgeber in aller Regel ein größeres Interesse an einer schnellen Unterrichtung über die Arbeitsunfähigkeit als an einem ärztlichen Nachweis darüber, ob die Behauptungen seines Arbeitnehmers zutreffen, hat. Gleichwohl hat das Bundesarbeitsgericht sogar die Verletzung der Nachweispflicht "an sich" als fristlosen Kündigungsgrund für denkbar gehalten. Hieraus folgt, dass eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht, den Arbeitgeber über die Unmöglichkeit der Erbringung der Arbeitsleistung zu unterrichten, "an sich" eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann (so auch Erfurter Kommentar/Müller-Glöge, 14. Aufl., § 626 BGB, Rn. 121). Hierbei handelt es sich um eine Verletzung der dem Arbeitnehmer aus § 241 Abs. 2 BGB obliegenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers. Entsprechendes gilt für eine Verletzung der Nebenpflicht des Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber seinen tatsächlichen Aufenthaltsort, d.h. die Wohnadresse unter der er für den Arbeitgeber erreichbar ist, mitzuteilen. Die vorzunehmende Gesamtabwägung ergibt, dass der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Gewicht des Fehlverhaltens des Klägers außerordentlich hoch ist. Er hat nach seiner am 28. April 2011 erfolgten Verhaftung auch nach dem Ende seines Erholungsurlaubs am 13. Mai 2011 sich nicht umgehend bei der Beklagten gemeldet, um anzuzeigen dass ihm wegen der erfolgten Inhaftierung die Erbringung der Arbeitsleistung bis auf weiteres unmöglich ist. Dieses Fehlverhalten wiegt nicht deshalb weniger schwer, weil der Beklagten aufgrund der Anwesenheit der von ihr beauftragten Rechtsanwältin die Verhaftung des Klägers bekannt war. Allein deshalb konnte die Beklagte noch nicht wissen, dass der Kläger nach dem Ende seines Erholungsurlaubs seine Arbeit nicht pünktlich antreten kann. Die Beklagte hatte keine Kenntnis davon, ob und wie lange der Kläger in Untersuchungshaft genommen wurde und in welche Haftanstalt er gebracht wurde. Im Hinblick auf stattfindende Haftprüfungen kann aus einer erfolgten Festnahme keineswegs geschlossen werden, der Festgenommene befinde sich bis zur Hauptverhandlung in Untersuchungshaft. Die Beklagte durfte davon ausgehen, dass der Kläger nach Urlaubsende die ihm zugewiesene Arbeit pünktlich aufnehmen konnte, sofern der Kläger keine anderweitige Mitteilung macht. Hierüber ließ der Kläger die Beklagte vorsätzlich im Ungewissen. Es besteht auch eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Diese ergibt sich daraus, dass der Kläger sich auch in der Folgezeit zu keinem Zeitpunkt bei der Beklagten gemeldet hat, um die Gründe seiner Verhinderung und seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Lediglich zufällig hat die Beklagte anlässlich der Anhörung beim Integrationsamt am 9. Juni 2011 erfahren, dass sich der Kläger in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt W befindet. Für einen Zeitraum von knapp 4 Wochen bezogen auf die geschuldete Arbeitsaufnahme nach Urlaubsende (16.5.-9.6.2011) hatte die Beklagte keine Kenntnis davon, ob bzw. wann der Kläger seine Arbeitsleistung wieder aufnimmt und wo er sich derzeit befindet. Die lange Dauer dieses Zeitraums wirkt sich in der Interessenabwägung zu Lasten des Klägers aus. Andererseits ist es nicht zu betrieblichen Ablaufstörungen gekommen. Zu Gunsten des Klägers sind sein Lebensalter, die Schwerbehinderung und der langjährige Bestand des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen, wobei allerdings einschränkend anzumerken ist, dass der Kläger aufgrund einer Vielzahl von arbeitsgerichtlichen Bestandsstreitigkeiten nach den Feststellungen des Arbeitsgerichts, die der Kläger nicht angegriffen hat, zuletzt über mehrere Jahre keine Arbeitsleistung mehr erbrachte. Im Hinblick auf die Schwere seines Fehlverhaltens fallen die zugunsten des Klägers sprechenden Gesichtspunkte in der Gesamtabwägung nicht entscheidend ins Gewicht. Eine vorherige Abmahnung war entbehrlich. Eine Hinnahme der Pflichtverletzung durch den Arbeitgeber war offensichtlich -auch für den Kläger erkennbar- ausgeschlossen. Dies ergibt sich aus der Schwere der Pflichtverletzung. Der Kläger hat über einen Zeitraum von knapp vier Wochen der Beklagten seine Leistungsverhinderung nicht angezeigt. Es war ihm erkennbar, dass die Beklagte es nicht hinnehmen kann, über einen derart langen Zeitraum im Ungewissen zu sein, ob und wann der Kläger die ihm zugewiesene Arbeit aufnimmt. Insoweit ist es unbeachtlich, dass der Kläger die Zuweisung der Tätigkeit in M für arbeitsvertragswidrig hält. Sofern er die Übernahme derselben ablehnen wollte, hätte er auch dies der Beklagten mitteilen müssen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es nicht um die Nichterbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Hauptleistungspflicht, sondern um die Verletzung davon unabhängig bestehender Nebenpflichten. Die unterlassene Meldung des Klägers bei der Beklagten wiegt darüber hinaus deshalb so schwer, weil er hierdurch bewusst seinen derzeitigen Aufenthaltsort vor der Beklagten geheim halten wollte, damit diese ihn nicht erreichen und gegebenenfalls arbeitsrechtliche Schritte gegen ihn einleiten kann. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall grundlegend von dem eines erkrankten Mitarbeiters, der seinem Arbeitgeber ein ärztliches Attest per Post übersendet ohne diesem vorab telefonisch seine Leistungsverhinderung anzuzeigen. Der Ausspruch einer ordentlichen Kündigung als milderes Mittel war der Beklagten nicht zuzumuten. Der Kläger hat in gravierender Weise seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Kläger im Falle einer ordentlichen Kündigung das Arbeitsverhältnis bis zum Ende der Kündigungsfrist ordnungsgemäß - wenn schon nicht in Bezug auf seine Haupt- so doch in Bezug auf seine Nebenpflichten - erfüllt hätte. Es kann aufgrund seines bisherigen Verhaltens bis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger während des Laufs der Kündigungsfrist nunmehr - etwa im Falle einer Entlassung aus der Untersuchungshaft oder einer Verlegung in eine andere Haftanstalt - seine arbeitsvertraglichen (Neben-) Pflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte. Aufgrund dieser als hoch einzuschätzenden Wiederholungsgefahr in Verbindung mit der Schwere des Fehlverhaltens und des Ausmaßes des Verschuldens des Klägers (Vorsatz) war der Beklagten die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zuzumuten. 2. Die Beklagte hat die Frist des § 626 Absatz 2 BGB eingehalten. Nach § 626 Abs. 2 BGB kann die außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, sobald der Kündigungsberechtigte eine zuverlässige und möglichst vollständige positive Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht. Auch grob fahrlässige Unkenntnis setzt die Frist nicht in Gang. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände (BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 15, BAGE 137, 54; 5. Juni 2008 - 2 AZR 234/07 - Rn. 18, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 44 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7). Bei den für die Kenntnis maßgebenden Tatsachen ist zu unterscheiden, ob der Kündigungsgrund aus einem in sich abgeschlossenen Lebenssachverhalt hergeleitet wird oder aus einem so genannten Dauertatbestand. Ein solcher Dauertatbestand liegt vor, wenn fortlaufend neue kündigungsrelevante Tatsachen eintreten, die zur Störung des Arbeitsverhältnisses führen. In derartigen Fällen ist die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten, wenn bis in die letzten zwei Wochen vor Ausspruch der Kündigung der Dauertatbestand angehalten hat und damit die Störung des Arbeitsverhältnisses noch nicht abgeschlossen war (Bundesarbeitsgericht 22. Januar 1998 -2 ABR 19/97- Rn. 16 m.w.N.). Bleibt der Arbeitnehmer eigenmächtig der Arbeit fern, etwa weil er sich nach einem abgelehnten Urlaubsantrag selbst beurlaubt hat, hat die Rechtsprechung stets einen Dauertatbestand angenommen und ist davon ausgegangen, dass die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB erst dann beginnt, wenn der Arbeitnehmer wieder im Betrieb erscheint (Bundesarbeitsgericht 22. Januar 1998, aaO., Rn. 17, m.w.N.). Entgegen der Ansicht des Klägers begann die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht bereits am 28. April 2011 mit der Kenntnis der Beklagten von der Verhaftung des Klägers zu laufen. Die Beklagte hatte keine Kenntnis davon, ob und wie lange der Kläger in Untersuchungshaft genommen und in welche Haftanstalt er gebracht wurde. Die kündigungsrelevanten Tatsachen liegen hier darin, dass der Kläger nach seinem Urlaubsende am 13. Mai 2011 seine durch die Untersuchungshaft bedingte Unmöglichkeit zur Erbringung der Arbeitsleistung und seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht gegenüber der Beklagten angezeigt hat. Dieses arbeitsvertragswidrige Verhalten setzte sich ununterbrochen fort, bis die Beklagte im Anhörungstermin vor dem Integrationsamt am 9. Juni 2011 erfuhr, dass sich der Kläger in Untersuchungshaft in der JVA W befindet. Frühestens mit diesem Zeitpunkt begann die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen. Das Kündigungsschreiben vom 16. Juni 2011 ging am 20. Juni 2011 bei der JVA W ein; der Kläger bestreitet den Zugang dieses Kündigungsschreibens nicht und beruft sich auch nicht darauf, dass ihm dieses Schreiben erst nach dem 23. Juni 2011 ausgehändigt worden sei. Im Übrigen wäre eine Verzögerung des Zugangs innerhalb der Haftanstalt nicht durch Umstände ausgelöst, die im Einflussbereich des Kündigenden liegen. Der Beklagten war es nicht möglich, gegenüber der Haftanstalt darauf Einfluss zu nehmen, wann dem Kläger das Kündigungsschreiben tatsächlich ausgehändigt wird. Dies rechtfertigt eine analoge Anwendung des § 206 BGB (Landesarbeitsgericht Düsseldorf 13. August 1998 -13 Sa 345/98- Rn. 19; KR-Fischermeier, 10. Aufl., § 626 BGB, Rn. 360). 3. Die außerordentliche Kündigung ist nicht nach §§ 91, 85 SGB IX unwirksam. Danach bedarf eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Diese wurde am 10. Juni 2011 erteilt; insoweit wird auf Bl. 143, 144 der Akten Bezug genommen. Soweit das Integrationsamt die Zustimmung unter den Vorbehalt, dass im arbeitsgerichtlichen Verfahren die wirksame Versetzung des Klägers an die Betriebsstätte der Arbeitgeberinnen in M erfolgt ist und somit die örtliche Zuständigkeit des Integrationsamts M im Sinne des § 87 Abs. 1 SGB IX gegeben ist, gestellt hat, ist dies für das Vorliegen einer Zustimmung der Behörde im Sinne der §§ 91 Abs. 1, 85 SGB IX unbeachtlich. Anderenfalls würde die gesetzliche Wertung des § 91 Abs. 3 SGB IX, nach der das Integrationsamt die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen vom Eingang des Antrags an zu treffen hat, umgangen. Diese Vorschrift bezweckt, dass der Arbeitgeber schnell Klarheit erhält, ob er gegenüber dem schwerbehinderten Menschen eine außerordentliche Kündigung aussprechen kann. Damit ist eine aufschiebend bedingte Zustimmung des Integrationsamts, durch die die Befugnis des Arbeitgebers zur Kündigung auf unbestimmte Zeit aufgeschoben werden könnte, unvereinbar. Dem steht die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 12. Juli 1990 (2 AZR 35/90) nicht entgegen, denn dort ging es nicht um eine Bedingung, sondern um eine Auflage; die Wirksamkeit der behördlichen Zustimmung hing gerade nicht von der Erfüllung der Nebenbestimmung ab. Ob der vom Integrationsamt im Bescheid vom 10. Juni 2011 unter Ziffer 2 erklärte "Vorbehalt" eine Bedingung im Rechtssinne darstellt oder nicht, bedarf keiner Entscheidung. Jedenfalls konnte hierdurch die Wirkung der Zustimmung zu der außerordentlichen Kündigung nicht (auf unbestimmte Zeit) hinausgeschoben werden. 4. Die außerordentliche Kündigung ist nicht nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam. Der Kläger hat die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung zunächst mit Nichtwissen bestritten. Hat der Arbeitgeber daraufhin eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats im Detail schlüssig dargelegt, muss der Arbeitnehmer nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungslast deutlich machen, welche Angaben er aus welchem Grund weiterhin bestreiten will (Bundesarbeitsgericht 16. März 2000-2 AZR 75/99; Leitsatz). Im Hinblick auf das Bestreiten des Klägers hat der Beklagtenvertreter mit Schriftsatz vom 14. November 2011 unter 3.9 zur Betriebsratsanhörung vorgetragen und zum Beleg das Anhörungsschreiben vom 30. Mai 2011 als Anlage B 28 vorgelegt. Der Kläger hat insoweit lediglich ausgeführt, die Betriebsratsanhörung sei deshalb nicht ordnungsgemäß, weil die Beklagte dem Betriebsrat nicht mitgeteilt habe, dass der Kläger sich zu diesem Zeitpunkt schon in Untersuchungshaft befand (Schriftsatz vom 7. Dezember 2011, Seite 7; Blatt 251 der Akten). Die Beklagte konnte dem Betriebsrat diese Information schon deshalb nicht geben, weil sie selbst erst im Rahmen der Anhörung vor dem Integrationsamt am 9. Juni 2011 von der Untersuchungshaft des Klägers Kenntnis erlangte. 5. Der Rechtsstreit ist nicht nach § 148 ZPO bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Wiederaufnahmeverfahren hinsichtlich des Strafprozesses auszusetzen. Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Diese Vorgreiflichkeit ist hier nicht gegeben. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt nicht vom Ausgang des Strafverfahrens ab. Die Beklagte zieht zur Rechtfertigung der außerordentlichen Kündigung vom 16. Juni 2011 nicht das der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers zu Grunde liegende Verhalten heran. Kündigungsgrund sind vielmehr alleine Tatsachen, die nicht Gegenstand des Strafverfahrens waren, nämlich die nicht erfolgte Mitteilung der Arbeitsverhinderung für die Zeit ab 16. Mai 2011 sowie die unterlassene Bekanntgabe seines derzeitigen Aufenthaltsortes. 6. Soweit der Beklagtenvertreter mit Schriftsatz vom 22. November 2013 (Seite 2) einen richterlichen Hinweis für den Fall wünschte, dass es auf die Vorwürfe im Haftbefehl nicht ankommt, weil die Kündigungen nicht zugegangen sind, war ein derartiger Hinweis deshalb nicht zu erteilen, weil es auf die Kündigungen vom 11. und 28. Juli 2011 (nur insoweit war der Zugang streitig) nicht ankommt. III. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 72 Abs. 2 ArbGG. Hinweise: Hinweise Nichtzulassungsbeschwerde wurde eingelegt - Az. beim BAG: 9 AZN 143/14

RechtsgebietBGBVorschriftenBGB § 626

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