28.11.2003 · IWW-Abrufnummer 032331
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 26.06.2003 – 13 K 261/97
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
FINANZGERICHT BADEN-WÜRTTEMBERG
Im Namen des Volkes
Urteil
Az.: 13 K 261/97
In dem Finanzrechtsstreit XXX
wegen Einkommensteuer 1995
hat der 13. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. Juni 2003
durch XXX
für R e c h t erkannt:
Unter Änderung des geänderten Einkommensteuerbescheids 1995 vom 29. Oktober 1997 und der Einspruchsentscheidung vom 11. November 1997 wird die Einkommensteuer auf 32.376 Euro (63.270 DM) festgesetzt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt 78,55 v. H., der Beklagte 21,44 v. H. der Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann der Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe der für ihn festgesetzten Kostenerstattung leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen das Urteil ist die Revision an den Bundesfinanzhof nur statthaft, wenn das Finanzgericht sie zugelassen hat.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Bundesfinanzhof schriftlich einzulegen. Die Revisionsschrift muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Ihr soll eine Abschrift oder Ausfertigung des angefochtenen Urteils beigefügt werden.
Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Auch die Revisionsbegründung ist bei dem Bundesfinanzhof einzureichen. Sie muss die Erklärung enthalten, inwieweit das Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt wird (Revisionsanträge). Außerdem muss sie die Revisionsgründe angeben, indem die Umstände bestimmt bezeichnet werden, aus denen sich eine Rechtsverletzung durch das Urteil ergibt; soweit Verfahrensmängel gerügt werden, muss sie auch die Tatsachen angeben, aus denen sich der Mangel ergibt.
Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde angefochten werden.
Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Bundesfinanzhof einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Ihr soll eine Abschrift oder Ausfertigung des angefochtenen Urteils beigefügt werden.
Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Auch die Beschwerdebegründung ist bei dem Bundesfinanzhof einzureichen. Sie muss darlegen, weshalb die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, weshalb die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert oder weshalb ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem das Urteil beruhen kann.
Bei der Einlegung und Begründung der Revision oder Beschwerde sowie in dem weiteren Verfahren vor dem Bundesfinanzhof muss sich jeder Beteiligte durch einen Steuerberater, einen Steuerbevollmächtigten, einen Rechtsanwalt, einen niedergelassenen europäischen Rechtsanwalt, einen Wirtschaftsprüfer oder einen vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten vertreten lassen. Zur Vertretung berechtigt sind auch Steuerberatungsgesellschaften, Rechtsanwaltsgesellschaften, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Buchprüfungsgesellschaften sowie Partnerschaftsgesellschaften, die durch einen der zuvor aufgeführten Berufsangehörigen tätig werden. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie durch Diplomjuristen im höheren Dienst vertreten lassen.
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Tatbestand
Der Kläger (geb. 05. November 1933) erzielte im Streitjahr 1995 als Professor an der Universität ... (2. Physiologisches Institut) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In seiner Einkommensteuererklärung 1995 machte er Aufwendungen für eine im August 1995 angeschaffte ?Computer-Arbeitsbrille? in Höhe von 1.461 DM als Werbungskosten geltend (Rechnung vom 22. August 1995, Bl. 37 der Gerichtsakten). Dies lehnte der Beklagte im geänderten Einkommensteuerbescheid 1995 vom 29. Oktober 1997 unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. Oktober 1992 VI R 31/92 (BStBl II 1993, 193) ab; das Einspruchsverfahren blieb insoweit erfolglos.
Mit der Klage tr ägt der Kläger vor, die Brille sei vom Augenarzt ausdrücklich als Brille für den Computer-Arbeitsplatz verordnet und entsprechend den Bedürfnissen des Klägers ausgemessen worden. Sie sei ohne Fernteil, jedoch mit zwei speziell am Computer-Arbeitsplatz ausgemessenen Nahteilen (unterer Teil mit Brechkraft von 4,5 Dioptrien zum Sehen von Tastatur und Manuskript : Abstand von den Augen ca. 25 cm ; oberer Teil Brechkraft von 2,75 Dioptrien zum Scharfsehen des Bildschirms - Abstand von den Augen ca. 40 cm ). Durch die Augen-Abstandsbereiche sei die Brille für keinen anderen Einsatz als am Computer-Arbeitsplatz in der Universität zu verwenden. Für die anderen Bedürfnisse des täglichen Lebens besitze der Kläger weitere Brillen, die für die Arbeit am Computer nicht brauchbar seien, während umgekehrt die Computer-Arbeitsbrille auf keinen Fall für andere (private) Anwendungen einzusetzen sei. Die Krankenkasse und die Beihilfestelle des Klägers hätten eine Erstattung der Kosten für die Brille mit der Begründung abgelehnt, dass Aufwendungen für ausschließlich aus beruflichen Gründen angeschaffte Sehhilfen nicht erstattungs- bzw. beihilfefähig seien. Das vom Beklagten zugrunde gelegte BFH-Urteil sei vorliegend nicht anwendbar, da es sich dort offensichtlich um eine universell einsetzbare Bifokal-Brille gehandelt habe, die auch für andere Tätigkeiten genutzt werden konnte, was für die hier streitige Brille nicht der Fall sei.
Der Kläger legt eine augenärztliche Bescheinigung vom 16. Januar 2003 vor, auf die Bezug genommen wird (Bl. 36 der Gerichtsakten).
Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Änderung des geänderten Einkommensteuerbescheids 1995 vom 29. Oktober 1997 und der Einspruchsentscheidung vom 11. November 1997 Aufwendungen für eine Computer-Arbeitsbrille in Höhe von 1.461 DM als weitere Werbungskosten zu berücksichtigen.
Der Beklagte beantragt
Klageabweisung.
Er führt aus, die streitgegenständliche Brille habe die Funktion, einen k örperlichen Mangel des Klägers, nämlich seine altersbedingte Sehschwäche (Presbyopie), auszugleichen; sie stelle daher ein medizinisches Hilfsmittel dar. Diese Funktion behalte sie auch dann noch, wenn sie ausschließlich bei der beruflichen Bildschirmarbeit verwendet und am Arbeitsplatz aufbewahrt werde. Aufwendungen zur Kompensation körperlicher Mängel beträfen stets auch die allgemeine Lebensführung i. S. des § 12 Nr. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG), so dass ein Werbungskostenabzug nicht in Betracht komme (Hinweis auf das BFH-Urteil in BStBl II 1993, 193). Aus steuerlicher Sicht unterscheide sich die fragliche Brille nicht von den anderen Brillen im Besitz des Klägers, deren Kosten unstreitig ebenfalls nicht als Werbungskosten abzugsfähig seien. Auf die 1996 in Kraft getretene Bildschirmarbeitsverordnung könne sich der Kläger nicht berufen, da die Brille bereits im August 1995 angeschafft worden sei.
Für weitere Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze (mit Anlagen) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist teilweise begründet.
Die Kosten für die vom Kläger 1995 angeschaffte Computer-Arbeitsbrille sind dem Grunde nach gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 3 Nr. 6 EStG als Werbungskosten abzugsfähig. Dabei kann dahinstehen, ob das BFH-Urteil in BStBl II 1993, 193 auf die vorliegend streitige Brille anwendbar ist; diese wurde vom Augenarzt speziell am Computer-Arbeitsplatz des Klägers im Physiologischen Institut ausgemessen, während in dem BFH-Urteil von einer ?normalen Sehbrille? die Rede ist. Denn jedenfalls ist nach Ansicht des Senats im Streitfall eine abweichende Beurteilung aufgrund der Bildschirmarbeitsverordnung vom 04. Dezember 1996 (Bundesgesetzblatt - BGBl I 1996, 1843) geboten.
Nach § 6 Abs. 2 i. V. m. mit Abs. 1 dieser Verordnung hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im erforderlichen Umfang eine spezielle Sehhilfe für die Arbeit an Bildschirmgeräten zur Verfügung zu stellen, wenn eine Untersuchung der Augen und des Sehvermögens des Arbeitnehmers durch eine fachkundige Person ergibt, dass eine spezielle Sehhilfe notwendig und eine normale Sehhilfe nicht geeignet ist. Die Verordnung beruht auf § 19 des Arbeitsschutzgesetzes vom 07. August 1996 (BGBl I 1996, 1246), das der Umsetzung von EG-Richtlinien aus den Jahren 1989 und 1991 in nationales Recht dient (vgl. Anm. in BGBl I 1996, 1246). Die Aufwendungen des Arbeitgebers für die Beschaffung und zur Verf ügungstellung von Bildschirm-Arbeitsbrillen sind Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 4 EStG); beim Arbeitnehmer gehört der Vorteil aus der gesetzlich vor-gesehenen Kostenübernahme des Arbeitgebers für die Bildschirm-Arbeitsbrille nicht zum steuerpflichtigen Arbeitslohn (R 70 Abs. 3 Nr. 11 der Lohnsteuer-Richtlinien - LStR - 1999; Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 03. Februar 2000 IV C 2 - S 2144 - 10/00, Deutsches Steuerrecht 2000, 777).
Aus dem Umstand, dass insoweit beim Arbeitnehmer kein Arbeitslohn vorliegt, ist für den Streitfall im Umkehrschluss zu folgern, dass beim Arbeitnehmer Werbungskosten gegeben sind, wenn er diese Aufwendungen selbst - anstelle des Arbeitgebers - tätigt. Dies ergibt sich vorliegend aus § 15 Abs. 1 Arbeitsschutzgesetz. Nach dieser Vorschrift sind die Arbeitnehmer ?verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten ... für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen?, woraus sich eine Obliegenheit des Arbeitnehmers ergibt, gegebenenfalls auf eigene Kosten eine Bildschirmarbeitsbrille anzuschaffen, wenn der Arbeitgeber diese nicht zur Verfügung stellt, obwohl dies nach dem Ergebnis einer augenärztlichen Untersuchung erforderlich erscheint. Der Hinweis des Beklagten auf ein im Vordergrund stehendes eigenbetriebliches Interesses des Arbeitgebers (Schriftsatz vom 06. März 2003) trifft daher insoweit nicht zu. Auch der weitere Hinweis des Beklagten (a. a. O.), dass die Bildschirmarbeitsverordnung erst am 20. Dezember 1996, das Arbeitsschutzgesetz am 08. August 1996 in Kraft getreten sind, während die streitige Brille bereits im August 1995 angeschafft wurde, kann den Werbungskostenabzug nicht ausschließen. Denn das Arbeitsschutzgesetz konkretisiert nur die bereits seit Erlass der entsprechenden EG-Richtlinien 1989 und 1991 bestehende Rechtslage. Die Bildschirmarbeitsverordnung setzt die EG-Richtlinie vom 29. Mai 1990 in innerstaatliches Recht um (vgl. Anm. in BGBl I 1996, 1841); auch insoweit stellt die Verordnung lediglich die bereits seit 1990 bestehende Rechtslage klar. Das EG-Gemeinschaftsrecht ist unmittelbar geltendes Recht, auf das sich Steuerbürger auch vor der Umsetzung in nationales Recht berufen können (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Januar 1982 Rs. 8/81, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1982, 281; BFH-Urteil vom 21. März 1996 IX R 36/95, BStBl II 1996, 399, 401).
Im Streitfall ergibt sich aus der augenärztlichen Bescheinigung vom 16. Januar 2003, dass für den Computer-Arbeitsplatz des Klägers im Physiologischen Institut der Universität ... eine spezielle Sehhilfe erforderlich war, weil die weiteren normalen Brillen des Klägers hierfür nicht geeignet waren. Die Voraussetzungen des § 6 der Bildschirmarbeitsverordnung sind daher erfüllt, so dass nach den o. g. Grundsätzen Werbungskosten vorliegen. Ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber, der den Werbungskostenabzug des Klägers eventuell ausschließen würde, bestand 1995 mangels Umsetzung der einschlägigen EG-Richtlinie in deutsches Recht - unbeschadet ihrer unmittelbaren Rechtswirkung - nicht bzw. wäre nicht durchsetzbar gewesen. Zwar könnte die verhältnismäßig teuere Brillenfassung (646 DM) darauf hindeuten, dass die Brille auch zur Verwendung im privaten Bereich angeschafft wurde, da der ausschließliche Gebrauch am Computer-Arbeitsplatz den Erwerb einer dermaßen aufwendigen Fassung kaum rechtfertigt. Diese Bedenken sind jedoch durch die Bescheinigung vom 16. Januar 2003 im Wesentlichen ausgeräumt.
Dem Klagebegehren kann gleichwohl nur teilweise entsprochen werden. Denn Arbeits-mittel eines Arbeitnehmers mit einer mehrjährigen Nutzungsdauer können gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6, 7 EStG nicht bereits im Jahr der Anschaffung voll als Werbungskosten abgesetzt werden (BFH-Urteil vom 08. Februar 1974 VI R 326/70, BStBl II 1974, 306). In Betracht kommen nur Absetzungen für Abnutzung (AfA) entsprechend der voraussichtlichen Nutzungsdauer des Arbeitsmittels. Im Streitfall hat der Kläger die Brille von der Anschaffung im August 1995 bis zu seiner Emeritierung am 31. März 1999 am Arbeitsplatz genutzt; der Senat geht daher von einer dreijährigen Nutzungsdauer aus, so dass sich der Jahresbetrag der AfA auf 476 DM beläuft. Auf die Vereinfachungsregelung des Abschn. 44 Abs. 3 LStR 1993 (volle Absetzung bei Anschaffungskosten bis 800 DM) kann sich der Kläger nicht berufen, da die Anschaffungskosten der Brille 800 DM übersteigen. Außerdem ist nur die Hälfte des AfA-Jahresbetrages (= 244 DM) als Werbungskosten abzugsfähig, da die Anschaffung der Brille im zweiten Halbjahr 1995 erfolgte (Abschn. 44 Abs. 3 Satz 3 LStR 1993).
Die Einkommensteuer 1995 berechnet sich danach wie folgt:
zu versteuerndes Einkommen bisher 204.134,-- DM
AfA Computer-Arbeitsbrille ./. 244,-- DM
zu versteuerndes Einkommen 203.890,-- DM
Einkommensteuer (Splittingtabelle) 63.322,-- DM
= 32.376,-- Euro
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen, da der Senat (möglicherweise) von dem BFH-Urteil in BStBl II 1993, 193 abweicht.