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20.02.2014 · IWW-Abrufnummer 140483

Oberlandesgericht München: Urteil vom 17.05.2013 – 10 U 3024/12

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Oberlandesgericht München

Urt. v. 17.05.2013

Az.: 10 U 3024/12

Tenor:

1.

Auf die Berufung der Klägerin vom 20.07.2012 wird das Endurteil des LG Landshut vom 04.07.2012 (Az. 55 O 610/12) in Nrn. I. und II. abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden verurteilt, samtverbindlich an die Klägerin 5.332,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 08.06.2011 zu bezahlen.
3.

Die Beklagten tragen samtverbindlich die Kosten des Rechtsstreits.
4.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache Erfolg.

I. Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf weiteren Schadensersatz verneint. Die Beklagten haften für den Unfall allein, §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG.

a) Zum einen ist der Beklagten zu 1) ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO vorzuwerfen. Bei einem Auffahrunfall mit einem Spurwechsler kommt es wegen der hohen Anforderungen des § 7 Abs. 5 StVO kraft Anscheinsbeweises grundsätzlich zu einer Vollhaftung des Spurwechslers, die Betriebsgefahr des auffahrenden Fahrzeugs tritt dann vollständig zurück. Bei einem Spurwechsel fehlt der gegen den Auffahrenden sprechende und den Anscheinsbeweis begründende typische Geschehensablauf (BGH NZV 2011, 177 f. [BGH 30.11.2010 - VI ZR 15/10]; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809 = VRS 104 [2003] 417; OLG Hamm, NJW-RR 2004, 173 [BGH 29.10.2003 - IV ZR 16/03]; Senat, Urteil vom 04.09.2009 - 10 U 3291/09; KG NZV 2011, 185 f.).

Der rechtliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren war vorliegend noch nicht unterbrochen, da sich der Unfall kurz nach dem Einscheren ereignet und sich der Fahrstreifenwechsler erst kurz im Fahrstreifen des Auffahrenden befunden hat (vgl. KG NJW-RR 2011, 128). Dies steht zur Überzeugung des Senats fest aufgrund des schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) Hubert R. vom 19.02.2013 (Bl. 70/86 d. A.), der dem Senat als Spezialsenat für Verkehrsunfallsachen aus einer Vielzahl von Verfahren als besonders qualifizierter Sachverständiger bekannt ist. Dieser führt in seinem Gutachten was folgt aus (Bl. 79 ff. d. A.):

"Ausgehend von den gegenseitigen Beschädigungen der unfallbeteiligten Fahrzeuge sowie der objektiv von der Polizei dokumentierten Spurenlage, hier insbesondere dem Hauptsplitterfeld, ergibt sich mit technisch höchster Wahrscheinlichkeit eine Kollisionskonstellation in engen Grenzen, wie in der Anlage A 2 zum Gutachten dargestellt. Demnach befand sich zum Kollisionszeitpunkt der Pkw Fiat der Beklagtenseite knapp eine Fahrzeuglänge nach der Haltelinie an der Ampelanlage. Das Klägerfahrzeug befand sich zum Kollisionszeitpunkt über 2/3 der Fahrzeuglänge über der Haltelinie. Es kam dann mit voller Überdeckung zur Auffahrkollision mit der Frontpartie des Klägerfahrzeugs auf die Heckpartie des Beklagtenfahrzeugs. ... Der unfallbeteiligte klägerische Pkw VW ist mit einer Geschwindigkeit im Bereich von etwa 35 km/h +/- 10 % auf den entweder bereits stehenden oder mit langsamer Geschwindigkeit noch in Vorwärtsbewegung befindlichen beklagtischen Pkw Fiat aufgefahren. Berücksichtigt man vor dem Kollisionsgeschehen den lebensnahen Umstand, dass das Klägerfahrzeug noch abgebremst wurde, so sind Geschwindigkeiten im Bereich von ca. 40 bis 50 km/h für das Klägerfahrzeug möglich. Eine unfallkausale überhöhte Annäherungsgeschwindigkeit klägerseits ergibt sich technisch nicht. Bei den zuvor genannten Geschwindigkeitsverhältnissen ergibt sich bei Überprüfung des Annäherungsverhaltens der unfallbeteiligten Fahrzeuge ein Abstand zwischen den Parteifahrzeugen zu dem Zeitpunkt, zu dem das Beklagtenfahrzeug die Rechtsabbiegespur in Richtung Ampel verlassen hat, von ca. 18 bis 20 m (ohne Berücksichtigung einer eventuellen Standzeit). Berücksichtigt man eine Standzeit des Beklagtenfahrzeugs vor dem Kollisionskontakt, die im Bereich von 1 bis 3 Sekunden von den Zeugen genannt wird, so kann sich der Abstand zwischen den Parteifahrzeugen bei der längsten genannten Standzeit von 3 Sekunden von 18 bis 20 m auf maximal 62 m erhöhen. In jeder denkbaren Unfallversion, selbst in der günstigsten Betrachtungsweise für die Beklagtenseite, ergibt sich, dass beim Wechsel von der Rechtsabbiegespur in Richtung Geradeausspur der von hinten herannahende klägerische Pkw auf der Geradeausspur für die Beklagte zu 1) erkennbar gewesen wäre. Insoweit ergibt sich beweisbar in jeder denkbaren Unfallversion, selbst in der günstigsten Version für die Beklagtenseite, die Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens, wenn die Beklagte zu 1) nicht vor dem für sie sichtbar von hinten auf der Geradeausspur herannahenden Klägerfahrzeug auf die Geradeausspur gewechselt hätte. Darüber hinaus ergibt sich die Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens aus technischer Sicht beweisbar für die Beklagte zu 1), wenn sie beim Wechsel von der Rechtsabbiegespur nicht über die durchgezogene weiße Markierungslinie in die Geradeausspur gefahren wäre, sondern der Rechtsabbiegespur gefolgt wäre. Aus technischer Sicht ergibt sich, dass die unfallbeteiligte Beklagtenfahrzeugführerin unmittelbar vor dem Kollisionskontakt beim Wechsel von der Rechtsabbiegespur in die Geradeausspur die durchgezogene weiße Markierungslinie überfahren hat (Bl. 85 des Gutachtens). Hätte sie dies nicht gemacht und wäre sie vorschriftskonform der Rechtsabbiegespur weiter gefolgt, wie eingeordnet, so wäre es ebenfalls nicht zum Unfall gekommen. Das Unfallgeschehen ereignete sich, selbst in der günstigsten Betrachtungsweise für die Beklagtenseite, in zeitlichem und engem räumlichen Zusammenhang mit dem Wechsel von der Rechtsabbiegespur des Beklagtenfahrzeugs auf die Geradeausspur. Für die Klägerseite ergibt sich die Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens beweisbar nicht. Für die Klägerseite ergibt sich die Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens aus technischer Sicht nur dann, wenn man aus rechtlicher Sicht vor dem Kollisionskontakt eine Standzeit des Beklagtenfahrzeugs unterstellt. Geht man von einer Standzeit im Bereich von einer Sekunde des Beklagtenfahrzeugs aus, so ist für eine Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens eine starke Betriebsbremsung (ab 6 m/s2) erforderlich, damit der klägerische Fahrzeugführer das Unfallgeschehen vermeiden kann. Geht man aus rechtlicher Sicht von einer Standzeit im Bereich von 2 Sekunden oder mehr des Beklagtenfahrzeugs vor dem Kollisionskontakt aus, so wäre das Unfallgeschehen für den klägerischen Fahrzeugführer beim Einleiten einer Betriebsbremsung ab einer Verzögerung von 3 m/s2 vermeidbar gewesen. Eine Standzeit für das Beklagtenfahrzeug ist jedoch nicht nachgewiesen."

Damit spricht der Anscheinsbeweis des § 7 Abs. 5 StVO gegen die Beklagte zu 1). Diesen konnte sie nicht erschüttern.

b) Darüber hinaus ist der Beklagten zu 1) ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO vorzuwerfen. Die Beklagte zu 1) hat den Pkw aus einer Geschwindigkeit von ca. 40 km/h an der Ampel, die maximal 4 Fahrzeuglängen entfernt war, zum Stillstand gebracht. Damit hat sie ohne objektiv zwingenden Grund stark gebremst. Ein zwingender Grund im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO, der ein starkes Bremsen (= mehr als normales Bremsen), aber nicht notwendig eine Vollbremsung (KG NZV 1993, 47; Senat, Urteil vom 22.02.2008 - 10 U 4455/07 [[...], Rdziff. 31]) des Vorausfahrenden rechtfertigen könnte, setzt nämlich voraus, dass das Bremsen zum Schutz von Rechtsgütern und Interessen erfolgt, die dem Schutzobjekt der Vorschrift (Sachen und Personen) mindestens gleichwertig sind (Senat DAR 1974, 19 = VersR 1974, 674 [OLG München 11.05.1973 - 10 U 3024/72] [red. Leitsatz; Urteil vom 22.02.2008 - 10 U 4455/07 [[...], Rdziff. 33]). Ein bloß triftiger Grund genügt nicht (Senat, Urteil vom 22.02.2008 - 10 U 4455/07 [[...], Rdziff. 32]; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, § 4 Rdziff. 16). Im konkreten Fall war die Lichtzeichenanlage ausgeschaltet. Es gab deshalb keinen solchen zwingenden Grund zu einer starken Bremsung. Dabei kommt es nicht auf die subjektive Sicht des Fahrers an (vgl. die Fälle OLG Saarbrücken VerkMitt. 1975 Nr. 71; OLG Köln DAR 1995, 485; KG NZV 2003, 41; Senat, Hinweis vom 23.01.2008 - 10 U 5097/07).

Das starke Bremsen ist hier auch schuldhaft verkehrswidrig, da die Beklagte zu 1) durch ihr Einscheren den Abstand verringert hat. Wie der Sachverständige in seinem Gutachten vom 19.02.2013 überzeugend ausgeführt hat, war der Unfall für den Zeugen J. unvermeidbar.

c) Soweit die Berufungsführerin die Beweiswürdigung des Erstgerichts im Übrigen angreift, wird auf den Hinweis des Senats vom 31.10.2012 (Bl. 65/66 d. A.) Bezug genommen.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

V. Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 40, 48 Abs. 1 Satz 1 GKG, 3 ff. ZPO.

Beschluss:

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.332,33 € festgesetzt.

Verkündet am 17.05.2013

RechtsgebieteStVG, StVOVorschriften§ 7 Abs. 1 StVG; § 17 Abs. 2 StVG; § 7 Abs. 5 StVO

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