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11.02.2014 · IWW-Abrufnummer 140443

Oberlandesgericht Karlsruhe: Beschluss vom 26.02.2010 – 2 Ws 60/10

1.

Gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht Fluchtgefahr, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalls die Gefahr im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit besteht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen. Bei Jugendlichen, bei denen Untersuchungshaft nach der Intention des Gesetzgebers möglichst vermieden werden soll, tritt das Subsidiaritätsprinzip hinzu, wonach (§ 72 Abs. 1 JGG) im Haftbefehl Gründe anzuführen sind, weshalb andere Maßnahmen, etwa eine Heimunterbringung, nicht ausreichen.


2.

Auch wenn ein Jugendlicher unter Einbeziehung einer sechsmonatigen Jugendstrafe mit einer nicht mehr bewährungsfähigen Jugendstrafe zu rechnen hat, reicht diese Straferwartung aber weder für sich allein noch im Zusammenhang mit anderen Umständen aus, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme zu begründen, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen.


3.

a)

Der Haftgrund der Fluchtgefahr wäre gerade bei einem Jugendlichen nur begründbar, wenn als Tatsache feststünde, dass soziale oder andere Bindungen nicht oder nur in so geringem Maße bestehen, dass ihnen fluchthinderndes Gewicht nicht zugesprochen werden kann.
b)

Dagegen spricht, dass der Beschuldigte in seinem Elternhaus, wo er offenbar auch polizeilich gemeldet ist, festgenommen wurde.
c)

Demgegenüber erreichen Vermutungen, der Beschuldigte, der bislang im Elternhaus gewohnt hat und zur Schule gegangen ist, habe "gute Aussichten", bei Bekannten im Drogenmilieu unterzutauchen, nicht die Qualität "bestimmter Tatsachen" im Sinne von § 112 StPO.


4.

Schließlich darf nach § 72 Abs. 1 JGG Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann.



Wird Untersuchungshaft verhängt, sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. Unterbleibt dies, ist die Anordnung der Untersuchungshaft schon aus diesem Grunde fehlerhaft.


Tenor:

Auf die Beschwerde des Beschuldigten werden der Beschluss des Landgerichts Waldshut-Tiengen vom 11. Februar 2010 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen vom 3. Februar 2010 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe

Am 03.02.2010 erließ das Amtsgericht Waldshut-Tiengen gegen den Beschuldigten einen Haftbefehl mit dem Vorwurf, er habe als Jugendlicher in zwei Fällen als Mitglied einer aus drei Personen bestehenden Bande mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben, wobei es sich in einem Fall um eine nicht geringe Menge gehandelt habe. Die vom Beschuldigten, der am 05.02.2010 in seinem Elternhaus festgenommen worden war, gegen den Haftbefehl eingelegte Beschwerde verwarf das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss.

Die weitere Beschwerde des Beschuldigten führt zur Aufhebung des Haftbefehls. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist nach dem Inhalt der dem Senat vorgelegten Akten nicht begründet.

Gemäß § 11-2 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht Fluchtgefahr, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des. Einzelfalls die Gefahr im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit besteht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen. Bei Jugendlichen, bei denen Untersuchungshaft nach der Intention des Gesetzgebers möglichst vermieden werden soll, tritt das Subsidiaritätsprinzip hinzu, wonach (§ 72 Abs. 1 JGG) im Haftbefehl Gründe anzuführen sind, weshalb andere Maßnahmen, etwa eine Heimunterbringung, nicht ausreichen.

Vorliegend besteht für die Annahme von Fluchtgefahr keine ausreichende Tatsachengrundlage. Zwar muss der Beschuldigte mit der Verhängung einer beträchtlichen, möglicherweise nicht mehr bewährungsfähigen Jugendstrafe rechnen, in die eine bereits rechtskräftig verhängte Jugendstrafe von sechs Monaten einzubeziehen wäre. Vorliegend reicht diese Straferwartung aber weder für sich allein noch im Zusammenhang mit anderen Umständen aus, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme zu begründen, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen. In diesem Zusammenhang geht die Erwägung der Kammer fehl, es bestünden keine Anhaltspunkte für "besonders intensive oder enge soziale Bindungen an die Familie oder ein sonstiges soziales Umfeld". Hierbei handelt es sich ersichtlich um eine bloße Vermutung. Der Haftgrund der Fluchtgefahr wäre 'gerade bei einem Jugendlichen nur begründbar, wenn als Tatsache feststünde, dass soziale oder andere Bindungen nicht oder nur in so geringem Maße bestehen, dass ihnen fluchthinderndes Gewicht nicht zugesprochen werden kann, Dafür ergeben die Akten nichts. Immerhin wurde der Beschuldigte in seinem Elternhaus, wo er offenbar auch polizeilich gemeldet ist, festgenommen. Auch die Vermutungen, die die Kammer hinsichtlich der Möglichkeit anstellt, der Beschuldigte, der bislang im Elternhaus gewohnt hat und zur Schule gegangen ist, "gute Aussichten" habe, bei Bekannten im Drogenmilieu untertauchen, erreichen. nicht die Qualität "bestimmter Tatsachen" im Sinne von § 112 StPO.

Hinzu kommt: Im Jugendstrafrecht gilt das Prinzip der Subsidiarität der Untersuchungshaft. Nach § 72 Abs. 1 JGG darf Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Wird Untersuchungshaft verhängt, sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. Unterbleibt dies, ist die Anordnung der Untersuchungshaft, worauf der Verteidiger des Beschuldigten in seinen Beschwerdeschreiben

-zutreffend hingewiesen hat, schon aus-diesem Grunde fehlerhaft (OLG Hamm B. v. 17.03.2009 3Ws 86/09 in [...] m.w.N.).

Diesen Anforderungen werden weder der Haftbefehl des Amtsgerichts noch der landgerichtliche Beschluss vom 11.02.2010 noch die Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts gerecht. Der Haftbefehl enthält hierzu hur 'den formelhaften Satz; eine andere, weniger einschneidende Maßnahme verspräche derzeit keinen Erfolg. Die Erwägung des Landgerichts, in dem frühen Verfahrensstadium könne nicht festgestellt werden, ob eine Heimunterbringung ausreiche, wird dem Subsidiaritätsprinzip des § 72 JGG in keiner Weise gerecht. Es wäre. nachdem schon das Amtsgericht keine sichtbaren Überlegungen in diese Richtung angestellt hatte, Sache der Kammer gewesen, diese Frage gegebenenfalls unter Einschaltung der Jugendgerichtshilfe zu klären.

Der Haftbefehl konnte deshalb nicht bestehen bleiben. Er konnte auch nicht auf Wiederholungsgefahr im Sinne von § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt werden, weil diese Bestimmung die Erwartung von Freiheitsstrafe, der eine Jugendstrafe insoweit nicht gleichsteht, zum Gegenstand hat.

Vorschriften§ 11 Abs. 2 Nr. 2 StPO § 112 StPO § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO § 72 Abs. 1 JGG § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO

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