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14.01.2014 · IWW-Abrufnummer 140036

Bundesverfassungsgericht: Beschluss vom 16.08.2013 – 2 BvR 864/12

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 16. 8. 2013 – 2 BvR 864/12
Zum Sachverhalt
Die Bf. wandte sich nach Einstellung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens gegen die nach §§ 108 a I, 109 a II OWiG versagte Auferlegung der ihr entstandenen Auslagen zu Lasten der Staatskasse. Ihr war vorgeworfen worden, als Führerin eines Pkw am 1. 11. 2010 um 1.41 Uhr auf der BAB A 5/A 67 das Darmstädter Kreuz mit 131 km/h – statt der zulässigen 100 km/h – durchfahren zu haben. Auf dem die Geschwindigkeitsüberschreitung aufnehmenden Foto war eine junge Frau zu erkennen. Fahrzeughalter des Pkw war der Vater der Bf. Die zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertretene Bf. wurde am 31. 1. 2011 von einem Beamten des Polizeipostens Mühlhausen zu dem Tatvorwurf angehört. Hierbei teilte sie mit, sich nicht zum Vorwurf äußern zu wollen. Die Ermittlungen des Polizeibeamten hatten ergeben, dass als Person auf dem Überwachungsfoto auch die Schwester der Bf. in Betracht kam. Er fasste seine Ermittlungen in einem Vermerk vom 31. 1. 2011 zusammen und regte an, die im Melderegister vorhandenen Lichtbilder beider Schwestern mit den Originalüberwachungsfotos abzugleichen. Am 11. 2. 2011 erließ das Regierungspräsidium Kassel einen Bußgeldbescheid, mit dem gegen die Bf. wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung ein Bußgeld in Höhe von 120 Euro festgesetzt wurde; nach Rechtskraft sollten drei Punkte im Verkehrszentralregister eingetragen werden. Mit Schriftsatz vom 17. 2. 2011 legte der Bevollmächtigte der Bf. Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Er wies darauf hin, dass die Bf. den ihr zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß nicht begangen habe; in einem späteren Schriftsatz berief er sich dazu auf ein physiognomisches Sachverständigengutachten. Nach weiteren erfolglos gebliebenen Ermittlungen zur Fahreridentität stellte die StA das Ordnungswidrigkeitenverfahren mit dem angegriffenen Bescheid vom 22. 6. 2011 nach § 47 I OWiG ein. Die Schuld der Bf. sei gering. An der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung bestehe kein öffentliches Interesse. Es wurde nach § 108 a I OWiG, §§ 467 IV, 467 a I StPO davon abgesehen, die notwendigen Auslagen der Bf. der Staatskasse aufzuerlegen, da dies nach dem Stand des Verfahrens nicht gerechtfertigt erscheine.
Das AG wies den Antrag auf gerichtliche Entscheidung am 31. 1. 2012 als unbegründet zurück. Die Entscheidung erscheine insbesondere im Hinblick auf die Regelung des § 109 a II OWiG nicht als unangemessen. Hätte die Bf. bei ihrer ersten Vernehmung darauf hingewiesen, dass eine ihr ähnlich sehende Schwester als Fahrerin in Betracht komme, hätte die Verwaltungsbehörde vor Erlass des Bußgeldbescheids entsprechende Feststellungen und Überprüfungen durchführen können. Auch eine Gegenvorstellung blieb erfolglos: Zwar weise die Bf. zutreffend darauf hin, dass bei einer Benennung ihrer Schwester als Fahrerin in der polizeilichen Vernehmung am 31. 1. 2011 deren Verfolgung noch möglich gewesen wäre. Allerdings sei bereits am 1. 2. 2011 in Bezug auf jeden anderen Beschuldigten als die Bf. Verfolgungsverjährung eingetreten. Daher hätte die Bf. ab diesem Zeitpunkt – noch vor Erlass des Bußgeldbescheids am 11. 2. 2012 – die Gelegenheit gehabt, auf ihre Schwester als mögliche Fahrerin hinzuweisen. Ein solches Verhalten erscheine dem Gericht der Bf. im Rahmen der Abwägung nach § 109 a OWiG zumutbar.
Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Aus den Gründen
[18] B. (…) Die Voraussetzungen des § 93 c I 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 3 I GG hat das BVerfG bereits entschieden.
[19] I. Eine fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung noch nicht willkürlich. Willkür und damit ein Verstoß gegen Art. 3 I GG liegt jedoch vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl. BVerfGE 87, 273 [278 f.] = NJW 1993, 996; BVerfGE 89, 1 [13 f.] = NJW 1993, 2035; BVerfGE 96, 189 [203] = NJW 1997, 2305; BVerfGK 16, 294 [296] = FPR 2010, 358).
[20] II. Daran gemessen, verletzt die Entscheidung vom 31. 1. 2012 das Grundrecht der Bf. aus Art. 3 I GG. Die Anwendung der Vorschriften der §§ 108 a I, 109 a II OWiG i. V. mit § 467 a I StPO ist mit der vom AG gegebenen Begründung nicht nachvollziehbar.
[21] 1. Die von der StA gem. §§ 105 I, 108 a I OWiG i. V. mit § 467 a I StPO nach Einstellung des Verfahrens zu treffende Kostenentscheidung fällt grundsätzlich dahingehend aus, dass die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse zur Last fallen. Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen des § 109 a II OWiG vorliegen (zu dessen Anwendbarkeit Gürtler, in: Göhler, OWiG, 16. Aufl. [2012], § 109 a Rdnr. 18). Das ist der Fall, wenn der Betroffene das Entstehen der Auslagen durch die rechtzeitige Mitteilung entlastender Umstände hätte verhindern können.
[22] a) § 109 a II OWiG ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil diese Bestimmung die Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen nicht unzulässig einengt, sondern nur das Kostenrisiko in einer zumutbaren Weise verlagert, um einer von der Verteidigung angestrebten kostenträchtigen Ausweitung des Verfahrens zu Lasten der Staatskasse zu begegnen. Von Verfassungs wegen ist es nicht geboten, auch solche Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, die bei sachgerechter Verteidigung nicht entstanden wären (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 27. 11. 1989 – 2 BvR 1333/87, BeckRS 1989, 06956 Rdnr. 12; Gürtler, in: Göhler, § 109 a Rdnr. 8; Schmehl, in: KK-OWiG, 3. Aufl. [2006], § 109 a Rdnr. 9).
3570


BVerfG: Auslagenentscheidung nach Einstellung des OWi-Verfahrens(NJW 2013, 3569)
[23] b) Entlastende Umstände i. S. von § 109 a OWiG sind solche, die den gegen den Betroffenen erhobenen Vorwurf ausräumen, in der Sphäre des Betroffenen liegen, der Verfolgungsbehörde unbekannt geblieben und ihr nicht ohne Weiteres zugänglich sind (vgl. Gürtler, in: Göhler, § 109 a Rdnr. 10; Schmehl, in: KK-OWiG, § 109 a Rdnr. 10; AG Bad Oldesloe, Beschl. v. 25. 8. 2008 – 3 OWi 193/08; AG Besigheim, Beschl. v. 4. 12. 2006 – 6 OWi 364/06; AG Aschaffenburg, zfs 2002, 248; AG Leverkusen, zfs 1997, 308 [309]).
[24] c) Die zu treffende Auslagenentscheidung steht im Ermessen der Verfolgungsbehörde. Bei der Ermessensausübung ist der Normzweck der Regelung des § 109 a OWiG zu beachten. Sie will Missbräuchen vorbeugen und ist deshalb nur in Fällen heranzuziehen, in denen nicht rechtzeitiges Vorbringen als missbräuchlich oder unlauter anzusehen ist. Es kommt deshalb darauf an, ob sich für das Verhalten des Betroffenen ein vernünftiger und billigenswerter Grund anführen lässt (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 27. 11. 1989 – 2 BvR 1333/87, BeckRS 1989, 06956; Gürtler, in: Göhler, § 109 a Rdnr. 12; Schmehl, in: KK-OWiG, § 109 a Rdnrn. 12 ff.).
[25] Als ein solcher Grund ist der Schutz eines nahen Angehörigen vor der Verfolgung anerkannt (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 27. 11. 1989 – 2 BvR 1333/87, BeckRS 1989, 06956; OLG Köln, Anwaltsgebühren spezial 1995, 41 [42]; LG Zweibrücken, NZV 2007, 431; AG Lüdinghausen, NJW 2007, 167; AG Oberhausen, Beschl. v. 31. 3. 2011 – 23 OWi 3/11; Gürtler, in: Göhler, § 109 a Rdnr. 13; Schmehl, in: KK-OWiG, § 109 a Rdnr. 13). Keine Einigkeit herrscht in der Frage, ob die Unzumutbarkeit von Angaben, die einen nahen Angehörigen belasten, entfällt, soweit hinsichtlich des Angehörigen Verfolgungsverjährung eingetreten ist (vgl. bejahend OLG Köln, Anwaltsgebühren spezial 1995, 41 [42]; AG Oberhausen, Beschl. v. 31. 3. 2011 – 23 OWi 3/11; a. A. LG Zweibrücken, NZV 2007, 431).
[26] d) Unabhängig von der Frage, inwieweit eine bestimmte Auslegung des § 109 a II OWiG hinsichtlich der Zumutbarkeit einer Belastung Angehöriger durch Verfassungsrecht vorgegeben ist, handelte es sich bei der möglichen Fahrereigenschaft der Schwester jedenfalls schon deshalb offensichtlich nicht um einen Umstand, dessen Verschweigen der Bf. im Rahmen der Anwendung des § 109 a II StPO zur Last gelegt werden konnte, weil das Unterbleiben entsprechender Angaben der Bf. für das weitere Verfahren nicht wesentlich war (vgl. nur Gürtler, in: Göhler, § 109 a Rdnr. 10). Dass beide Töchter des Fahrzeughalters als verantwortliche Fahrzeugführerinnen in Betracht kamen, war bereits dem Vermerk des zuständigen Polizeibeamten vom 31. 1. 2011 zu entnehmen, in dem ausdrücklich ein Abgleich der beim Melderegister vorhandenen Lichtbilder mit dem Foto der Überwachungskamera angeregt wurde. Die Verfolgungsbehörde konnte daher allein auf Grund der ergänzenden Ermittlungen des zuständigen Polizeibeamten die Erkenntnis gewinnen, dass möglicherweise die Schwester der Bf. die vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hatte. Dies hat das AG in nicht nachvollziehbarer Weise unberücksichtigt gelassen.
[27] 2. Gemäß § 95 I 1 BVerfGG ist daher die Verletzung von Art. 3 I GG durch das AG festzustellen. Der angegriffene Beschluss des AG vom 21. 1. 2012 ist aufzuheben und die Sache ist zur neuen Entscheidung an das AG zurückzuverweisen (§ 95 II BVerfGG).

RechtsgebieteGG, OWiG StPOVorschriftenGG Art. 3I; OWiG §§ 105I, 108 aI, 109 a; StPO §§ 467IV, 467 aI

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