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07.04.2011 · IWW-Abrufnummer 111190

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil vom 21.12.2010 – 974/07

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


21/12/10 Rechtssache W. gegen DEUTSCHLAND (Beschwerde Nr. 974/07)
RECHTSSACHE W. GEGEN DEUTSCHLAND
(Beschwerde Nr. 974/07)
U R T E I L
STRASSBURG
21. Dezember 2010
Dieses Urteil wird unter den in Artikel 44 Absatz 2 der Konvention aufgeführten Bedingungen endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache W. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer, die sich zusammensetzt aus:
XXX,
nach Beratung in nicht öffentlicher Sitzung am 30. November 2010
das folgende Urteil erlassen, das an diesem Tag angenommen worden ist:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache liegt eine Individualbeschwerde (Nr. 974/07) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die der deutscher Staatsangehörige, Herr W. („der Beschwerdeführer“), am 18. Dezember 2006 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof erhoben hat.
2. Der Beschwerdeführer wird von Herrn Günter Flick, Rechtsanwalt in Aurich, vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wird von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau Almut Wittling-Vogel, und ihrer stellvertretenden Verfahrensbevollmächtigten, Frau Katja Behr, Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Am 3. Juni 2009 hat der Präsident der Fünften Sektion beschlossen, der Regierung die Beschwerde zu übermitteln.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
A. Die Entstehung der Sache
4. Der Beschwerdeführer ist 1936 geboren und in A. wohnhaft.
5. Im Jahr 1964 gründete er mit seiner Ehefrau eine Gesellschaft für Heizungsbau (im Folgenden „die Gesellschaft“). Zusammen mit einem Dritten wurden sie deren Gesellschafter, wobei der Beschwerdeführer zum Geschäftsführer ernannt wurde. Im Jahr 1973 geriet die Gesellschaft in finanzielle Schwierigkeiten, weil das Energieversorgungsunternehmen der Stadt Emden es abgelehnt hatte, Anschlüsse zu installieren, um die von der Gesellschaft gebauten Gasanlagen an das Gasnetz anzuschließen. Trotz der vom Beschwerdeführer angestrengten Eilverfahren verschuldete sich die Gesellschaft und im Jahr 1977 wurde ihre Auflösung angeordnet. Der Beschwerdeführer führte den Rechtsstreit als Liquidator fort und obsiegte vor dem Landgericht Aurich. Dieses verurteilte die Stadt Emden im Jahr 1987 zur Zahlung von insgesamt ca. 750.000 EUR an die Gesellschaft (Schadensersatz nebst Zinsen).
6. Den Feststellungen des Bundesgerichtshofs zufolge (Randnummer 11 unten) hatte der Beschwerdeführer, nachdem er diese Gelder wegen Verlusts der Gesellschaft erhalten hatte, versucht, den größtmöglichen Teil davon für seine Familie und sich selbst zu behalten. So hatte er ca. 390.000 EUR auf das Bankkonto eines Gesellschafters in den Niederlanden überwiesen, der wiederum ca. 340.000 EUR auf das Konto einer Tochter des Beschwerdeführers transferiert hatte.
B. Das streitige Verfahren
7. Am 16. Januar 1991 leitete die Staatsanwaltschaft Aurich gegen den Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Steuerstraftaten ein. Im Zuge der Ermittlungen erfolgte eine Durchsuchung am Wohnsitz des Betroffenen und in den Räumlichkeiten einer Bank in Emmen, Niederlande, wo der Beschwerdeführer und seine Tochter ihre Bankkonten unterhielten. In Deutschland und in den Niederlanden wurde eine Reihe von Unterlagen beschlagnahmt.
8. Am 30. März 1994 erließ das Finanzamt gegen die Gesellschaft einen Steuerbescheid für das Jahr 1987 (in Höhe von ca. 440.000 EUR). Der Bescheid wurde im August 1995 abgeändert und der Betrag um ca. 100.000 EUR erhöht. Das Finanzamt hatte in der Zwischenzeit am 7. Oktober 1994 einen Steuerbescheid gegen den Beschwerdeführer über die von der Gesellschaft fälligen ca. 460.000 EUR erlassen. Der Beschwerdeführer legte gegen diese Bescheide Einspruch vor dem Niedersächsischen Finanzgericht ein.
9. Am 17. Mai 1994 wurde gegen den Beschwerdeführer und seinen Rechtsanwalt, der ihn derzeit vor dem Gerichtshof vertritt, Anklage wegen Steuerhinterziehung beziehungsweise Beihilfe zur Steuerhinterziehung erhoben.
10. Am 19. September 1994 verurteilte das Landgericht Aurich den Beschwerdeführer wegen Steuerhinterziehung in Tateinheit mit Untreue zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers wurde zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung verurteilt.
11. Der Bundesgerichtshof gab den Revisionen der Angeklagten am 20. Dezember 1995 statt und hob das Urteil des Landgerichts auf. Hinsichtlich des Beschwerdeführers stellte er das Verfahren wegen des Vorwurfs der Untreue ein und begründete dies insbesondere damit, dass dieser Punkt in der Anklageschrift nicht aufgeführt gewesen sei. Bezüglich des Vorwurfs der Steuerhinterziehung verwies er die Sache an das Amtsgericht Aurich zurück. In diesem Zusammenhang legte er dar, dass in Anbetracht des Verfahrensstands und angesichts des verbleibenden Schuldvorwurfs die Zuständigkeit des Einzelstrafrichters für die weitere Sachbehandlung ausreichend sei. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers wurde freigesprochen.
12. Am 4. September 1996 beantragte der Beschwerdeführer angesichts der beiden vor dem Finanzgericht anhängigen Verfahren betreffend die Steuerbescheide für 1994 vor dem Amtsgericht die Aussetzung des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft legte gegen die Aussetzung Einspruch ein.
13. Am 24. Januar 1997 setzte das Amtsgericht gemäß § 396 der Abgabenordnung das Verfahren bis zum Abschluss der Besteuerungsverfahren vor dem Finanzgericht aus (siehe Randnummer 19 unten). Der Beschwerdeführer bat das Finanzgericht mehrmals darum, im Hinblick auf das anhängige Strafverfahren schnellstmöglich eine Entscheidung in seiner Sache zu erlassen.
14. Am 10. November 2004 hob das Finanzgericht den Steuerbescheid für das Jahr 1987 auf und gab dem Einspruch der Gesellschaft im Wesentlichen statt. Am 15. Februar 2006 wies der Bundesfinanzhof das Rechtsmittel der Gesellschaft gegen dieses Urteil ab. Die Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft hatte keinen Erfolg. Die Beschwerde, die der Beschwerdeführer in diesem Verfahren (Nr. 4447/06) vor dem Gerichtshof erhoben hat, wurde am 12. Mai 2009 von einem mit drei Richtern besetzten Ausschuss mit der Begründung abgewiesen, das streitgegenständliche Verfahren betreffe weder eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen des Beschwerdeführers noch die Begründetheit einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage im Sinne des Artikels 6 der Konvention und die Beschwerde sei demnach gemäß Artikel 35 Absatz 3 ratione materiae mit den Konventionsbestimmungen unvereinbar.
15. Im Februar 2005 wurde dem Amtsgericht Aurich das Urteil des Finanzgerichts zugestellt, das gemäß § 153a der Strafprozessordnung die Einstellung des Verfahrens vorschlug (Randnummer 19 unten). Das Finanzamt legte hiergegen Einspruch mit der Begründung ein, das Rechtsmittel der Gesellschaft sei noch vor dem Bundesfinanzhof anhängig.
16. Das Finanzamt erklärte am 6. Juli 2007, seinen Steuerbescheid vom 7. Oktober 1994 zurücknehmen zu wollen. Der Beschwerdeführer teilte dem Amtsgericht Aurich am 30. Juli 2007 mit, das Besteuerungsverfahren sei ausweislich der Erklärung des Finanzamts endgültig abgeschlossen und die Gründe für die Verfahrensaussetzung seien gegenstandslos geworden.
17. Danach schlug das Gericht wegen der übermäßig langen Verfahrensdauer die Einstellung des Verfahrens vor. Der Beschwerdeführer verweigerte seine Einwilligung.
18. Am 16. April 2008 erließ das Amtsgericht gemäß § 153 der Strafprozessordnung einen Einstellungsbeschluss (Randnummer 19 unten) mit der Begründung, das strafrechtliche Verschulden des Beschwerdeführers sei, sollte es jemals erwiesen werden, auf jeden Fall geringfügig. Der Beschwerdeführer hatte der Verfahrenseinstellung zugestimmt.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
19. Nach den §§ 153 und 153a der Strafprozessordnung kann ein Strafverfahren, das Vergehen zum Gegenstand hat, die mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bedroht sind, unter bestimmten Voraussetzungen eingestellt werden. § 153 gestattet die Einstellung, wenn die Schuld gering ist und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. § 153a gestattet die Einstellung, insbesondere gegen Zahlung eines Geldbetrags zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse.
Der zum Zeitpunkt der Geschehnisse gültige Wortlaut des § 396 der Abgabenordnung sah vor, dass das Strafverfahren ausgesetzt werden konnte, wenn die Beurteilung der Tat als Steuerhinterziehung vom Ausgang eines Besteuerungsverfahrens abhing, ob ein Steueranspruch zugunsten der Staatskasse bestand, Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt wurden. Über die Aussetzung entschied das Gericht. Die Aussetzung des Verfahrens führte dazu, dass die Verjährung ruhte.
§ 305 der Strafprozessordnung führt aus, dass gerichtliche Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde unterliegen. Nach allgemeiner Auffassung unterliegt die Entscheidung des Strafgerichts, das Verfahren nicht auszusetzen, keiner Beschwerde. Was die Entscheidung über die Verfahrensaussetzung anbelangt, so ist sie nicht anfechtbar, wenn sie der weiteren Aufklärung des Sachverhalts dient und demnach im inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung steht (siehe z.B. den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 13. Dezember 2007 (Az. 1 Ws 310/07) m.w.N.).
Die Entscheidung über die Aussetzung eines Strafverfahrens wird übrigens von Amts wegen vom Strafgericht nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen (siehe die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 24. Oktober 1984 (Az. 3 StR 315/84) und vom 13. Januar 1988 (Az. 3 StR 450/87) und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Oktober 1990 (Az. 2 BvR 385/87).“
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. ZUR BEHAUPTETEN VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
20. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens habe den Grundsatz der „angemessenen Frist“ nach Artikel 6 Absatz 1 der Konvention mit folgendem Wortlaut verletzt:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über (...) eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem (...) Gericht (…) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
21. . Die Regierung bestreitet diese Behauptung.
22. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 16. Januar 1991 und endete am 16. April 2008. Das Verfahren hat demnach in zwei Instanzen siebzehn Jahre und drei Monate gedauert, einschließlich der Verweisung der Sache durch den Bundesgerichtshof an das Amtsgericht Aurich.
A. Zur Zulässigkeit
1. Die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs
23. Die Regierung bringt die Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs vor. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung in der Rechtssache S. ./. Deutschland (Nr. 4254/02, 9. Mai 2007) bringt sie vor, der Beschwerdeführer habe sich nicht an die Strafverfolgungsbehörden gewandt, insbesondere nicht an das Amtsgericht Aurich, um eine Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Verfahrensdauer zu erwirken, und er sei auch nicht auf die entsprechenden Vorschläge eingegangen, die ihm gleichwohl in den Jahren 2005 und 2007 unterbreitet worden seien. Sie behauptet ebenfalls, der Betroffene habe die Dauer des Verfahrens vor dem Finanzgericht auch nicht vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt.
24. Der Beschwerdeführer erwidert, dass eine Einstellung des Verfahrens nach § 153a der Strafprozessordnung das Eingeständnis eines strafrechtlichen Verschuldens zu seinen Lasten bedeutet und dem Finanzamt gestattet hätte, die von der Gesellschaft geforderten Beträge bei ihm einzutreiben. Was das Verfahren vor den Finanzgerichten anbelangt, so behauptet er, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der eine überlange Verfahrensdauer festgestellt würde, dieses nicht beschleunigt hätte.
25. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Amtsgericht das Verfahren gegen den Beschwerdeführer gemäß § 153 der Strafprozessordnung schließlich eingestellt hat, ohne sich zu dessen strafrechtlichem Verschulden zu äußern. Angesichts seiner einschlägigen Rechtsprechung ist der Gerichtshof der Auffassung, dem Beschwerdeführer habe keine Beschwerde zur Verfügung gestanden, um sich wegen der Dauer des Strafverfahrens vor dem Amtsgericht beschweren zu können (O. ./. Deutschland (Nr. 2), Nr. 26073/03, Rdnrn. 49 und 57-61, 13. November 2008, O. ./. Deutschland (Nr. 1), Nr. 10597/03, Rdnr. 71, 13. November 2008, und T. ./. Deutschland (Entsch.), Nr. 29752/04 und Nr. 16771/06, 23. März 2010). Der Gerichtshof erinnert im Übrigen daran, dass die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht keinen wirksamen Rechtsbehelf darstellt, um die Dauer eines anhängigen oder abgeschlossenen Zivilverfahrens zu rügen (S. ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnr. 108, CEDH 2006-VII, und H. ./. Deutschland, Nr. 20027/02, Rdnrn. 64-66, 11. Januar 2007). Die Einreden der Regierung sind demnach abzuweisen.
2. Die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers
26. Die Regierung hegt außerdem Zweifel an der Opfereigenschaft des Beschwerdeführers, weil das Verfahren vor den Finanzgerichten nicht den Beschwerdeführer, sondern die in Liquidation befindliche Gesellschaft betraf, deren Vertreter er nur war. Der Beschwerdeführer erwidert, das streitgegenständliche Strafverfahren sei gegen ihn geführt worden. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Angeklagte in dem Verfahren, das dieser Beschwerde zugrunde liegt, durchaus der Beschwerdeführer ist. Somit ist der prozessualen Einrede der Regierung nicht stattzugeben.
27. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Artikels 35 Absatz 3 der Konvention ist. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt.
B. Zur Hauptsache
1. Vorbringen der Parteien
28. Die Regierung behauptet zunächst, die Sache sei durch eine erhebliche Komplexität geprägt gewesen, insbesondere wegen der grenzüberschreitenden Untersuchungshandlungen, dem Erfordernis der Rechtshilfe mit den niederländischen Behörden und der im Verfahren aufgeworfenen komplexen steuerrechtlichen Fragen. Die Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht und dem Bundesgerichtshof sei nicht zu beanstanden.
29. Bezüglich der Dauer des Verfahrens vor dem Amtsgericht weist die Regierung auf die Tatsache hin, der Beschwerdeführer habe selbst beantragt, die Prüfung der Sache auszusetzen. Eine solche Aussetzung sei objektiv sinnvoll gewesen, weil das Verfahren komplexe steuerrechtliche Fragen aufgeworfen habe, die von dem auf diesem Gebiet sachkundigen Finanzgericht zu klären gewesen seien. Da es sich bei diesem Verfahren um keine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention gehandelt habe, sei dessen Dauer der Bundesrepublik Deutschland nicht unmittelbar anzulasten. Die Regierung unterstreicht ferner, das Strafgericht, welches nicht hätte erkennen können, dass die Sache die durchschnittliche Dauer von Verfahren vor den Finanzgerichten überschreiten würde, hätte sich mehrmals an das Finanzgericht gewandt, um Auskünfte über das Fortschreiten des finanzgerichtlichen Verfahrens zu erhalten. Der Beschwerdeführer habe das Amtsgericht im Übrigen erst im Sommer des Jahres 2007 davon unterrichtet, dass die Sache vor dem Finanzgericht abgeschlossen sei.
30. Der Beschwerdeführer bestätigt, die Aussetzung des Verfahrens sei in seinem Interesse gewesen, weil ihm daran gelegen gewesen sei, dass die Begründetheit der Vorwürfe seitens des Finanzamts von sachkundigen Richtern geprüft werde. Er erinnert aber daran, dass es Aufgabe des Staates sei, Maßnahmen zu treffen, um den Straf- und Finanzgerichten zu gestatten, ihre Entscheidungen innerhalb einer angemessenen Frist zu fällen. Das Verfahren vor dem Finanzgericht habe schließlich nach seiner Auffassung keinen komplexen Charakter aufgewiesen.
Was die Ablehnung des Beschwerdeführers anbelangt, der Verfahrenseinstellung zuzustimmen, so macht er geltend, dass, nachdem das Amtsgericht zum ersten Mal die Verfahrenseinstellung wegen überlanger Dauer vorgeschlagen habe, er vor den Finanzbehörden gerade obsiegt hatte und demnach damit habe rechnen können, von sämtlichen Anklagen freigesprochen und somit rehabilitiert zu werden. Außerdem wäre angesichts dessen, dass das Finanzamt noch im Jahr 2005 der Verfahrenseinstellung nicht zugestimmt habe, seine Einwilligung hierzu wirkungslos geblieben. Er unterstreicht, er habe der im Jahr 2008 vorgeschlagenen Einstellung deshalb nicht zugestimmt, weil er gerade einen Herzinfarkt erlitten hatte und nicht mehr in der Lage gewesen sei, als Betroffener in einem Strafverfahren aufzutreten.
2. Die Würdigung des Gerichtshofs
31. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die angemessene Dauer eines Verfahrens nach den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Kriterien zu würdigen ist, insbesondere in Anbetracht der Komplexität der Sache, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden (s. unter zahlreichen anderen Entscheidungen die Rechtssache Pélissier und Sassi ./. Frankreich [GK], Nr. 25444/94, Rdnr. 67, CEDH 1999-II).
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall das streitgegenständliche Verfahren eine gewisse Komplexität aufwies, insbesondere wegen der Untersuchungshandlungen, dass die Verfahrensdauer aber ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass es mehr als zehn Jahre vor dem Amtsgericht in Erwartung des Abschlusses der vor den Finanzgerichten anhängigen Verfahren ausgesetzt worden ist.
33. Er erinnert daran, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention zwar den zügigen Ablauf der Gerichtsverfahren vorschreibt, aber auch den allgemeinen Grundsatz einer ordnungsgemäßen Rechtspflege postuliert. Für das mit einer Sache befasste Gericht kann es in der Tat angemessen sein, den Ausgang eines parallel geführten Verfahrens abzuwarten, dessen Abschluss den Ausgang des vor ihm anhängigen Verfahrens beeinflusst. Die Entscheidung jedoch, die Prüfung einer Sache auszusetzen, muss mit dem zwischen den einzelnen Aspekten dieser Grundvoraussetzung herbeizuführenden gerechten Ausgleich vereinbar und unter Berücksichtigung der Umstände des Falles verhältnismäßig sein (Boddaert ./. Belgien, 12. Oktober 1992, Rdnrn. 38-39, Serie A Band 235-D, Pafitis und andere ./. Griechenland, 26. Februar 1998, Rdnr. 97, Sammlung der Urteile und Entscheidungen 1998-I, und N. . / Deutschland (Nr. 2), Nr. 12852/08, Rdnr. 44, 1. April 2010). Der Gerichtshof erinnert im Übrigen daran, dass selbst bei Verfahren, in denen es den Parteien obliegt, Initiativen zu ergreifen, die Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung entbunden sind, dafür Sorge zu tragen, dass das Verfahren innerhalb angemessener Frist abläuft (Scopelliti ./. Italien, 23. November 1993, Rdnr. 25, Serie A Band 278, und Duclos ./. Frankreich, 17. Dezember 1996, Rdnr. 55, Sammlung 1996-VI).
34. Der Gerichtshof ruft schließlich in Erinnerung, dass Artikel 6 Absatz 1 die Vertragsparteien verpflichtet, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass ihre Gerichte jedem Erfordernis gerecht werden können, insbesondere in Bezug auf die angemessene Frist (o. a Sache S., Rdnr. 129). Er ist der Auffassung, dass diese Verpflichtung auch diejenige umfasst, Mechanismen vorzusehen, um zu verhindern, dass ein parallel laufendes Verfahren, das eine bestimmte Dauer beansprucht und dessen Ausgang sich auf den Ausgang des streitgegenständlichen Verfahrens auswirken kann, den Abschluss des Letztgenannten nicht automatisch verzögert.
35. Im vorliegenden Fall räumt der Gerichtshof in Anbetracht des Gegenstands des Verfahrens vor den Finanzgerichten ein, dass die Aussetzung des Strafverfahrens zu dem Zeitpunkt als angemessen erscheinen durfte, als diese Entscheidung getroffen wurde (siehe Randnummer 19 oben). Er ist aber der Ansicht, das Amtsgericht habe sich nach einer gewissen Zeit nicht mehr damit begnügen dürfen, sich nach dem Fortgang des finanzgerichtlichen Verfahrens zu erkundigen (H. T. ./. Deutschland, Nr. 38073/97, Rdnr. 36, 11. Oktober 2001), dies umso weniger, als es sich um ein Strafverfahren handelte. Selbst wenn der Gerichtshof bereits die Auffassung vertreten hat, dass die Entscheidung eines innerstaatlichen Gerichts, über einen gewissen Zeitraum den Ausgang eines parallel laufenden Verfahrens abzuwarten, angezeigt sein kann, wenn ein solches Verfahren insbesondere eine Grundsatzfrage betrifft, über die ein oberstes Gericht oder ein Verfassungsgericht zu entscheiden hat (o. a. Sache Pafitis und andere, Rdnr. 97, K. ./. Deutschland, Nr. 19124/02, Rdnr. 43, 15. Februar 2007), so erinnert er dennoch daran, dass die Wartezeit nicht unbegrenzt sein darf und das betroffene nationale Gericht die einschlägigen Umstände des Falles berücksichtigen muss, wie insbesondere die Dauer des streitgegenständlichen Verfahrens zu dem Zeitpunkt, zu dem der Aussetzungsbeschluss ergangen ist (T. ./. Deutschland, Nr. 68103/01, Rdnr. 31, 4. Dezember 2003, L. . /. Deutschland, Nr. 14635/03, Rdnr. 71, 26. April 2007, und M. ./. Deutschland (Nr. 2), Nr. 71972/01, Rdnr. 46, 11. Juni 2009).
36. Aufgrund dieser Prinzipien ist der Gerichtshof nicht überzeugt davon, dass das Amtsgericht Aurich einzig die Option hatte, den Ausgang des Verfahrens vor den Finanzgerichten abzuwarten. In diesem Zusammenhang stellt er einerseits fest, dass der Bundesgerichtshof der Meinung war, dass die Art des verbleibenden Strafverfahrens die Sachbehandlung durch das Strafgericht gestattete, und andererseits, dass das Amtsgericht das Verfahren schließlich eingestellt hat, ohne ein strafrechtliches Verschulden des Beschwerdeführers festzustellen.
37. Angesichts des Vorstehenden ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das streitgegenständliche Verfahren übermäßig lang ist und dem Erfordernis der „angemessenen Frist“ nicht entsprochen hat. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
38. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
39. Der Beschwerdeführer fordert Schadensersatz wegen materiellen Schadens, stellt es aber in das Ermessen des Gerichtshofs, einen angemessenen Betrag festzusetzen. Er weist jedoch daraufhin, das Strafverfahren und die Steuerbescheide hätten ihn daran gehindert, eine neue Firma auf dem Sektor des Heizungsleasings zu gründen, die ihm mehr als zwei Millionen Euro pro Jahr an Provisionen eingebracht hätte. Der Beschwerdeführer verlangt außerdem 20.000 EUR wegen immateriellen Schadens.
40. Die Regierung ist der Auffassung, der behauptete materielle Schaden sei nicht in der Dauer des Verfahrens vor den Strafgerichten begründet und bestreitet diese Ansprüche. Was den immateriellen Schaden anbelangt, so überlässt sie dies dem Ermessen des Gerichtshofs.
41. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er erinnert daran, dass es ihm nicht zusteht, Mutmaßungen über den etwaigen Ausgang des Verfahrens anzustellen, wenn es die Erfordernisse aus Artikel 6 Absatz 1 der Konvention erfüllt hätte. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer habe mit Sicherheit einen immateriellen Schaden erlitten. Auf einer gerechten Grundlage billigt er ihm hierfür 17.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
42. Der Beschwerdeführer fordert die Rückerstattung der Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten, d.h. 47.958,40 EUR in Bezug auf das Strafverfahren und 27.197,15 EUR in Bezug auf das Verfahren vor den Finanzgerichten. Er verlangt außerdem 943,91 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof, davon 289,41 EUR wegen der Übersetzung der Sachverhaltszusammenfassung durch die Kanzlei des Gerichtshofs und von zwei Schreiben des Gerichtshofs an den Beschwerdeführer.
43. Die Regierung bestreitet insbesondere die Ansprüche in Bezug auf die innerstaatlichen Verfahren.
44. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten, als diese tatsächlich angefallen sind, d.h. sie sich auf die festgestellte Verletzung beziehen, erforderlich waren und im Hinblick auf ihre Höhe angemessen sind. Im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien weist er die Forderung hinsichtlich der Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten zurück, erachtet aber die Forderung hinsichtlich der Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof für angemessen und gibt ihr zu Gunsten des Beschwerdeführers statt.
C. Verzugszinsen
45. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für den Satz der Verzugszinsen den um drei Prozentpunkte erhöhten Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF
1. Er erklärt die Beschwerde einstimmig für zulässig;
2. Er entscheidet mit sechs zu einer Stimme, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er bestimmt mit sechs zu einer Stimme,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil gemäß Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig geworden ist, 17.000 EUR (siebzehntausend Euro) wegen des immateriellen Schadens und 943,91 (neunhundertdreiundvierzig Euro und einundneunzig Cent) für Kosten und Auslagen sowie jeden Betrag, der vom Beschwerdeführer als Steuer geschuldet werden kann, zu zahlen hat;
b) dass diese Beträge nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu dem Satz zu erhöhen sind, der dem in diesem Zeitraum geltenden Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank entspricht, zuzüglich drei Prozentpunkten.
4. Er weist den Antrag auf gerechte Entschädigung im Übrigen zurück.

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