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23.08.2007 · IWW-Abrufnummer 072720

Landessozialgericht Sachsen: Urteil vom 24.07.2007 – L 6 U 2/06


BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
K….. S…….. GmbH, vertreten durch den Geschäftsführer ...................... , ……………………………………….,
- Klägerin und Berufungsklägerin -

Prozessbevollmächtigter: ……………… ……………………………………………,
…………………………..

gegen

Maschinenbau- und Metall- Berufsgenossenschaft, vertreten durch den Hauptgeschäftsführer, Kreuzstraße 45, 40210 Düsseldorf,
- Beklagte und Berufungsbeklagte -

hat der 6. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts am 24. Juli 2007 in Chemnitz durch den Richter am Landessozialgericht Stampa als Einzelrichter, ohne mündliche Verhandlung, beschlossen:

I. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Artikel 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft folgende Fragen zur Vor-abentscheidung vorgelegt:
a) Handelt es sich bei der beklagten Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft um ein Unternehmen im Sinne der Art. 81 und 82 EG (früher: Art. 85 und 86 EG)?
b) Verstößt die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten gegen gemeinschaftsrechtliche Vorschriften?

G r ü n d e:

I.
Die Klägerin begehrt die Entlassung aus der Mitgliedschaft bei der Beklagten. Bei der Klägerin handelt es sich um eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Alleingesellschafterin ist Frau H. R. mit einer Stammeinlage in Höhe von 25.000 €. Geschäftsführer ist Herr F. K. , der als Metallbauer und Feinmechaniker in die Handwerksrolle eingetragen ist.
Das Unternehmen wurde am 13.11.2003 gegründet, der Betrieb wurde zum 01.01.2004 aufgenommen und firmiert unter der Bezeichnung K.. S……… GmbH, Stahl-, Treppen- und Balkonbau.
Mit Bescheid vom 27.01.2004 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft der für das Unternehmen zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sei. Das Unternehmen sei daher gemäß § 136 Siebentes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) unter der Mitgliedsnummer 600212360 aufgenommen worden; Metallbauer, Klempner und Schmiede seien zu der Gefahrenklasse 8,8 (Gefahrtarifstelle 2323) zu veranlagen; kaufmännische und verwandte Berufe nach der Gefahrklasse 0,6 (Gefahrtarifstelle 2929).
Mit Bescheid vom 28.12.2004 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass weder Frau H. R. noch Herr F. K. pflichtversichert seien. Für beide gelte, dass sie eine beherrschende Stellung im Unternehmen haben. Es bestehe aber die Möglichkeit, sich freiwillig zu versichern.

Bereits mit Schreiben vom 01.11.2004 hatte die Klägerin die Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten zum Jahresende 2004 gekündigt. Es sei beabsichtigt, sich statt dessen privat gegen die bestehenden Risiken abzusichern.
Mit Bescheid vom 15.11.2004 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass nach den Bestimmungen des SGB VII sie der für das Unternehmen zuständige gesetzliche Unfallversicherungsträger sei. Ein Austritt aus der Versicherung bzw. eine Kündigung einer gesetzlichen Pflichtversicherung sei rechtlich nicht möglich. Eine Entlassung aus der Mitgliedschaft werde daher abgelehnt. Dieser Bescheid wurde mit Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 20.04.2005 und mit Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21.11.2005 bestätigt.

Mit der Berufung macht die Klägerin geltend, dass ihre Zwangsmitgliedschaft bei der Beklagten gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, sie sei in ihrer passiven Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigt. Sie legt ein Angebot der Alpha Insurance A-S Amaliegade 12 g, Deka 1256, Kopenhagen, Dänemark des Inhalts vor, dass zu den jeweils gültigen Bedingungen der Beklagten die Klägerin auch bei dieser Gesellschaft nach deutschem Unfallversicherungsrecht gegen das Risiko von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Wegeunfällen versichert wird. Auch die Leistungen sollen sich streng nach dem Leistungskatalog der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung richten.
Die Ausschließlichkeitsstellung der Beklagten verstoße gegen Art. 82, 86 EG, die Wettbewerbsbeschränkung sei nicht zu rechtfertigen. Entsprechendes gelte für die hieraus folgende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nach Art. 49 ff. EG. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die eine Monopolstellung der Deutschen Unfallversicherungsträger in ihrem jeweiligen Bereich rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den umfangreichen Vortrag der Klägerin im Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren Bezug genommen.

II.

Das Verfahren ist auszusetzen, um gemäß Art. 234 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (in der Fassung des Vertrages von Nizza vom 26.02.2001 – BGBl. II 2000, 1667) einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes zu den gestellten Fragen einzuholen. Der Ausgang des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ab.

Der angefochtene Bescheid entfaltet für die Klägerin, die als Gesellschaft mbH gemäß § 13 Abs. 1 GmbH-Gesetz eine eigene Rechtspersönlichkeit mit Grundrechtsfähigkeit nach Art. 19 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) für die Bundesrepublik Deutschland darstellt, unmittelbar verbindliche Rechtswirkung.
Tatsächlich wurde nämlich in dem Zuständigkeitsbescheid vom 27.01.2004, in welchem auch die Mitgliedsnummer mitgeteilt wurde, auch über die Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten entschieden.
Dies ist in § 136 SGB VII, der mit der Eingliederung der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch durch Gesetz vom 07. August 1996 (BGBl. I Seite 1254) ab dem 01.01.1997 Gültigkeit hat, zwar nicht ausdrücklich so geregelt, aus der Gesetzesbegründung wird allerdings deutlich, dass insoweit keine maßgebliche Änderung des bis dahin geltenden Rechts beabsichtigt war.
§ 658 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31.12.1996 geltenden Fassung bestimmte, dass Mitglied der sachlich zuständigen Berufsgenossenschaft jeder Unternehmer ist, dessen Unternehmen seinen Sitz im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Berufsgenossenschaft hat. Gemäß § 664 Abs. 1 RVO wurden Unternehmer, die versichert sind oder Versicherte beschäftigen, in das Unternehmerverzeichnis nach Prüfung ihrer Zugehörigkeit zur Berufsgenossenschaft aufgenommen. Ihnen wurde ein Mitgliedsschein ausgestellt.
Ob für die Klägerin diese Voraussetzung des alten Rechts zu bejahen gewesen wären, obwohl zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung weder eine Unternehmerversicherung vorlag noch Versicherte beschäftigt wurden, braucht nicht entscheiden zu werden. Jedenfalls wurde ein Zuständigkeitsbescheid erteilt, der implizit auch die nach wie vor gegebene Mitgliedschaft feststellt.
Eine Nachfolgevorschrift des § 658 Abs. 1 RVO fehlt im SGB VII. Die Rechtskonstruktion einer in einer Berufsgenossenschaft („Berufsgenossen“ sind die Unternehmer) mitgliedschaftlich zusammengefassten Unternehmen sollte jedoch durch das SGB VII nicht aufgegeben werden. Die Ablösung der Bestätigung der „Mitgliedschaft“ durch einen „Zuständigkeitsbescheid“ geschah aus pragmatischen Gründen: Die Regelung des § 658 Abs. 1 RVO wurde nicht übernommen, da die Aufnahme als Mitglied primär eine interne organisatorische Maßnahme des Versicherungsträgers mit deklaratorischer Bedeutung sei (so die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 13/2204 S. 108 zu § 136).

Durch den angefochtenen Bescheid, der als solcher noch nicht unmittelbar finanzielle Folgen für die Klägerin auslöst, ist also ihre – seit dem 01.01.1997 nicht mehr ausdrücklich gesetzlich normierte, sondern stillschweigend vorausgesetzte – Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten festgestellt worden. Der Bescheid über ihre Zuständigkeit hat also nicht etwa lediglich informatorische Bedeutung und praktische Konsequenzen nur für den – mittlerweile gegebenen Fall, dass sich konkrete Versicherungstatbestände ergeben, vielmehr ist mit dem angefochtenen Bescheid zwischen den Beteiligten festgestellt, dass auch für das konkrete klägerische Unternehmen die allgemein gegebene Pflichtmitgliedschaft greift und daher eine auf dem freien Markt beispielsweise im Ausland – abgeschlossene betriebliche Unfallversicherung für versicherungspflichtige Personen immer nur zu einer Doppelversicherung führen könnte.

Die Klägerin hat ein subjektives Recht auf die Feststellung, ob die Beklagte tatsächlich im Sinne dieser Pflichtmitgliedschaft für sie zuständig ist; die nach § 55 Abs. 1 Ziff. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgesehene Klage auf Feststellung, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist, impliziert auch die Feststellung, dass gegebenenfalls kein Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist. Das nach dieser Vorschrift für die Zulässigkeit einer solchen Klage erforderlich berechtigte Interesse an der baldigen Feststellung ist im Falle der Klägerin gegeben, da bei der Heranziehung von „Beschäftigen“ im Sinne des § 2 Abs. 1 Ziff. 1 SGB VII sofort und mittelbar die Pflichtmitgliedschaft konkrete Konsequenzen hat.

Nach dem Wortlaut des EG-Vertrages ist es denkbar, dass die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin in der Beklagten gegen unmittelbar geltendes Europarecht verstößt, dass also der Bescheid über die Zuständigkeit vom 27.01.2004 rechtswidrig ist und das Gericht dies sowie die negative Feststellung über die Zuständigkeit der Beklagten auszusprechen hat.

Das vorlegende Gericht ist nicht der Auffassung, dass die Fragen nach der diesbezüglichen Auslegung von Art. 86, 82, 49 f. EG von dem EuGH bereits in der Rechtssache C-218/00 (INAIL) in einer in jeder Hinsicht auf die deutschen Verhältnisse übertragbaren Weise beantwortet wurden.
Das Gericht weicht insoweit von den Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 11.11.2003 (B 2 U 16/03 RBSGE 91, 263 bis 269) vom 09.05.2006 ( B 2 U 34/05 R – EG [Die Berufungsgenossenschaft] 2007, 102 bis 106) und vom 20.03.2007 ( B 2 U 9/06 R – Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) ab.

Der zweite Leitsatz der Entscheidung des EuGH vom 22.01.2002 lautet:
Eine Einrichtung, die durch Gesetz mit der Verwaltung eines Systems der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten betraut ist, fällt nicht unter den Begriff des Unternehmens im Sinne der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag (jetzt Art. 81 EG und 82 EG), wenn die Höhe der Leistungen und der Beiträge staatlicher Aufsicht unterliegt und die Pflichtmitgliedschaft, die für ein solches Versicherungssystem kennzeichnend ist, für dessen finanzielles Gleichgewicht sowie für die Umsetzung des Grundsatzes der Solidarität, der verlangt, dass die dem Versicherten gewährten Leistungen nicht proportional zu den von ihm entrichteten Beiträgen sind, unerlässlich ist.
Eine solche Einrichtung nimmt eine Aufgabe rein sozialer Natur wahr. Ihre Tätigkeit ist daher keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Wettbewerbsrechts.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bestehen zwischen dem deutschen und dem italienischen System der gesetzlichen Unfallversicherung sowohl grundsätzliche als auch entscheidende spezielle Unterschiede, so dass eine Übertragung der Erkenntnisse jenes Verfahrens auf die deutschen Verhältnisse noch nicht alle entscheidungserheblichen Fragen beantwortet.

Es ist schon fraglich, ob sich die Beklagte unter dem Begriff „Einrichtung, die durch Gesetz mit der Verwaltung eines Systems der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten betraut ist“ subsumieren lässt.
Ein wesentlicher Unterscheid des italienischen Systems gegenüber dem deutschen besteht darin, dass das Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL) ein Monopol ist, die deutsche gesetzliche Unfallversicherung allerdings als Oligopol strukturiert ist.
Die Beklagte ist nicht mit der Verwaltung eines Systems der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten betraut, vielmehr führt sie diese Versicherung unmittelbar selber durch. Sie verwaltet nicht das System sondern ist Bestandteil desselben. Ihre „Verwaltungstätigkeit“ entspricht wesentlich der Struktur entsprechender Tätigkeiten von entsprechenden Wirtschaftssubjekten, namentlich von Versicherungsgesellschaften.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist bei dem deutschen System auch nicht „die Pflichtmitgliedschaft ….. für dessen finanzielles Gleichgewicht sowie für die Umsetzung des Grundsatzes der Solidarität …. unerlässlich“.
Bei dem faktisch gegebenen Oligopol ist eher das Gegenteil der Fall: Durch die Pflichtmitgliedschaft in jeweils unterschiedlichen Berufsgenossenschaften, die ihre Beiträge nach autonom festgesetzten Gefahrtarifen (§ 157 Abs. 1 SGB VII) bestimmen, wobei der Berechnungsgrundsatz der Umlage (§ 152 SGB VII) gewissermaßen immer nur als Binnenrecht für die einzelne Berufsgenossenschaft gilt, kann die mehr oder weniger zufällige Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Berufsgenossenschaft erhebliche Auswirkungen auf die Beitragshöhe haben. Dadurch, dass die Beitragshöhe sich jeweils de facto aus „Binnenrecht“ der einzelnen BGen ergibt, besteht nicht eine Gesamt-Solidargemeinschaft, sondern die pflichtversicherten Unternehmer sind mehr oder weniger auf Wohl und Wehe einer örtlich und sachlich recht willkürlich umrissenen „Solidargemeinschaft“ ausgeliefert, ohne die Möglichkeit des Wechsels zu haben.

Die Regelung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeiten der einzelnen Berufsgenossenschaften ist in Deutschland ein Kuriosum. § 122 Abs. 1 Satz 1 SGB VII bestimmt, dass der Bundesminister für Gesundheit und Soziale Sicherung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die sachliche Zuständigkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften nach Art und Gegenstand der Unternehmen unter Berücksichtigung der Prävention und der Leistungsfähigkeit der Berufsgenossenschaften und die örtliche Zuständigkeit bestimmen kann. Eine entsprechende Vorschrift kannte auch schon die Reichsversicherungsordnung (§ 646 Abs. 2 RVO). Tatsache ist jedoch, dass seit der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland eine solche Rechtsverordnung nie erlassen wurde. Es gibt eine Anlage 1 zum SGB VII, in der die aktuell existierenden gewerblichen Berufsgenossenschaften in einer nicht weiter Sinn stiftenden Aufzählung von laufende Nummer 1 (Bergbau-Berufsgenossenschaft) bis laufende Nummer 35 (See-Berufsgenossenschaft) genannt sind. Welche von den genannten Berufsgenossenschaften für welche Unternehmen zuständig ist, ist weder gesetzlich noch durch Verordnung geregelt. § 122 Abs. 2 SGB VII bestimmt, dass, falls eine entsprechende Verordnung nicht erlassen wurde, jede Berufsgenossenschaft für die Unternehmensarten sachlich zuständig bleibt, für die sie bisher zuständig war.
Hieraus folgt, dass für die Zuständigkeitsbestimmung immer noch der Beschluss des Bundesrates vom 21. Mai 1885 (Veröffentlicht in den Amtlichen Nachrichten des Reichsversicherungsamtes vom 05. Juni 1885, Jahrgang 1 Nr. 14, AN 1885, Seite 143) maßgeblich ist (einhellige Meinung, vgl. Ricke, in: Kassler Kommentar, § 122 SGB VII, Rdnr. 3). In jener Bekanntmachung findet sich aber die Maschinenbau- und Metallberufsgenossenschaft Düsseldorf nicht. Bei Anwendung jener Liste müsste für die Klägerin (als Eisen und Stahl …. verarbeitender Betrieb) die unter laufende Nummer 8 genannte Sächsisch-Thüringische Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft zuständig sein, wenn man davon ausgeht, dass das Land Sachsen an die Stelle des Königreiches Sachsen getreten ist.
Nun bestimmte aber § 649 RVO, dass Bestandsänderungen von Berufsgenossenschaften möglich waren; so konnten ganze Gewerbezweige oder regionale Teile ausscheiden und eine BG bilden oder auf eine andere übergehen. Für den umgekehrten Fall bestimmte § 651 RVO (nunmehr § 118 SGB VII), dass sich auch Berufsgenossenschaften vereinigen könnten. Um tatsächlich die zuständige Berufsgenossenschaft zu bestimmen, ist es also oft nötig, die ganze Historie von Zusammenlegungen und Abspaltungen der verschiedensten Berufsgenossenschaften bis ins Jahr 1885 nachzuvollziehen, wobei sich dann am Ende immer noch die Situation ergeben kann, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist. In diesem Fall soll nach der Rechtsprechung des BSG diejenige Berufsgenossenschaft zuständig sein, der das Unternehmen „nach Art und Gegenstand am nächsten steht“ (was immer das heißen mag; vgl. BSG, Entscheidung vom 30.01.1975 – 2 RU 119/74BSGE 39, 112, 114).

Der deutsche Staat hat sich also – wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat: in erster Linie durch Übernahme vorkonstitutionellen Rechts für ein System mehrerer Versicherungsträger entschieden, um die gesetzliche Unfallversicherung zu organisieren. Er hat sich damit ganz bewusst gegen ein Monopol entschieden, welches schon bei dem zweiten Entwurf zum Unfallversicherungsgesetz vom 06.07.1884 nicht mehr diskutiert wurde. Man befürchtete, dass eine Reichsversicherungsanstalt „einen zu schwerfälligen Körper, einen zu komplizierten Mechanismus und eine zu bürokratische Geschäftsführung“ habe (vgl. Bräuer, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts Band II, Unfallversicherungsrecht § 1 Rdnr. 62 Seite 11).

Seit der Entscheidung des EuGH vom 22.01.2002 (INAIL) steht fest, dass die Institutionalisierung eines solchen Monopols weder wettbewerbs- noch europarechtswidrig wäre. Es steht jedem Staat frei, souverän zu entscheiden, welche Systeme er in seinem Verantwortungsbereich einführen will.
Entscheidet er sich aber für ein Oligopol, in dem Versicherer untergehen, fusionieren, wachsen und schrumpfen, ja sogar neu gebildet werden können, ohne dass dies alles Marktgesetzen unterworfen wäre, so stellt sich schon die Frage, ob es sich bei diesen Wirtschaftssubjekten nicht tatsächlich um Unternehmen im Sinne des Art. 86, 82 EG handelt, die durch das Fehlen einer Konkurrenz und damit einer effektiven Wirtschaftlichkeitskontrolle schon dann als ökonomisch arbeitend gelten, wenn die Ausgaben die Einnahmen decken, wobei dies sich ja zwangsläufig ergeben muss, wenn sich die Einnahmen an den Ausgaben orientieren.

Das deutsche System nimmt eine Zwitterstellung ein zwischen den jeweils europarechtskonformen Möglichkeiten der Verwaltung durch ein staatliches Monopol wie in Italien und dem Wettbewerb privater Versicherungsunternehmen, wie er in Belgien, Dänemark, Finnland und in Portugal stattfindet. Letztere Möglichkeit war bei den Vorberatungen des Unfallversicherungsgesetzes vom 06. Juli 1884 auch in Erwägung gezogen aber verworfen worden, da nach den Worten Bismarcks „der Unfall als solcher …. vom sittlichen Standpunkt aus nicht Gegenstand der Spekulation und Dividendenverteilung sein“ dürfe (zitiert nach Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969, Seite 32).
Es handelt somit um ein weder letztlich dem Souverän politisch verantwortliches hierarchisches System der Staatsverwaltung noch um ein System der eigenverantwortlich am Markt wirtschaftenden Rechtssubjekte.
Vielmehr entsteht durch die Schaffung staatlich protegierter Unternehmen, die das Verbot, Gewinne zu erwirtschaften, leicht dadurch realisieren können, dass diese sogleich ausgegeben werden, ein Entsolidarisierungseffekt: Durch die Bildung von Fach- und Gebietsmonopolen, die als solche keinen Bezug zu dem versicherten Risiko aufweisen, entstehen je nach willkürlich gebildeter Gefahrengemeinschaft unterschiedliche Tarife bei gleichem Risiko. Diese Gefahr bestünde bei einem nationalen Monopol nicht. Es bestehen aber noch weitere Unterschiede zum italienischen System:
In Deutschland existiert keine Regelung, nach welcher der Beitragssatz bei hohen Risiken einen bestimmten Höchstbetrag nicht überschreiten darf. Insbesondere die Vorschriften der §§ 157, 162 SGB VII über den Gefahrtarif sowie über risikoabhängige Zuschläge, Nachlässe und Prämien schließen dies aus.
Nach § 153 SGB VII sind die Einkünfte der Versicherten zwar ebenfalls ein Berechnungsfaktor für die Beitragsberechnung, nämlich das Arbeitsentgelt in der Spanne zwischen einem Mindestverdienst und einem Höchstverdienst. Der Mindestverdienst wird hierbei nicht zwingend vorgesehen, sondern kann durch Satzung festgelegt werden. Der Höchstjahresarbeitsverdienst richtet sich ebenfalls nach der Satzung, § 153 Abs. 2, Abs. 3 §§ 81 ff. SGB VII. Die Rahmensummen sind nicht nur für die Beitragsberechnung ausschlaggebend, sondern auch für die Leistungsberechnung, insbesondere für Rentenberechnungen.
Die Zugrundelegung des – leistungsbestimmenden Arbeitsentgelts dient dazu, risikoadäquate Beiträge zu erheben, da die meisten Ausgaben ebenfalls vom Arbeitsentgelt abhängig sind. Die Ausgaben für die nicht einkommensabhängige ambulante und stationäre Heilbehandlung und für vergleichbare Leistungen betrugen für das Jahr 2002 lediglich 12,4 % der Gesamtausgaben. Das entspricht in etwa 14,5 % der Einnahmen, welche die Berufsgenossenschaften außerhalb der allgemeinen Versicherungsbeitragseinnahmen haben (vgl. BG-Statistik, BG 2003, 347, 359).

Tatsächlich sozialpolitisch intendierte und effiziente Umverteilungsmechanismen kennt also das deutsche Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht. Auch die §§ 173 und 176 SGB VII betreffen nicht einen sozialen Ausgleich, sondern dienen dem Zweck, Abweichungen des Umlageverfahrens vom Äquivalenzprinzip aufzufangen. So führt das Umlageverfahren beim Schrumpfen eines Wirtschaftszweiges zu einer Umverteilung zu Gunsten der Unternehmen, in deren Verantwortung die Schäden entstanden sind und zu Lasten der Unternehmen, die ihnen nachfolgen (vgl. Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, Bonn 1995, Seite 225 [Studien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, Band 15]).

Ausgehend von diesen Umständen sieht sich das vorlegende Gericht berechtigt, um eine Vorabentscheidung nachzusuchen: Eine auf das deutsche Unfallversicherungssystem zugeschnittene Beantwortung der Ausgangsfrage lässt sich nicht der Entscheidung vom 22.01.2002 (INAIL) entnehmen.
Auch andere Entscheidungen des EuGH weisen in die Richtung, dass eine Bejahung der Ausgangsfragen durchaus möglich erscheint.
Nach der Rechtsprechung des EuGH verletzen die Mitgliedstaaten die Artikel 86 Abs. 1, Art. 82 EG, wenn sie die privilegierten Unternehmen im Sinne des Art. 86 Abs. 2 in eine Situation bringen, in welche sie sich durch selbstständige Verhaltensweisen nicht ohne Kartellrechtsverstoß versetzen könnten (EuGH, 13.12.1991, Rs.C-18/88 [RTT/Inno] Slg. 1991, I – 5941 [5980]; EuGH, 17.11.1992, Rs.C-271, C-281, C-289/90 [Telekommunikationsdienste], Slg. 1992, I – 5833 [5868]; EuGH, 23.05.2000, Rs.C-209/98 [FFAD, Sydhavens Sten], Slg. 2000 I – 3743 [3797 ff.]). Die letztere Fallgruppe erfasst nach der Rechtsprechnung des EuGH nicht nur die Ausdehnung von Monopolen sondern auch deren Schaffung (EuGH, 19.05.1993, Rs.C-320/91 [Corbeau], Slg. 1993 I – 2533 ff.; EuGH, 17.05.2001, Rs.C-340/99 [TNT Traco/Poste Italiane] Slg. 2001, I – 4109 [4158 ff.]. Dementsprechend kann die Schaffung von Gebiets- und Fachmonopolen der Berufsgenossenschaften, welche auf der gesetzlichen Begründung von Versicherungspflicht und Versicherungszwang beim zuständigen Versicherungsträger beruht, den Verbotstatbestand des Art. 86, 82 EG erfüllen.
Allerdings ist in diesem Zusammenhang nach der Rechtsprechung des EuGH der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu prüfen. (EuGH, 25.07.1991, Rs.C-353/89 [Mediawet], Slg. 1991, I – 4069 [4099 ff.]). Die Unfallprävention liegt sicherlich im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse (vgl. Art. 86 Abs. 2 EG), es fragt sich allerdings, ob wegen der dafür erforderlichen Aufwendungen von etwa 8 % der Umlage (vgl. Statistik der Berufsgenossenschaften BG 2003, 347, 359: 1.056 Mill. Euro von insgesamt 13.027,3 Mill. Euro) die gesamte Versicherung über Gebiets- und Fachmonopole organisiert werden musste. Eine Aufspaltung erschiene grundsätzlich ebenso denkbar wie die Heranziehung privater Mitbewerber zu den Aufwendungen für die Prävention.

Nach der Rechtsprechung des EuGH stellen Dienstleistungsmonopole so genannte nicht diskriminierende Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs nach Artikel 49 ff. EG dar und können als solche nur aus zwingenden Gründen des allgemeinen Interesses gerechtfertigt sein (EuGH, 19.03.1991, Rs.C-202/88 [Endgeräte], Slg. 1991, I-1223 [1267 ff.]; EuGH, 25.07.1991, Rs.C-353/89 [Mediawet], Slg. 1991, I-4069 [4092 ff., 4095]; EuGH, 15.12.1993, Rs.C-277, 318, 319/91 [Ligur carni], Slg. 1993, I-6621 [6660 ff.]). Die Artikel 49 ff. EG sind anwendbar, weil es sich bei den Versicherungsleistungen der Beklagten um Dienstleistungen im Sinne des Art. 50 EG handelt (vgl. EuGH, 03.10.2002, Rs.C-136/00 [Danner] Slg. 2002, I-8147 ff. Tz. 26 f.). Eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses ist dann anzunehmen, wenn ausländische Anbieter an Tätigkeiten gehindert werden, welche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen (EuGH, 21.06.1974, Rs.2/74 [Reyners], Slg. 1974, 631 [654]; EuGH, 15.03.1988, Rs. 147/86 [Kommission/Griechenland], Slg. 1988, 1637 [1654 f.]; EuGH, 13.07.1993, Rs.C-43/93 [Thijssen], Slg. 1993, I-4047 [4069]).

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts handelt es sich bei der Tätigkeit der Beklagten im Wesentlichen um die Anbietung, Verwaltung und Abwicklung von Versicherungsdienstleistungen. Sofern sich hierbei der Formen der öffentlichen Rechts bedient wird, wozu auch die Ermächtigung gehört, Verwaltungsakte zu erlassen, erscheint in diesem Zusammenhang der Ausdruck eines Über-/Unterordnungsverhältnisses ebenso unangebracht wie der Ausdruck „hoheitliche“ Tätigkeit: Die Möglichkeit, durch Verwaltungsakt das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten verbindlich festzustellen, beinhaltet in der Sache nichts weiter als eine (zweckmäßige) Verlagerung der Anrufungszuständigkeit für das Gericht vom Versicherer auf den Versicherten. Entsprechendes lässt sich auch privatrechtlich organisieren, indem im Versicherungsvertrag festgeschrieben wird, dass Feststellungen des Versicherers, die er in einem bestimmten förmlichen Verfahren an den Versicherten gesandt hat, innerhalb einer bestimmten Frist zwischen den Vertragsparteien verbindlich werden, wenn der Versicherte nicht widerspricht.
Letztlich erscheint auch die „soziale Aufgabe“ der Prävention nicht als Ausübung öffentlicher Gewalt. Schließlich liegt es schon im eigenen Interesse jedes Versicherers, die Versicherungs- und Leistungsfälle so gering wie möglich zu halten. In einem gewissen Umfang, der nach Einschätzung des vorlegenden Gerichts in keinem Zweig der gesetzlichen Unfallversicherungen in Deutschland nennenswert überschritten wird, rechnet sich Prävention immer und hat somit neben den zweifellos gegebenen „sozialen Zweck“ auch einen ganz nüchternen, wirtschaftlichen.

Für die Entscheidung des Rechtsstreits, ob die Beklagte zuständiger Sozialversicherungsträger im Sinne der Vorschriften über die Zwangsmitgliedschaft des SGB VII ist oder ob ein solcher zuständiger Unfallversicherungsträger nicht existiert, ist es erforderlich, dass geklärt wird, inwiefern die Beklagte als monopolartiges Unternehmen den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages unterliegt. Zu klären ist auch, ob der Ausschluss ausländischer Anbieter gerechtfertigt ist.
Inwiefern das Recht der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, sollte nach Auffassung des vorlegenden Gerichts durch den EuGH entschieden werden.

Diese Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter gemäß § 150 Abs. 3 Satz 4 SGG ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 3 SGG).

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