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07.12.2011

Finanzgericht Baden-Württemberg: Beschluss vom 12.09.2011 – 3 V 2820/11

1. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Bescheides, in dem der Steuerpflichtige einzeln zur Einkommensteuer veranlagt wurde, ist auch dann zulässig, wenn die in der Hauptsache zutreffende Klageart die Verpflichtungsklage auf Durchführung der Zusammenveranlagung ist.

2. Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die Versagung der Zusammenveranlagung eingetragener Lebenspartner rechtmäßig ist, da in der Finanzgerichtsbarkeit zu dieser Frage unterschiedliche Auffassungen vertreten werden.

3. Die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung ist nicht deshalb zu versagen, weil der Anspruch auf die Gewährung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes hinter das öffentliche Intersse an einer geordneten Haushaltsführung zurücktreten müsste.


Beschluss

In dem Finanzrechtsstreit

hat der 3. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … am 12. September 2011 beschlossen:

1. Die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2010 über die Einzelveranlagung der Antragstellerin vom 17. Juni 2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2011 wird in Höhe des Betrages aufgehoben, um den die festgesetzte Einkommensteuer den Betrag übersteigt, der bei Anwendung des Splittings-Verfahrens (§ 32a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes) festzusetzen wäre.

2. Die Berechnung der Einkommensteuer, die bei Anwendung des SplittingVerfahrens festzusetzen wäre, wird dem Antragsgegner übertragen.

3. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.

4. Die Beschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt die Aufhebung der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2010 (Streitjahr), mit dem der Antragsgegner (das Finanzamt –FA–) eine Einzelveranlagung durchgeführt hat.

Die Antragstellerin hat am 13. Oktober 2001 vor dem Standesbeamten des Standesamts X mit Frau (A) eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet. Die Antragstellerin und A sind Eltern der am 13. September 2002 geborenen Tochter … (–H–; s. Geburtsurkunde des Standesamts vom 4. Januar 2006).

Die Antragstellerin und A reichten am 11. März 2011 beim FA eine gemeinsame Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ein, die von beiden Lebenspartnerinnen unterschrieben ist, und beantragten beide die Durchführung einer Zusammenveranlagung. Diesen Antrag lehnte das FA in den Erläuterungen des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2010 vom 17. Juni 2011 ab und veranlagte die Antragstellerin stattdessen durch den soeben genannten Bescheid einzeln zur Einkommensteuer.

Durch Änderungsbescheid vom 4. Juli 2011 wurde die Einkommensteuer für das Streitjahr aus hier nicht streitigen Gründen herabgesetzt; die Antragstellerin sollte danach Einkommensteuer in Höhe von 7.711 EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von 498 EUR an das FA zahlen. Der Bescheid gibt weiter an, der Betrag werde abgebucht.

Gegen den Einkommensteuerbescheid vom 17. Juni 2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2011 legte die Antragstellerin am 12. Juli 2011 fristgerecht Einspruch ein; das Einspruchsverfahren ruht. Gleichzeitig beantragte sie Aussetzung der Vollziehung, weil ernstlich zweifelhaft sei, ob die Versagung der Zusammenveranlagung für die Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft verfassungsgemäß sei.

Diesen Antrag lehnte das FA durch Bescheid vom 21. Juli 2011 ab. Daraufhin hat die Antragstellerin unter dem 5. August 2011 Aussetzung der Vollziehung bei Gericht beantragt und auf zwei Beschlüsse des Niedersächsischen Finanzgerichts (FG) hingewiesen, wonach insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestünden. Durch Schriftsatz vom 13. August 2011 hat die Antragstellerin auf weitere Beschlüsse des FG Baden-Württemberg und des FG Münster hingewiesen. Weiter hat die Antragstellerin mit demselben Schreiben den Antrag insoweit umgestellt, als sie nunmehr die Aufhebung der Vollziehung (AdV) beantragt, weil das FA den Nachzahlungsbetrag von insgesamt 8.209 EUR mittlerweile abgebucht habe. Zuletzt hat die Antragstellerin auf Hinweis des Gerichts den Antrag unter dem 2. September 2011 betragsmäßig eingeschränkt.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß nur noch, die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2010 vom 17. Juni 2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2011 ohne Anordnung einer Sicherheitsleistung in Höhe des Differenzbetrages aufzuheben, der sich bei Anwendung des Splittingtarifs ergibt, und die Berechnung dem Antragsgegner zu übertragen.

Das FA beantragt, den Antrag abzulehnen.

Es weist darauf hin, dass nach Verwaltungsauffassung Anträge auf AdV abzulehnen seien. Außerdem dürfe nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Verfahren wegen AdV keine weitergehende Entscheidung getroffen werden als von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu erwarten sei.

II.

Der (betragsmäßig eingeschränkte) Antrag ist begründet; im Streitfall bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide. Das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung steht der Aufhebung der Vollziehung nicht entgegen. Einer Sicherheitsleistung bedarf es angesichts der Einkommensverhältnisse nicht.

1. Der Antrag ist statthaft, obwohl in der Hauptsache zutreffende Klageart die Verpflichtungsklage sein wird; denn der Bescheid vom 17. Juni 2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2011 ist ein vollziehbarer Verwaltungsakt.

a) Im finanzgerichtlichen Verfahren sehen §§ 69, 114 FGO zwei Arten des einstweiligen Rechtsschutzes vor: AdV und einstweilige Anordnung, wobei die AdV vorrangig ist (§ 114 Abs. 5 FGO). Die Abgrenzung, auf welchem der beiden Wege einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren ist, erfolgt grundsätzlich danach, welche Klage im Hauptsacheverfahren zu erheben ist: Ist zutreffende Klageart in der Hauptsache die Anfechtungsklage, wird einstweiliger Rechtsschutz durch AdV gewährt, bei allen anderen Klagearten ist grundsätzlich eine einstweilige Anordnung nach § 114 FGO zu beantragen (z.B. Gräber/Koch, FGO, 7. Auflage, § 69 FGO Rz. 5 und 33; Beermann/Gosch, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 16 und § 114 FGO Rz. 7; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 114 FGO Rz. 22; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 114 FGO Rz 8, alle m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH).

b) Zutreffende Klageart für das Begehren der Antragstellerin in der Hauptsache, das FA möge eine Zusammenveranlagung durchführen, ist auch dann, wenn –wie hier– das FA stattdessen eine Einzelveranlagung durchgeführt hat, die Verpflichtungsklage (z.B. BFH-Urteil vom 9. März 1973 VI R 396/70, BFHE 109, 44, BStBl II 1973, 487).

c) Gleichwohl ist im Streitfall der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz im Wege der AdV statthaft; denn der mit dem Einspruch angefochtene Einkommensteuerbescheid vom 17. Juni 2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2011 ist kein bloßer Bescheid über die Ablehnung der Zusammenveranlagung, der sich in einer Negation erschöpft, sondern als Einkommensteuerbescheid ein vollziehbarer Verwaltungsakt, durch den das FA von der Antragstellerin eine Geldleistung fordert (vgl. zu dieser Abgrenzung bei §§ 69, 114 FGO z.B. BFH-Beschlüsse vom 27. März 1991 I B 187/90, BFHE 164, 173, BStBl II 1991, 643, sowie vom 14. April 1987 GrS 2/85, BFHE 149, 493, BStBl II 1987, 637; siehe auch Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 114 FGO Rz 21; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 69 FGO Rz 236, 256, 271 f.; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz. 20, 24, 35).

2. Der Antrag ist auch begründet. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids, mit dem das FA konkludent eine Zusammenveranlagung abgelehnt hat, indem es eine Einzelveranlagung durchgeführt hat.

a) Nach § 69 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO soll auf Antrag eine Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ist der Verwaltungsakt –wie hier– schon vollzogen, kann das Gericht ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§ 69 Abs. 3 Satz 3 FGO).

b) Ernstliche Zweifel im Sinne dieser Vorschrift nimmt der BFH an, wenn sich bei summarischer Prüfung für und gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gesichtspunkte ergeben, die zu einer Unsicherheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Rechtsoder Tatfragen führen, und wenn die nicht fernliegende –ernstliche– Möglichkeit besteht, dass der Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren obsiegen wird (BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2009 III B 233/08, juris, m.w.N.). Dabei ist nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 20. Mai 1998 III B 9/98, BFHE 186, 236, BStBl II 1998, 721; vom 16. Juni 2004 I B 44/04, BFHE 206, 284, BStBl II 2004, 882). Es genügt, dass der Erfolg des Rechtsbehelfs ebenso wenig auszuschließen ist wie sein Misserfolg; ist die Rechtslage nicht eindeutig, ist im Regelfall die Vollziehung auszusetzen (BFH-Beschlüsse vom 13. Oktober 2009 VIII B 62/09, BFHE 226, 353, BStBl II 2010, 180; vom 25. November 2005 V B 75/05, BFHE 212, 176, BStBl II 2006, 484). Ernstliche Zweifel können danach z.B. bestehen, wenn die streitige Rechtsfrage höchstrichterlich noch nicht entschieden wurde und im Schrifttum oder in der Rechtsprechung der Finanzgerichte unterschiedliche Auffassungen vertreten werden (BFH-Beschlüsse vom 8. September 2009 II B 63/09, BFH/NV 2010, 68; vom 29. Juli 2009 XI B 24/09, BFHE 226, 449, BFH/NV 2009, 1567). Ist die Rechtslage nicht eindeutig, ist über die zu klärende Frage nicht im summarischen Verfahren der AdV zu entscheiden (z.B. BFH-Beschlüsse vom 9. August 2007 V B 96/07, BFHE 217, 319, BStBl II 2007, 850; vom 21. Juli 2009 II B 8/09, BFH/NV 2009, 1845; vom 25. August 2009 VI B 69/09, BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826; vom 19. Mai 2010 I B 191/09, BFHE 229, 322).

c) Vorliegend werden in der Rechtsprechung der Finanzgerichte zu der Frage, ob die Versagung der Zusammenveranlagung für eingetragene Lebenspartnerschaften verfassungsgemäß ist, derzeit unterschiedliche Auffassungen vertreten:

Beim BFH sind zu dieser Rechtsfrage die Revisionsverfahren III R 36/10, III R 103/07, III R 83/06, III R 14/05, III R 13/05, III R 12/05 und III R 11/05 anhängig, beim BVerfG die Verfassungsbeschwerden 2 BvR 288/07, 2 BvR 1981/06 und 2 BvR 909/06. Während alle Vorentscheidungen zu den anhängigen Hauptsacheverfahren damals regelmäßig eine Zusammenveranlagung abgelehnt haben, haben nunmehr mehrere Finanzgerichte im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung den gegenteiligen Standpunkt eingenommen. Der 3. Senat des Niedersächsischen FG hat durch Beschluss vom 15. Juni 2011 3 V 125/11 (juris) in einem vergleichbaren Fall Aussetzung der Vollziehung gewährt und die Beschwerde zugelassen (Aktenzeichen des BFH: III B 134/11). Der 10. Senat des Niedersächsischen FG teilt diese Auffassung (Beschluss vom 9. November 2010 10 V 309/10, DStRE 2011, 675). Weiter haben der 3. Senat des FG Nürnberg im Beschluss vom 16. August 2011 3 V 868/11 sowie der 9. Senat des hiesigen FG Baden-Württemberg im Beschluss vom 16. Mai 2011 9 V 1339/11 (Fundstelle zu beiden Beschlüssen im Schreiben der Klägerin vom 13. August 2011) ernstliche Zweifel bejaht. Auf den Beschluss des Einzelrichters des 13. Senats des Niedersächsischen FG vom 1. Dezember 2010 13 V 239/10 (juris) wird ergänzend hingewiesen.

Die in diesen Beschlüssen angemeldeten ernstlichen Zweifel werden zum Einen aus dem BVerfG-Beschluss vom 21. Juli 2010 1 BvR 2464/07 (BFH/NV 2010, 1985: Verfassungswidrigkeit der Benachteiligung von Lebenspartnerschaften bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer) sowie zum Anderen teilweise aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 10. Mai 2011 C-147/08 (NJW 2011, 2187: Unionsrechtswidrigkeit der Diskriminierung von Lebenspartnerschaften bei der Berechnung von Versorgungsbezügen durch Zugrundelegung der Steuerklasse I statt III) abgeleitet.

Die Frage, ob diese beiden neuen Entscheidungen des BVerfG und des EuGH zu ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der § 26 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) Anlass geben, ist höchstrichterlich nicht entschieden. Die BFH-Beschlüsse vom 23. Mai 2011 III B 211/10 (juris) und vom 8. Juni 2011 III B 210/10 (juris) haben die materielle Rechtsfrage aus anderen Gründen offen gelassen. Zuletzt hält auch der BFH die Rechtslage trotz seiner früheren Urteile für nicht endgültig geklärt (so schon BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2007 III B 25/07, BFH/NV 2008, 779).

d) Der Senat muss derzeit für die Annahme ernstlicher Zweifel nicht entscheiden, ob er selbst §§ 26 ff. EStG für verfassungswidrig hält. Für ihn genügt derzeit die Feststellung, dass in der Finanzgerichtsbarkeit zu dieser Rechtsfrage unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und über die Rechtsfrage unter Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH höchstrichterlich noch nicht entschieden wurde. Bereits dies genügt im derzeitigen Stadium für die Annahme ernstlicher Zweifel; über die Verfassungsmäßigkeit der §§ 26 ff. EStG ist im Hauptsachverfahren zu befinden.

3. Die Gewährung von AdV nicht auch nicht deshalb zu versagen, weil der Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes hinter ein öffentliches Interesse an einer geordneten Haushaltsführung zurücktreten müsste.

a) Im Falle von ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift ist nach bisheriger Rechtsprechung des BFH wegen des Geltungsanspruchs jedes verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich. Danach soll eine Interessenabwägung zwischen der einer AdV entgegenstehenden konkreten Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung und den für eine AdV sprechenden individuellen Interessen des Steuerpflichtigen geboten sein (z.B. BFH-Beschlüsse vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; vom 19. August 1994 X B 319/93, BFH/NV 1995, 143; vom 6. November 2001 II B 85/01, BFH/NV 2002, 508; vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; vom 5. April 2011 II B 153/10, BFHE 232, 380, BFH/NV 2011, 1082). Jedoch lassen mehrere Senate des BFH offen, ob sie dieser vom BVerfG bestätigten (BVerfG-Beschluss vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, HFR 1992, 726) Rechtsprechung noch folgen könnten (z.B. BFH-Beschlüsse vom 5. März 2001 IX B 90/00, BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405; vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367; vom 31. Januar 2007 VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914; vom 23. August 2007 VI B 42/07, BFHE 218, 558, BStBl II 2007, 799; vom 25. August 2009 VI B 69/09, BStBl II 2009, 826).

b) Der beschließende Senat lässt ebenfalls offen, ob er dieser Rechtsprechung folgen könnte. Er hat Zweifel an der Richtigkeit dieser Rechtsprechung, weil Art. 19 Abs. 4 GG auch effektiven vorläufigen Rechtsschutz garantiert und gerichtlicher Rechtsschutz in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfG-Beschluss vom 22. September 2009 1 BvR 1305/09, DStR 2009, 2146). Genau dies steht jedoch zu befürchten, wenn Fachgerichte dem Fiskus trotz ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift die auf der Norm beruhenden Steuereinnahmen durch Versagung von AdV „vorläufig” belassen, obwohl man ahnt oder weiß, dass der Fiskus die über mehrere Jahre an sich nur „vorläufig” vereinnahmte Steuer nicht ohne Gefährdung der geordneten Haushaltsführung des Rückzahlungsjahres wird wieder in einer Summe an die Steuerpflichtigen auskehren können, wenn das BVerfG zu der Auffassung gelangen sollte, die Norm sei verfassungswidrig. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls nicht auszuschließen, dass eine Versagung von AdV schlussendlich zu einer Weitergeltungsanordnung des BVerfG führt, die das BVerfG nicht ausgesprochen hätte, wenn die Fachgerichte zuvor AdV gewährt hätten. Zudem gefährdet die Versagung von AdV unter Berufung auf die geordnete Haushaltsführung des AdVJahres die geordnete Haushaltsführung des möglichen Rückzahlungsjahres.

c) Dies bedarf indes vorliegend keiner Entscheidung; denn hier ist schon gar nicht ersichtlich, dass durch die Gewährung von AdV das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung gefährdet ist.

aa) Zunächst einmal hat das FA eine konkrete Gefährdung der geordneten Haushaltsführung, die das (verfassungsrechtlich geschützte) Interesse der Antragstellerin an der Gewährung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes überwiegen könnte, weder konkret dargelegt noch nachgewiesen. Eine solche Gefährdung ist auch nicht sonst ersichtlich. Die Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte dürften erheblich geringer sein als z.B. im BFH-Beschluss in BFHE 218, 558, BStBl II 2007, 799 zur sog. „Entfernungspauschale”, bei der schon der BFH keine konkrete Gefährdung der Haushaltsführung gesehen und auch das BVerfG-Urteil vom 9. Dezember 2008 2 BvL 2/08 (BVerfGE 122, 210, BFH/NV 2009, 338) später keine Weitergeltungsanordnung ausgesprochen hat.

bb) Soweit das FA gleichwohl mutmaßt, das BVerfG werde bei Erfolg der Verfassungsbeschwerden 2 BvR 288/07, 2 BvR 1981/06 oder 2 BvR 909/06 eine Weitergeltungsanordnung erlassen und im AdV-Verfahren dürfe kein weitergehender Rechtsschutz gewährt werden, ist das FA zusätzlich darauf zu verweisen, dass das BVerfG im BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2010, 1985 dies gerade nicht getan, sondern wegen der vergleichsweise geringen Zahl eingetragener Lebenspartnerschaften eine rückwirkende Beseitigung der Diskriminierung bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer ab 2001 verlangt hat. Es steht aus Sicht des beschließenden Senats nicht zu erwarten, dass das BVerfG im gedachten Erfolgsfall der Verfassungsbeschwerden bei der Einkommensteuer anders verfahren würde als zuvor bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer.

d) Und zuletzt hat das EuGH-Urteil in NJW 2011, 2187 eine rückwirkende Beseitigung einer unionsrechtlich unzulässigen Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften (dort: ab Dezember 2003) verlangt, die letztlich auf der Beschränkung der Steuerklasse III auf verheiratete Arbeitnehmer (§ 38b Satz 2 Nr. 3 EStG) beruht. Für eine mögliche Unionsrechtswidrigkeit auch der § 26 ff. EStG, z.B. im Hinblick auf Art. 10 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), gilt die zitierte BFH-Rechtsprechung ohnehin nicht, weil nach der Rechtsprechung des EuGH die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einer Vorabentscheidung für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen des betreffenden Urteils rechtfertigen (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 17. Februar 2005 C-462/02 u.a., Linneweber und Akritidis, Slg 2005, I-1131, BFH/NV 2005, Beilage 2, 94, Randnr. 44; vom 3. Juni 2010 C-2/09, Kalinchev, HFR 2010, 880, Randnr. 50 ff., m.w.N.).

4. Der beantragten AdV stehen § 69 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO nicht entgegen, weil der Antrag von der Antragstellerin entsprechend begrenzt ist. Die Berechnung des Aufhebungsbetrages wird dem FA übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).

5. Die AdV wird ohne Sicherheitsleistung angeordnet, weil ein –vom FA darzulegendes (vgl. BFH-Beschluss vom 7. Mai 2008 IX S 26/07, BFH/NV 2008, 1498)– Sicherungsbedürfnis weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist.

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 3, § 137 FGO, von denen angesichts des geringen Streitwerts sowie des Umstands Gebrauch gemacht wird, dass das FA die Antragstellerin auf die betragsmäßige Unschlüssigkeit des Antrags trotz § 89 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung erst im gerichtlichen Verfahren hingewiesen hat.

7. Die Beschwerde wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und zur Fortbildung des Rechts zugelassen.

VorschriftenEStG § 26, FGO § 69, FGO § 114

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