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25.03.2011 · IWW-Abrufnummer 111016

Kammergericht Berlin: Beschluss vom 09.11.2010 – 6 U 103/10

Der Kausalitätsgegenbeweis gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG n. F. ist bei einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheit gemäß E.1.3. AKB durch Falschangaben des Versicherungsnehmers zur Laufleistung des gestohlenen Fahrzeugs dann geführt, wenn der Versicherer im Zeitpunkt seiner Entscheidung das Ergebnis der Schlüsselauslesung kannte und damit die Auswirkung der höheren Fahrleistung - Herabsetzung des Wiederbeschaffungswertes - ohne weiteres berücksichtigen konnte.


6 U 103/10

In dem Rechtsstreit

R # V A##### V###### AG ./. O## B###### GmbH

hat der 6. Zivilsenat des Kammergerichts in Berlin am 09. November 2010

b e s c h l o s s e n :

Tenor:
1. Die Beklagte wird darauf hingewiesen, dass beabsichtigt ist, ihre Berufung vom 16. September 2010 gegen das am 24. August 2010 verkündete und am 30. August 2010 zugestellte Urteil der Zivilkammer 43 des Landgerichts Berlin gem. § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen, weil der Senat nach Vorberatung einstimmig der Auffassung ist, dass das Rechtsmittel in der Sache keinen Erfolg hat (Nr. 1), der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt (Nr. 2) und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordern (Nr. 3).

Gründe
Zu Recht hat das Landgericht die Beklagte zur Zahlung von 40.336,13 € (Wiederbeschaffungswert des PKW BMW X 5 ohne Mehrwertsteuer) verurteilt.

Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung. Die Berufung der Beklagten, die diese Entscheidung ohnehin nur angreift, soweit das Ausgangsgericht eine Leistungsfreiheit der Beklagten gemäß § 28 Abs. 2 VVG wegen der Obliegenheitsverletzung des Geschäftsführers der Klägerin im Hinblick auf § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG verneint hat, lässt weder Rechtsfehler erkennen noch gibt sie konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen könnten (§§ 513, 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Entgegen der Ansicht der Beklagten sind vorliegend die Voraussetzungen des § 28 Abs. 3 S. 1 VVG erfüllt, so dass abweichend von § 28 Abs. 2 VVG eine Leistungsfreiheit wegen der festgestellten Verletzung der Aufklärungsobliegenheit - Angabe einer deutlich zu niedrigen Laufleistung im Fragebogen der Beklagten - tatsächlich nicht in Betracht kam. Nach dem vorgetragenen Akteninhalt war diese Falschangabe letztlich weder für die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich, da der Beklagten im Zeitpunkt ihrer Entscheidung (Ablehnungsschreiben vom 15.02.2010) das Ergebnis der Schlüsselauslesung (Gutachten W#### vom 08.12.2009) bereits bekannt war und sie damit die Auswirkung der höheren Fahrleistung - Herabsetzung des Wiederbeschaffungswertes - ohne weiteres berücksichtigen konnte.

Soweit die Beklagte meint, die Annahme des Landgerichts, der Kausalitätsgegenbeweis sei geführt, wenn - wie vorliegend - der Versicherer den "wahren Sachverhalt" noch rechtzeitig vor seiner Entscheidung erfahre oder sich die erforderlichen Erkenntnisse anderweitig verschaffen könne", verkehre die Aufklärungsobliegenheit in ihr Gegenteil und verwandele sie in ein Recht zur Lüge, vermag der Senat ihr nicht zu folgen.

Die Ausführungen des Ausgangsgerichts entsprechen im Hinblick auf das vorliegend anwendbare VVG 2008 vielmehr der geltenden Rechtslage. Mit der Neufassung des Versicherungsvertrags-gesetzes hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine Leistungsfreiheit des Versicherers wegen einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung nach Eintritt des Versicherungsfalls wesent-lich geändert. Unter der Geltung des § 6 Abs. 3 VVG a.F. war der Versicherer im Falle einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung seitens des Versicherungsnehmers regelmäßig von seiner Verpflichtung zur Leistung frei, selbst wenn die Verletzung im konkreten Einzelfall für den Versicherer folgenlos geblieben war, es sei denn, die Verletzung der Obliegenheit war als solche schon generell-abstrakt nicht geeignet, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden oder den Versicherungsnehmer traf subjektiv kein schweres Verschulden (std. Rspr. des BGH, vgl. Urteil vom 7.7.2004 - IV ZR 265/03 - VersR 2004, 1117, so genannte Relevanzrechtsprechung). Diese Rechtsprechung beruhte auf der Erwägung, die völlige Leistungsfreiheit des Versicherers und damit das Alles-oder-Nichts-Prinzip sei bei vorsätzlichen Obliegenheitsverletzungen, die folgenlos geblieben sind, eine zu harte "Strafe" für den Versicherungsnehmer, weil er - anders als bei grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzungen - den gesamten Versicherungsschutz in jedem Falle ohne Rücksicht darauf verlieren sollte, ob sein Verhalten überhaupt Nachteile für den Versicherer verursacht hat; das Alles-oder-Nichts-Prinzip wurde daher mit Rücksicht auf die Grundsätze von Treu und Glauben und der Verhältnismäßigkeit sowie die Gebote der materiellen Gerechtigkeit abgemildert (BGH VersR 1982, 742; Römer, in Römer/Langheid, VVG, 2. Auflage § 6 Rz. 53).

Nach dem eindeutigen Wortlaut der nunmehr geltenden Regelung in § 28 Abs. 3 VVG kommt dagegen, solange der Versicherungsnehmer nicht arglistig gehandelt hat, eine Leistungsfreiheit des Versicherers schon dann nicht mehr in Betracht, wenn die Verletzung der Obliegenheit im konkreten Fall für den Versicherer folgenlos geblieben ist. Damit aber stellt sich die von der Beklagten im Rahmen der Berufungsbegründung erneut aufgeworfene Frage, ob die Obliegenheitsverletzung der Klägerin vorliegend generell-abstrakt geeignet war, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden, nach neuem Recht gerade nicht mehr. Würde man für den Wegfall der Leistungsfreiheit die konkrete Folgenlosigkeit nicht ausreichen lassen, sondern - zugunsten des Versicherers - fordern, dass die Obliegenheitsverletzung schon generell nicht geeignet war, seine Interessen zu verletzen, so würde der Zweck der Relevanzrechtsprechung, die harte Sanktion der Leistungsfreiheit bei vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung abzumildern, in sein Gegenteil verkehrt.

Soweit die Begründung des Regierungsentwurfs zum neuen VVG vom 16. Juni 2006 - BT-Drucksache 16/3945, dort S. 69 - im Einleitungssatz darauf verweist, § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG lege in Anlehnung an die sog. Relevanzrechtsprechung des BGH für die Leistungsfreiheit nach Absatz 2 ein Kausalitätserfordernis fest, ist dies offensichtlich nur irreführend formuliert (vgl. dazu Heiss in Bruck/Möller, Versicherungsvertragsgesetz - Großkommentar, 9. Auflage § 28 Rdnr. 160 und Fn. 652; Maier, Die Leistungsfreiheit bei Obliegenheitsverletzungen nach dem Regierungsentwurf zur VVG-Reform, r+s 2007, 89, 91; Heß, Kausalitätsgegenbeweis und Arglist in der Kraftfahrtversicherung, NJW-Spezial 2010, 649) und bedeutet, dass der Gesetzgeber in Anlehnung und Weiterführung der Relevanzrechtsprechung die völlige Leistungsfreiheit des Versicherers durch die Neuregelung einschränken will. Dies ergibt sich aus der nachfolgenden weiteren Begründung zu § 28 Abs. 3 VVG, die vollständig lautet:

"In Anlehnung an die sog. Relevanzrechtsprechung des BGH legt Satz 1 für die Leistungsfreiheit nach Abs. 2 ein Kausalitätserfordernis fest. Der Versicherer ist nicht leistungsfrei, wenn und soweit die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht der Versicherers ursächlich ist. Dies erscheint sachlich gerechtfertigt, da der Versicherer keinen Nachteil erleidet, wenn der VN nachweist, dass seine Obliegenheitsverletzung irrelevant ist. Daher soll auch die bisherige Beschränkung des Kausalitätserfordernisses nach § 6 Abs. 3 Satz 2 VVG auf grob fahrlässige Verletzungen nach Eintritt des Versicherungsfalls entfallen. Etwas anderes gilt aus Gründen der Generalprävention nur bei Arglist des Versicherungsnehmers (Satz 2)."

Dass es trotz des eindeutigen Wortlauts des § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG dem Willen des Gesetz-gebers entspreche, eine Leistungsfreiheit auch schon bei abstrakter Gefährdung der Interessen des Versicherers durch die Obliegenheitsverletzung bestehen zu lassen, wird ersichtlich - und allein unter pauschaler Bezugnahme auf die in dem benannten Einleitungssatz der Begründung des Regierungsentwurfs erwähnte Relevanzrechtsprechung - nur von Langheid vertreten (vgl. Die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes 1. Teil, NJW 2007, 3665, 3669). Unabhängig davon, dass diese Auffassung mit dem Wortlaut des § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG nicht in Einklang zu bringen ist, widerspricht sie auch der diesem Einleitungssatz folgenden weiteren Begründung des Regierungsentwurfs. Bereits der nachfolgende Hinweis, ein Ausschluss der Leistungsfreiheit sei sachgerecht, wenn der Versicherungsnehmer nachweisen könne, dass seine Obliegenheitsver-letzung irrelevant sei, aber auch die Absichtserklärung, die vormals in § 6 Abs. 3 Satz 2 VVG a.F. geregelte Beschränkung des (konkreten) Kausalitätserfordernisses auf die Fälle grob fahrlässig erfolgter Obliegenheitsverletzungen solle entfallen, machen vielmehr - zumal die Relevanzrechtsprechung des BGH im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 3 Satz 2 VVG a.F. keine Bedeutung hatte - deutlich, dass der Gesetzgeber die Leistungsfreiheit des Versicherers nach § 28 Abs. 2 VVG über Abs. 3 Satz 1 auf die Fälle beschränken wollte, in denen der nicht arglistig handelnde Versicherungsnehmer den Nachweis, dass seine Verletzung im konkreten Fall ohne Folgen geblieben ist, nicht zu führen vermag, (vgl. LG Dortmund Schaden-Praxis 2010, 332-333 mit Anmerkung Maier in jurisPR-VersR 6/2010 Anm.3; Marlow in Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt, 4. Auflage Rdnr. 359; Wandt in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, Band 1 § 28 Rdnr. 274; Prölss in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 28. Auflage § 28 Rdnr. 149; Pohlmann in Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, § 28 Rdnr. 37-38; Felsch in Rüffer/Halbach/Schimikowski, Versicherungsvertragsgesetz, § 28 Rdnr. 55-59; Hamann, Änderungen im Obliegenheitsrecht, VersR 2010, 1145; Heiss aaO.).

Soweit die Beklagte ihre Ansicht, für das Kausalitätserfordernis müsse bereits eine abstrakte Gefährdung ihrer Interessen ausreichen, schließlich damit zu begründen sucht, dass sich der Versicherer ansonsten stets nur auf Leistungsfreiheit berufen könne, wenn er zuvor seine Leistung an den Versicherungsnehmer erbracht habe, kann der Senat ihr in dieser Allgemeinheit nicht folgen.

Richtig ist zwar, dass es über § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG nach der dargestellten h.M. bei einer Leistungspflicht des Versicherers verbleibt, wenn er bereits vor seiner Regulierungsentscheidung erkennt, dass der nicht arglistig handelnde Versicherungsnehmer falsche Angaben, z.B. zur Laufleistung oder in Bezug auf Vorschäden gemacht hat, weil die Obliegenheitsverletzung dann folgenlos geblieben ist (vgl. dazu Meixner, Das neue Versicherungsvertragsrecht 2008, Rdnr. 332). Dies gilt aber nur insoweit, als die Verletzung der Obliegenheit vor der Regulierung des Versicherungsfalls noch keine anderen nachteiligen Folgen für den Versicherer verursacht hatte. Verletzt z.B. der Versicherungsnehmer seine Anzeige- oder Weisungsobliegenheit, so kann dies im Einzelfall durchaus schon vor und unabhängig von der Leistung durch den Versicherer Folgen im Zusammenhang mit der Feststellung seiner Leistungspflicht oder ihres Umfangs haben. Das Gleiche gilt bei der Verletzung von Aufklärungsobliegenheiten, wenn beispielsweise durch das Nachholen der Obliegenheit ihr Zweck nicht mehr erreicht werden könnte, weil ein Beweismittel verloren gegangen ist (vgl. BGH VersR 2004 aaO.).

Auch die weiteren Voraussetzungen für eine Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO sind erfüllt. Der Rechtssache kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu (§ 522 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts (§ 522 Abs. 2 Nr. 3 ZPO).

2. Der Beklagten wird Gelegenheit gegeben, binnen dreier Wochen ab Zugang dieses Beschlusses Stellung zu nehmen. Sie wird darauf hingewiesen, dass sich im Falle der Berufungsrücknahme die Gerichtskosten auf die Hälfte reduzieren würden (vgl. KV 1222 zum GKG, dort Anlage 2).

RechtsgebietVVGVorschriften§ 28 Abs. 2 VVG § 28 Abs. 3 S. 1 VVG

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