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04.05.2021 · IWW-Abrufnummer 222132

Finanzgericht Münster: Urteil vom 04.02.2021 – 10 K 1672/19 U

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Finanzgericht Münster, 10 K 1672/19 U

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Streitig ist, ob der Beklagte (Finanzamt --FA--) den Kläger zu Recht wegen rückständiger Umsatzsteuerschulden der A GmbH i.L. (A-GmbH) für die Jahre 2014 und 2015 in Haftung genommen hat.

2

Der Kläger war in den Streitjahren alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer der im Jahr 2010 gegründeten und in B ansässigen A-GmbH. Gegenstand des Unternehmens der A-GmbH waren laut Eintragung im Handelsregister der Großhandel mit Lebensmitteln und Waren aller Art sowie alle damit im Zusammenhang stehenden Geschäfte und Dienstleistungen. In einem Zwischenbericht des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung C (STRAFA-FA) über die steuerlichen Feststellungen bei der A-GmbH vom 23.3.2016 heißt es, die A-GmbH sei nach ihrer eigenen Außendarstellung im fraglichen Zeitraum tatsächlich lediglich beratend und vermittelnd tätig geworden und habe sich nicht als Handelsunternehmen präsentiert.

3

Laut den Ermittlungen des STRAFA-FA war die A-GmbH in den Jahren 2014 und 2015 als sog. „buffer“ Bestandteil eines Umsatzsteuerkarussells über innergemeinschaftliche Reihengeschäfte mit vermeintlichen Lieferungen von der ebenfalls in B ansässigen D GmbH an die A-GmbH und von dieser wiederum an die in den Niederlanden ansässige E B.V. Die D GmbH war als Groß- und Einzelhändler tätig und belieferte insbesondere Einzelhandelsbetriebe, wie zum Beispiel Kioske/Trinkhallen und Getränkeläden. Sie wurde durch ihren Geschäftsführer, Herrn F vertreten. Als weiterer Mitarbeiter bei der D GmbH war Herr G an den vorliegend in Rede stehenden Geschäften beteiligt. Die E B.V. wurde durch ihren Geschäftsführer, Herrn H, vertreten. Gegenstand der hier in Rede stehenden vermeintlichen Lieferungen waren vor allem Verpackungsmaterialien (… etc.) sowie zum Teil auch Getränke (… etc.).

4

Die D GmbH stellte der A-GmbH im Zeitraum von Februar 2014 bis Juli 2015 Rechnungen mit Ausweis der Umsatzsteuer über Nettobeträge i.H.v. insgesamt EUR … (EUR …brutto) aus, aus denen die A-GmbH gegenüber dem FA einen Vorsteuerabzug i.H.v. insgesamt EUR …geltend machte. Die A-GmbH stellte im gleichen Zeitraum wiederum der E B.V. Rechnungen über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen ohne Ausweis von Umsatzsteuer i.H.v. insgesamt EUR …aus. Laut den Ermittlungen des STRAFA-FA hätten den vorgenannten Rechnungen tatsächlich keine Lieferungen zugrunde gelegen. Die verkauften Waren hätten nicht existiert und seien nicht zur E B.V. verbracht worden. Stattdessen seien Leertransporte durch beauftragte Spediteure durchgeführt worden, um tatsächliche Lieferungen vorzutäuschen. Es seien jedoch jeweils Zahlungen auf die Rechnungen vorgenommen worden.

5

Im Zwischenbericht vom 23.3.2016 vertrat das STRAFA-FA die Auffassung, dass bei der A-GmbH der Vorsteuerabzug i.H. der geltend gemachten EUR … zu versagen sei, da ein Leistungsaustausch tatsächlich nicht stattgefunden habe. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Zwischenbericht des STRAFA-FA vom 23.3.2016 Bezug genommen.

6

Das FA folgte der Beurteilung des STRAFA-FA und erließ gegenüber der A-GmbH ‒ gestützt auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) ‒ am 13.7.2016 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2014 sowie mit Datum vom 30.8.2016 geänderte Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide für Januar bis Mai 2015. Hieraus ergaben sich Rückzahlungsbeträge i.H.v. insgesamt EUR … (für 2014: EUR … zzgl. Zinsen i.H.v. EUR …; für Januar 2015: EUR …, für Februar 2015: EUR …, für März 2015: EUR …, für April 2015: EUR … sowie für Mai 2015: EUR …).

7

Gegen diese Bescheide legte die A-GmbH Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens stellte die A-GmbH einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) beim Finanzgericht Münster, der dort unter dem Aktenzeichen 5 V 3846/16 geführt wurde. Mit Beschluss vom 2.5.2017 lehnte das Finanzgericht Münster den AdV-Antrag als unbegründet ab. Hierzu führte es u.a. aus, die zwischen der A-GmbH und der E B.V. vereinbarten und abgerechneten Lieferungen seien allesamt nur fingiert worden und tatsächlich nicht erfolgt. Selbst wenn die vom EuGH aufgebrachten und von der A-GmbH geltend gemachten Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes im Rahmen des Umsatzsteuerfestsetzungsverfahrens und in der Konstellation des Streitfalls, in welcher es bereits an tatsächlichen Lieferungen fehle, zu berücksichtigen sein sollten, würden diese im Streitfall nicht eingreifen. Die A-GmbH bzw. der für sie als Geschäftsführer handelnde Antragsteller sei nicht gutgläubig gewesen. Es seien für ihn hinreichende Verdachtsmomente erkennbar gewesen, so dass er jedenfalls hätte wissen müssen, dass die Lieferungen tatsächlich nicht stattgefunden haben. Hierzu heißt es in dem Beschluss, die A-GmbH habe selbst ausgeführt, dass sie in den letzten Jahren nahezu ausschließlich beratend tätig gewesen sei und dementsprechend ihre praktische Erfahrung in Bezug auf die Abwicklung von Exportgeschäften im innergemeinschaftlichen Reihengeschäft gering gewesen sei. Dass Herr F gleichwohl dem Antragsteller als Geschäftsführer die Reihengeschäfte vorgeschlagen habe, weil er sich nicht getraut habe, die Auslandsgeschäfte selbst abzuwickeln, erscheine nicht nachvollziehbar. Die A-GmbH habe auch kein eigenes Kundennetz aufgebaut und nicht einmal ansatzweise Bemühungen hierzu vorgetragen oder glaubhaft gemacht. Vielmehr seien dem Antragsteller als Geschäftsführer der A-GmbH alle wesentlichen Vertragsgrundlagen (Einkaufspreis, Verkaufspreis, Menge) von Herrn F vorgegeben und die angeblichen Lieferungen unmittelbar bei der D GmbH abgeholt worden. Zwar habe der Antragsteller das Transportunternehmen für jede Fracht beauftragt, jedoch habe er nicht einmal ansatzweise Überprüfungen vorgenommen oder sich durch Rückfragen beim Transportunternehmen rückversichert, dass die Lieferungen jeweils so, wie in Rechnung gestellt, tatsächlich durchgeführt worden seien. Bei einer entsprechenden Überprüfung hätte er unschwer die tatsächlichen Leerfahrten ohne Beladung bei der D GmbH und ohne entsprechende Entladung bei der E B.V. erkennen können. Auch angesichts des Umsatzvolumens und des Umstands, dass die A-GmbH vorher im Handelsgeschäft nicht engagiert war und mit offensichtlich fadenscheinigen Argumenten als Zwischenhändlerin eingebunden werden sollte, hätten sich hinreichende Verdachtsmomente für die A-GmbH bzw. den Antragsteller als ihrem Geschäftsführer ergeben, dem tatsächlichen Geschehensablauf näher auf den Grund zu gehen und dies zumindest stichprobenhaft selbst zu prüfen und sich nicht nur auf die Aussagen von Herrn F zu verlassen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 2.5.2017 zum Verfahren 5 V 3846/16 Bezug genommen.

8

Das STRAFA-FA und ihm folgend das FA vertraten des Weiteren die Auffassung, die von der A-GmbH an die D GmbH gezahlten Beträge seien verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) der A-GmbH an den Kläger. Die von der E B.V. an die A-GmbH gezahlten Beträge seien wiederum als verdeckte Einlagen des Klägers in diese anzusehen. Diese Beurteilung stützte das STRAFA-FA bzw. das FA darauf, dass von einem kollusiven Zusammenwirken zwischen den beteiligten Personen (Herrn F, Herrn H und dem Kläger) auszugehen sei. Daher sei die D GmbH als der A-GmbH „nahestehende Person“ anzusehen. Die Zahlungen der D GmbH an die A-GmbH seien durch das Gesellschaftsverhältnis der A-GmbH mit dem Kläger veranlasst gewesen. Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung des Klägers setzte das FA die vorgenannten vGA als Einkünfte aus Kapitalvermögen gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an. Gegen den entsprechenden Änderungsbescheid zur Einkommensteuer legte der Kläger Einspruch ein und stellte beim Finanzgericht Münster einen AdV-Antrag, welcher beim erkennenden Senat unter dem Aktenzeichen 10 V 2337/17 geführt wurde. Mit Beschluss vom 7.12.2017 wurde die beantragte AdV gewährt. Hierzu führte der Senat in seinem Beschluss aus, es bestünden ernstliche Zweifel, ob dem Antragsteller positiv bekannt gewesen sei, dass den abgerechneten Lieferungen keine tatsächlichen Leistungen zugrunde lagen. Der Antragsteller bestreite das und sowohl Herr F als Geschäftsführer als auch Herr G als Einkaufsleiter der D GmbH hätten ausgesagt, sie hätten dem Antragsteller nicht gesagt, dass es sich um Scheingeschäfte gehandelt habe. Wenn der Antragsteller tatsächlich nichts davon gewusst habe, dass es sich um Scheingeschäfte gehandelt habe, könne aber nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller mit den anderen beteiligten Personen kollusiv zusammengewirkt habe und die Zahlungen an die D GmbH durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst gewesen seien. Jedenfalls könne einem Gesellschafter keine vGA als Einnahme nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zugerechnet werden, wenn er von einer Begünstigung einer ihm angeblich nahestehenden Person durch seine GmbH keine Kenntnis gehabt habe. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Beschluss vom 7.12.2017 zum Verfahren 10 V 2337/17 Bezug genommen.

9

Das Amtsgericht B eröffnete aufgrund eines Antrags vom 29.5.2017 mit Beschluss vom 1.8.2017 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A-GmbH (Aktenzeichen … IN …/17), welches bislang noch nicht abgeschlossen ist.

10

Das FA hörte den Kläger mit Schreiben vom 12.5.2017 dazu an, dass es beabsichtige, ihn für die o.g. Rückzahlungsbeträge zuzüglich der angefallenen Säumniszuschläge nach § 69 AO in Haftung zu nehmen. In der Folge erließ es unter dem Datum vom 10.7.2017 und gestützt auf § 69 AO einen Haftungsbescheid, mit dem es den Kläger i.H. eines Betrags von EUR … in Haftung nahm. Dieser Betrag umfasste die o.g. Rückzahlungsbeträge, wobei für die Umsatzsteuer 2014 aufgrund einer Zubuchung i.H.v. EUR … ein auf EUR … verminderter Betrag angesetzt wurde. Zusammen ergab sich für die Umsatzsteuern 2014 und 2015 ein Gesamtbetrag i.H.v. EUR …. Hinzu kamen Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 i.H.v. EUR … sowie Säumniszuschläge bis zum 29.5.2017 i.H.v. insgesamt EUR …. Die einzelnen Beträge ergaben sich aus einer als Bestandteil zum vorgenannten Haftungsbescheid genommenen Anlage. Zur Begründung führte das FA im Haftungsbescheid aus, der Kläger habe als Geschäftsführer der A-GmbH für den fraglichen Zeitraum falsche Umsatzsteuervoranmeldungen und eine falsche Umsatzsteuerjahreserklärung für 2014 abgegeben. Dies habe der Kläger auch schuldhaft i.S.v. § 69 AO getan. Er habe sich auf die von Herrn F vorgeschlagenen Reihengeschäfte eingelassen, ohne hinreichend zu überprüfen, ob die von diesem vorgegebenen Lieferungen tatsächlich durchgeführt wurden. Angesichts der Größenordnung der vereinnahmten Vorsteuerüberhänge hätte er den Geschäftsablauf näher überprüfen müssen. Die Haftungssumme sei nicht aufgrund des Grundsatzes der anteiligen Tilgung zu vermindern. Dieser sei in der vorliegenden Konstellation der Auszahlung unberechtigter Vorsteuerüberhänge nicht anzuwenden. Die Inanspruchnahme als Haftungsschuldner sei ermessensgerecht, da eine Inanspruchnahme der A-GmbH ohne Erfolg geblieben sei. Es werde nur der Kläger zur Haftung herangezogen, weil sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass neben dem Kläger noch weitere Personen die steuerlichen Pflichten der GmbH zu erfüllen hatten.

11

Der Kläger legte gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein. Zusammen mit seinem Einspruch beantragte der Kläger AdV ohne Festsetzung einer Sicherheitsleistung. Das FA lehnte den Antrag mit Schreiben vom 25.7.2017 ab. Während des Einspruchsverfahrens stellte der Kläger beim Finanzgericht Münster einen Antrag auf AdV des vorgenannten Haftungsbescheids, welcher beim erkennenden Senat unter dem Aktenzeichen 10 V 2733/18 U geführt wurde. Diesen Antrag lehnte der Senat mit Beschluss vom 26.2.2019 als unbegründet ab. Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Rahmen des Einspruchsverfahrens, des vorgenannten AdV-Verfahrens und wegen der Begründung des vorgenannten Beschlusses durch den Senat wird auf den Beschluss vom 26.2.2019 zum Verfahren 10 V 2733/18 U Bezug genommen.

12

In der Folge des vorgenannten AdV-Beschlusses vom 26.2.2019 reichte der Kläger beim FA ergänzend den Beschluss der Staatsanwaltschaft C vom 18.3.2019 ein, mit welchem das gegen ihn geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt wurde.

13

Mit Einspruchsentscheidung vom 21.5.2019 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Die Begründung entsprach im Wesentlichen dem o.g. Beschluss des Senats über die AdV vom 26.2.2019 (10 V 2733/18 U).

14

Hiergegen erhob der Kläger Klage beim Finanzgericht Münster. Zugleich beantragte der Kläger eine AdV durch das Gericht gem. § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Mit Beschluss vom 27.11.2019, auf den wegen der weiteren Einzelheiten sowie dessen Begründung Bezug genommen wird, hat der Senat den Antrag auf AdV als unbegründet abgelehnt (10 V 1673/19 U). Das Vorbringen des Klägers im Aussetzungsverfahren sowie in dem vorliegenden Klageverfahren entspricht im Wesentlichen dem, was er bereits in den o.g. AdV-Verfahren und im Einspruchsverfahren vorgetragen hat. Im Einzelnen:

15

Der Kläger sei 22 Jahre lang als Prokurist für Finanzen und Organisation bei der Firma J in B tätig gewesen und dann im Jahre 2010 dort ausgeschieden, um die A-GmbH aufzubauen. Aus der Zeit bei der Firma J habe er Herrn F gekannt bzw. er habe ihn dann näher kennen gelernt. Herr F habe im Winter 2013/2014 Kontakt zum Kläger aufgenommen, um ihm die in Rede stehenden Geschäfte, also den Einkauf bei der D GmbH und die Weiterlieferung an die E B.V. in den Niederlanden anzutragen. Aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergebe sich, dass der Kläger keine Kenntnis darüber gehabt habe, dass er bzw. die A-GmbH in ein Umsatzsteuerkarussell eingeschaltet worden sei. Der Kläger habe zudem Erkundigungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der D GmbH eingeholt. Er habe sich die Jahresabschlüsse der D GmbH zeigen lassen und sich an deren Geschäftssitz über die dortigen Verhältnisse informiert. Nach Aufnahme der Lieferbeziehungen im Februar 2014 hätten sich aus Sicht des Klägers keine Verdachtsmomente ergeben, dass tatsächlich nur Scheinlieferungen getätigt worden seien. Der Kläger habe sich vergewissert, dass die E B.V. umsatzsteuerlich ordnungsgemäß registriert gewesen sei. Die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-IdNr.) der E B.V. sei durch das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) bestätigt worden. Er habe zudem eine Mitarbeiterin der A-GmbH veranlasst, die Fortgeltung der USt-IdNr. regelmäßig zu überwachen. Des Weiteren habe der Kläger nach Aufnahme der Lieferbeziehungen einmal am Geschäftssitz der D GmbH die Verladung der für die E B.V. bestimmten Waren beobachtet. Weitere Kontrollen habe er nicht als erforderlich angesehen, weil ihm der Geschäftsführer der E B.V., Herr H, immer wieder die ordnungsgemäße Ablieferung der bestellten Waren bestätigt habe. Es gebe im kaufmännischen Geschäftsverkehr auch keine allgemeine Üblichkeit oder Usance, dass sich ein Zwischenlieferant bei Streckenliefergeschäften über einen (dritten) Spediteur regelmäßig davon überzeuge, dass die Waren tatsächlich geliefert würden. Der Kläger habe für eine ordnungsgemäße umsatzsteuerliche Veranlagung der Streckenliefergeschäfte Sorge getragen und habe dem FA gegenüber auch deutlich gemacht, dass die A-GmbH Streckengeschäfte tätige, bei denen sie die Waren von einem Spediteur bei der D GmbH abholen und direkt an die E B.V. habe liefern lassen. Der Kläger habe sich auf seinen ausdrücklichen Wunsch von der Staatsanwaltschaft vernehmen lassen. Die Staatsanwaltschaft sei davon überzeugt gewesen, dass der Kläger keine positive Kenntnis von dem Umsatzsteuerkarussell gehabt habe. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn habe die Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, und zwar mit Beschlüssen vom 14.6.2017 (Vorwurf der Hinterziehung von Körperschaft-, Gewerbe- und Einkommensteuer) und vom 18.3.2019 (Vorwurf der Steuerhinterziehung [allg.]).

16

Der Kläger hat für seine vorgenannten Ausführungen bzw. die darin enthaltenen tatsächlichen Schilderungen mehrere Beweisanträge in Form der Vernehmung von ihm benannter Zeugen sowie durch Sachverständigengutachten gestellt. Des Weiteren hat er mehrere Unterlagen eingereicht. Wegen der weiteren Einzelheiten zu den Ausführungen des Klägers, zu den von ihm gestellten Beweisanträgen und zu den von ihm eingereichten Unterlagen wird auf die Klagebegründung vom 18.7.2019 samt Anlagen Bezug genommen.

17

Auf der Grundlage seiner o.g. Ausführungen macht der Kläger geltend, er habe bei der Organisation der Streckengeschäfte nicht grob fahrlässig i.S.v. § 69 Satz 1 AO gehandelt. Angesichts des positiven Leumunds der D GmbH habe für ihn objektiv kein Anlass bestanden, an der Seriosität und Ernsthaftigkeit der ihm von Herrn F angetragenen Geschäftsbeziehung zu zweifeln oder misstrauisch zu sein. Hierzu führt der Kläger seine langjährige Bekanntschaft mit Herrn F, die erfolgreiche langjährige Geschäftsverbindung der D GmbH mit der Firma J und den außerordentlichen wirtschaftlichen Erfolg der D GmbH an. Vor diesem Hintergrund habe der Kläger nicht davon ausgehen müssen, von Herrn F in ein Umsatzsteuerkarussell gelockt zu werden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass dem Kläger bekannt gewesen sei, dass die D GmbH Schwierigkeiten bei der umsatzsteuerlichen Veranlagung gehabt habe. Zum einen gebe es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass derjenige, der sich über seine steuerliche Veranlagung mit dem Finanzamt streite, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als der Durchschnittsbürger ein Steuerbetrüger sei. Zum anderen sei die richtige und angemessene Vorsichtsmaßnahme für den Kläger gewesen, in besonderer Weise auf eine ordnungsgemäße Handhabung der umsatzsteuerlichen Erklärungen zu achten und für eine korrekte umsatzsteuerliche Veranlagung Sorge zu tragen. Angesichts dessen, dass der Kläger sich zu Beginn der Geschäftsbeziehung einmal von der tatsächlichen Auslieferung der Waren am Standort der D GmbH überzeugt habe und sich in der Folge die ordnungsgemäße Auslieferung vom Geschäftsführer der E B.V. habe bestätigen lassen, habe für ihn objektiv kein Anhaltspunkt für die Vermutung bestanden, dass die Streckengeschäfte nur Scheingeschäfte gewesen wären.

18

Darüber hinaus sei dem FA spätestens seit September 2014 bekannt gewesen, dass die A-GmbH in ein Umsatzsteuerkarussell eingebunden gewesen sei. Die Steuerfahndung habe am 9.9.2014 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der banden- und gewerbsmäßigen Steuerhinterziehung eingeleitet. Das FA sei auch darüber informiert worden, dass das STRAFA-FA am 17.11.2014 eine Fahndungsprüfung nach § 208 Abs. 1 AO gegen die A-GmbH eingeleitet hat. Gleichwohl habe sich das FA die Grundlagen der vorangemeldeten Vorsteuern regelmäßig darlegen lassen und habe der A-GmbH bis Juli 2015 die vorangemeldeten Vorsteuerbeträge aus den Lieferbeziehungen zur D GmbH erstattet. Grund für dieses Zuwarten seien ermittlungstaktische Gründe gewesen. Die Steuerfahndung bzw. das FA habe an die Hintermänner herankommen wollen. Dass die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug tatsächlich nicht vorlagen, sei dem FA aber bereits bekannt gewesen. Hieraus ergebe sich ein erhebliches Mitverschulden des FA. Das FA könne aus diesem Grund den Kläger allenfalls in verminderter Höhe oder auch gar nicht nach § 69 AO in Haftung nehmen. Im Rahmen der Haftung nach § 69 AO sei der in § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zum Ausdruck kommende allgemeine Rechtsgrundsatz so anzuwenden, dass er im Rahmen der dort erforderlichen Ermessensausübung zu berücksichtigen sei. Dieser Rechtsgrundsatz könne hier zu einer Verminderung der Haftungsquote oder sogar zu einem vollständigen Entfallen der Haftung führen (unter Hinweis auf BFH-Urteil vom 11.8.1978 ‒ VI R 169/75, BStBl. II 1978, 683; BFH-Beschlüsse vom 2.11.2001 ‒ VII B 75/01, BFH/NV 2002, 310; vom 28.8.1990 ‒ VII S 9/90, BFH/NV 1991, 290; vom 11.5.2000 ‒ VII B 217/99, BFH/NV 2000, 1442). Vorliegend habe das FA den Kläger über einen Zeitraum von 12 Monaten in sein steuerliches Verderben laufen lassen. Da der Kläger sich nicht einer Steuerhinterziehung schuldig gemacht habe, komme dem Fehlverhalten des FA ein solch erhebliches Ausmaß zu, dass demgegenüber das haftungsrechtliche Verschulden des Klägers nicht mehr entscheidend ins Gewicht falle.

19

Schließlich umfasse der Haftungsbescheid auch Säumniszuschläge i.H.v. EUR …. Eine Haftung für Säumniszuschläge scheide vorliegend jedoch aus. Im Rahmen der Haftung sei nämlich zu berücksichtigen, dass die Säumniszuschläge nach § 227 AO zu erlassen seien. Ein solcher Erlass von Säumniszuschlägen sei nach der Rechtsprechung dann auszusprechen, wenn ‒ wie im Streitfall ‒ der Steuerpflichtige die Steuerschulden wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit nicht mehr zahlen könne und die Säumniszuschläge daher ihren Sinn verlören, Druck auszuüben.

20

Während des vorliegenden Klageverfahrens hat das FA unter dem Datum vom 8.6.2020 den ursprünglichen Haftungsbescheid vom 10.7.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 31.5.2019 gemäß § 130 AO geändert, und zwar aufgrund von zu berücksichtigenden Drittschuldnerzahlungen und Umbuchungen auf die zugrunde liegende Umsatzsteuersteuerschuld 2014. Mit dem geänderten Haftungsbescheid hat es die Haftungssumme auf insgesamt EUR … reduziert. Die genaue Zusammensetzung des Haftungsbetrags ergibt sich aus der Anlage zum vorgenannten geänderten Bescheid. Auf den geänderten Haftungsbescheid vom 8.6.2020 wird samt Anlage Bezug genommen.

21

Der Kläger beantragt,

22

den Haftungsbescheid wegen Umsatzsteuerschulden der A GmbH i.L. für 2014 und 2015 vom 10.7.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.5.2019, zuletzt geändert durch Bescheid vom 8.6.2020, aufzuheben.

23

Das FA beantragt,

24

die Klage abzuweisen.

25

Das FA ist der Auffassung, der Kläger habe zumindest grob fahrlässig i.S.v. § 69 Satz 1 AO gehandelt. Vorliegend habe es sich nicht um normale Handelsgeschäfte gehandelt. Vielmehr seien die Geschäfte derart ungewöhnlich gewesen, dass der Kläger die Verpflichtung gehabt habe, zu überprüfen, ob sie ordnungsgemäß abgewickelt wurden. Das hätte sich dem Kläger aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen aufdrängen müssen. Die übrigen beteiligten Personen hätten dem Kläger die Zwischenschaltung der A-GmbH vorgeschlagen, obwohl die D GmbH und die E B.V. in unmittelbarem Kontakt gestanden hätten, was dem Kläger auch bekannt gewesen sei. Die Verantwortlichen der D GmbH hätten dem Kläger bzw. der A-GmbH die dem Kläger vorher nicht bekannte E B.V. als Kunden sowie die weiterzuliefernden Warengruppen und Mengen vorgegeben. Alle Anweisungen an den Spediteur seien von den Verantwortlichen der D GmbH vorgegeben worden. Der Kläger sei sich aber bewusst gewesen, dass aus umsatzsteuerlichen Gründen (innergemeinschaftliche Lieferungen) er den Spediteur hätte beauftragen müssen, weshalb er auf eine entsprechende Fassung der CMR-Frachtpapiere hingewirkt habe. Bei einer ordnungsgemäßen Abwicklung hätte er aber auch tatsächlich selbst den Spediteur beauftragen müssen. Die tatsächliche Handhabung durch die D GmbH hätte ihn stutzig machen müssen. Es sei auch davon auszugehen, dass der Kläger kein Ausfallrisiko für den Weiterverkauf an die E B.V. getragen habe. Der Kläger bzw. die A-GmbH habe bei jedem Geschäft eine Marge von ca. 1 % bis 1,5 % des Nettoverkaufspreises der D GmbH verdient. Nach seinen eigenen Angaben seien das ca. … EUR pro Lieferung gewesen. Ein Handelsgeschäft, bei dem der Verkauf durch den Lieferanten vorgegeben wird und der Zwischenhändler kein wirtschaftliches Risiko trage, allenfalls die Umsatzsteuer vorfinanziere und dennoch … EUR pro Lieferung verdiene, sei im allgemeinen Wirtschaftsverkehr nicht denkbar. Das hätte auch dem Kläger auffallen müssen. Zudem sei es tatsächlich gar nicht zu einer Vorfinanzierung der Umsatzsteuer durch die A-GmbH gekommen. Diese habe auf die Rechnungen der D GmbH erst dann gezahlt, wenn ausreichend Geld von der E B.V. bzw. vom FA bei ihr eingegangen war. Bei der Frage der groben Fahrlässigkeit sei zudem zu berücksichtigen, dass der Kläger gelernter Handelsfach- und Betriebswirt sei und 22 Jahre lang bei der Firma J seine einschlägige Tätigkeit ausgeübt habe, zuletzt als Prokurist für Finanzen und Organisation. Es sei davon auszugehen, dass er dort umfangreiche Erfahrungen über die Anbahnung und Durchführung ordnungsgemäßer Handelsgeschäfte gesammelt habe.

26

Zu dem vom Kläger geltend gemachten Mitverschulden des FA entgegnet dieses, nach der vom Kläger angeführten Rechtsprechung sei ein Verschulden des FA im Rahmen der Ermessensausübung für eine Haftungsinanspruchnahme nur dann zu berücksichtigen, wenn das Verschulden des FA besonders schwer ins Gewicht falle und das Verschulden des in Anspruch genommenen Geschäftsführers gering sei. Vorliegend könne jedoch nicht von einem nur geringen Verschulden des Klägers ausgegangen werden.

27

Die Haftung für die Säumniszuschläge folge aus § 69 Satz 2 AO. Die Säumniszuschläge seien für den Haftungsbescheid nur bis zum Zeitpunkt des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens der A-GmbH (also bis zum …2017) einbezogen worden.

28

Unter dem Datum vom 3.3.2020 hat der Kläger eine Petition eingereicht (Petition-Nr.: …). Mit Beschluss des Petitionsausschusses vom 8.9.2020 hat dieser entschieden, dass keine Möglichkeit bestehe, im Sinne der Petition weiter tätig zu werden.

29

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die wechselseitig ausgetauschten Schriftsätze samt Anlagen sowie die dem Gericht übermittelten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

30

Die Klage ist unbegründet. Der angefochtene Haftungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FA hat den Kläger zu Recht für die Umsatzsteuerschulden der A-GmbH aus den Jahren 2014 und 2015 nebst steuerlicher Nebenleistungen gem. § 191 i.V.m. §§ 69, 34 AO in Haftung genommen.

31

I. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. statt vieler BFH-Urteil vom 20.9.2016 ‒ X R 36/15, BFH/NV 2017, 593 m.w.N.; vgl. auch FG Düsseldorf, Urteil vom 29.10.2019 ‒ 10 K 1908/15 H, EFG 2020, 151; FG Münster, Urteil vom 14.5.2020 ‒ 5 K 256/18 U, juris). Auf der ersten Stufe ist zu ermitteln, ob in der Person, die das FA zur Haftung heranzuziehen beabsichtigt, die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Haftungsnorm erfüllt sind. Hierbei handelt es sich um eine durch das Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich auf der zweiten Stufe die durch das Gericht lediglich in den Grenzen des § 102 FGO überprüfbare Ermessensentscheidung der Finanzbehörde an, ob und ggf. wen es als Haftenden in Anspruch nehmen will (Entschließungs- und Auswahlermessen).

32

1. Nach § 69 Satz 1 AO haften u.a. die in § 34 AO bezeichneten Personen, d.h. insbesondere gesetzliche Vertreter natürlicher und juristischer Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Grobe Fahrlässigkeit liegt insoweit vor, wenn jemand die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen des Einzelfalls verpflichtet und nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten im Stande ist, in ungewöhnlich hohem Maße verletzt (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 3.12.2004 ‒ VII B 178/04, BFH/NV 2005, 661; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 AO Rz. 26, m.w.N.). Die Haftung umfasst nach § 69 Satz 2 AO auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge.

33

a. Der Kläger hat vorliegend als Geschäftsführer der A-GmbH und damit als deren gesetzlicher Vertreter i.S.d. § 34 AO (vgl. Rüsken in Klein, AO, 14. Aufl., 2018, § 34 Rz. 6) seine ihm nach den Steuergesetzen auferlegten Pflichten zur Abgabe inhaltlich zutreffender Umsatzsteuervoranmeldungen für 2014 und 2015 sowie einer inhaltlich zutreffenden Umsatzsteuerjahreserklärung 2014 jedenfalls in grob fahrlässiger Weise verletzt, sodass hierdurch zutreffende Steuerfestsetzungen unterblieben sind bzw. zu Unrecht Vorsteuerbeträge festgesetzt und erstattet wurden.

34

Einwendungen gegen die der Haftung zugrunde liegenden Umsatzsteuerrückzahlungsansprüche gegen die A-GmbH für 2014 und 2015 hat der Kläger nicht erhoben. Der Senat schließt sich diesbezüglich der Würdigung des 5. Senats des Finanzgerichts Münster in dessen Beschluss vom 2.5.2017 im Verfahren 5 V 3846/16 an, wobei er nicht (nur) davon ausgeht, dass der Bestand der Umsatzsteuerrückzahlungsansprüche nicht ernstlich zweifelhaft ist, sondern weitergehend, dass diese tatsächlich bestehen. Es steht insoweit fest, dass die in Rede stehenden Lieferungen der D GmbH an die A-GmbH und der A-GmbH an die E B.V. tatsächlich nicht durchgeführt, sondern lediglich vorgetäuscht wurden. Damit war der von der A-GmbH in Anspruch genommene Vorsteuerabzug für an sie geleistete Lieferungen der D GmbH nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG nicht berechtigt. Ein solcher setzt voraus, dass die den geltend gemachten Vorsteuerbeträgen vermeintlich zugrunde liegenden Lieferungen oder sonstigen Leistungen tatsächlich durchgeführt wurden (vgl. etwa BFH-Urteil vom 10.7.2019 ‒ XI R 28/18, BFH/NV 2020, 313). Auch ein etwaiger vom EuGH aufgebrachter Vertrauensschutz, selbst wenn er im Rahmen des Umsatzsteuerfestsetzungsverfahrens und in der Konstellation des Streitfalls bei tatsächlich fehlenden Lieferungen dem Grund nach anzuwenden sein sollte, würde im Streitfall nicht eingreifen. Der Senat geht davon aus, dass die A-GmbH bzw. der für sie handelnde Kläger nicht gutgläubig im Sinne eines Vertrauensschutzes der vorgenannten Art war. Dass die abgerechneten Lieferungen tatsächlich nicht ausgeführt wurden, war dem Kläger zumindest (einfach) fahrlässig nicht bekannt. Hierzu verweist der Senat auf die entsprechenden Ausführungen des 5. Senats in dessen o.g. Beschluss.

35

Ausgehend hiervon hat der Kläger seine ihm als Geschäftsführer der A-GmbH obliegenden Pflichten verletzt, indem er die objektiv unzutreffenden Umsatzsteuervoranmeldungen für die Jahre 2014 und 2015 sowie die objektiv unzutreffende Umsatzsteuererklärung 2014 beim FA abgegeben hat. Es kann dahinstehen, ob der Kläger insoweit vorsätzlich gehandelt hat oder ob das nicht der Fall war (siehe hierzu auch den AdV-Beschluss vom 26.2.2019 im Verfahren 10 V 2733/18 U, S. 16 f.). Soweit das Handeln des Klägers ‒ wofür nach den Umständen einiges spricht ‒ nicht vorsätzlich war, hat der Kläger nach der Beurteilung des Senats nämlich nicht lediglich ‒ wie für die obige Würdigung für Zwecke des umsatzsteuerrechtlichen Vorsteuerabzugs relevant ‒ (einfach) fahrlässig, sondern jedenfalls grob fahrlässig gehandelt, d.h. es war ihm grob fahrlässig nicht bekannt, dass es sich um Scheinlieferungen gehandelt hat. Ein solches grob fahrlässiges Handeln genügt für die vorliegend in Rede stehende Haftung nach § 69 AO.

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Hierzu kann der Senat die Ausführungen des Klägers zum tatsächlichen Geschehensablauf als zutreffend unterstellen. Das betrifft insbesondere die Ausführungen dazu, dass der Kläger die von ihm beschriebenen Erkundigungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der D GmbH eingeholt habe, dass er sich vergewissert habe, dass die E B.V. umsatzsteuerlich ordnungsgemäß registriert war und dies in der Folge regelmäßig habe überwachen lassen, sowie, dass er nach Aufnahme der Lieferbeziehungen einmal am Geschäftssitz der D GmbH die Verladung der Waren beobachtet bzw. kontrolliert habe und Herr H als Geschäftsführer der E B.V. laufend die ordnungsgemäße Ablieferung der Waren bestätigt habe. Auch wenn die vorgenannten Schilderungen des Klägers zutreffen und sich das geschilderte Geschehen so wie von ihm vorgebracht zugetragen hat, würde dies nach der Beurteilung des Senats nichts daran ändern, dass das Handeln des Klägers als zumindest grob fahrlässig zu beurteilen ist.

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(1) Im Streitfall war für den Kläger aufgrund der Umstände der Geschäftsanbahnung und ‑abwicklung ohne Weiteres ersichtlich, dass die A-GmbH von den anderen beteiligten Personen der D-GmbH und der E B.V. nicht als „normaler“ eigenständig und unternehmerisch handelnder Zwischenhändler eingeschaltet wurde. Der A-GmbH bzw. dem Kläger wurden von Herrn F und Herrn G sämtliche Weiterverkäufe an die E B.V. mit sämtlichen Vertragsgrundlagen (Warengruppen, Mengen, Verkaufspreise) in der Weise vorgegeben, dass ein eigenständiges Handeln der A-GmbH ausgeschlossen war. Die A-GmbH bzw. der Kläger hat daher ohne jegliches eigenständiges Handeln und im Ergebnis für ein bloßes „Hindurchschleusen“ vermeintlicher Lieferungen durch die A-GmbH die von ihm verdienten Margen von ca. 1 % bis 1,5 % bzw. … EUR pro Lieferung erhalten. Angesichts dieser Umstände musste jedem Geschäftsführer an der Stelle des Klägers aufgrund einfachster und ganz nahe liegender Überlegungen klar sein, dass es keinen originär wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Grund für die D GmbH und die E B.V. gab, die A-GmbH an ihren Geschäften zu beteiligen und ihr die vorgenannten Margen zu „überlassen“. Die vom FA im Verfahren 10 V 2733/18 U vorgelegten Auszüge aus den eigenen E-Mails des Klägers vom 17.2.2014 und vom 11.3.2014 zeigen, dass das auch dem Kläger selbst bewusst war. Nach diesen E-Mails war der Kläger selbst nicht etwa der Meinung, dass er als „normaler“ unternehmerisch agierender Zwischenhändler eingeschaltet wurde, sondern lediglich für Zwecke der Umsatzsteuer. Dort teilte er einem Herrn K mit, er denke, die D GmbH schalte ihn „wegen der Umsatzsteuer“ ein, weil sie „wieder Probleme mit der Erstattung“ hätten. Er hoffe, seine Firma als „Abrechnungsplattform für die Umsatzsteuerabwicklung zu installieren“.

38

(2) Auch auf Grundlage des weiteren Vorbringens des Klägers im vorliegenden Verfahren ist davon auszugehen, dass eine solche Einschaltung der A-GmbH bzw. des Klägers aus umsatzsteuerlichen Gründen für den Kläger ersichtlich keine solche sein konnte, welche einen wirtschaftlich nachvollziehbaren, legalen Zweck verfolgt. Der Kläger hat insoweit im Verfahren 10 V 2733/18 U geltend gemacht, die A-GmbH bzw. er seien eingeschaltet worden, um für die D GmbH die Umsatzsteuer vorzufinanzieren. Das passt zu dem Inhalt der vorgenannten E-Mails des Klägers. Allerdings ist es laut den nachvollziehbaren Ausführungen des STRAFA-FA in seinem Zwischenbericht vom 23.3.2016 (S. 39 f.) tatsächlich zu keiner Vorfinanzierung der Umsatzsteuer gekommen. Hierauf hat sich auch das FA im vorliegenden Verfahren berufen. Danach erfolgte die Rechnungsstellung durch die A-GmbH an die E B.V. immer vor der Rechnungsstellung durch die D GmbH. Die Bezahlung der Ware erfolgte zunächst durch Überweisung der E B.V. auf das Konto der A-GmbH, die die Beträge dann an die D GmbH weiterleitete. Durch zeitlich nah aufeinander folgende Geldeingänge der E GmbH sei die A-GmbH in die Lage versetzt worden, die Bruttorechnungsbeträge an die D GmbH zu überweisen. Ebenso seien die eingehenden Umsatzsteuererstattungen des FA für Zahlungen an die D GmbH verwendet worden. Die vorgenannten Zahlungsvorgänge hätten auch direkt von der E B.V. an die D GmbH erfolgen können, ohne dass das für einen der Beteiligten zu einem Nachteil geführt hätte. Nach den vorstehenden Ausführungen hat die A-GmbH nicht etwa eigene Geldmittel zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer zur Verfügung gestellt. Auch hier war es daher für den Kläger ohne Weiteres ersichtlich und hätte ihm aufgrund einfachster, ganz nahe liegender Überlegungen klar sein müssen, dass es keinen wirtschaftlich vernünftigen Grund für die D GmbH und die E B.V. gab, die A-GmbH bzw. ihn für die vorgenannten Zahlungsvorgänge, welche sie ohne Weiteres und ohne Nachteile direkt hätten ausführen können, mit der o.g. Marge zu entlohnen.

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(3) Der Kläger hat im vorliegenden Klageverfahren weder dazu ausgeführt noch unter Beweis gestellt, dass die vorgenannte Schilderung der Zahlungsvorgänge im Zwischenbericht des STRAFA-FA vom 23.3.2016 nicht zutreffend sei. Der Kläger hat auch nicht ansatzweise selbst dazu vorgetragen, worin die von ihm geltend gemachte „Vorfinanzierung der Umsatzsteuer“ konkret bestanden haben soll und warum er hätte annehmen können, diese angebliche Funktion der A-GmbH sei der tatsächliche Grund dafür, dass die D GmbH und der E B.V. ihm die Margen überließen. Es hätte aber dem Kläger oblegen, hierzu in konkreter Form vorzutragen und hierfür Beweis anzubieten.

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(4) Aufgrund der vorgenannten Umstände hätte sich dem Kläger ersichtlich und ohne Weiteres aufdrängen müssen, dass kein vernünftiger und nachvollziehbarer Grund dafür ersichtlich war, die A-GmbH bzw. ihn einzuschalten und dieser bzw. ihm die Marge zukommen zu lassen, soweit es sich um eine legale Geschäftsabwicklung handeln sollte. Es muss aber jedem ‒ oder zumindest jedem Kaufmann wie dem Kläger ‒ einleuchten, dass Geschäftspartner sich untereinander nicht grundlos etwas „schenken“. Es war daher für den Kläger ohne Weiteres ersichtlich, dass die D GmbH und die E B.V. nur Zwecke verfolgen konnten, welche nicht mehr im Bereich einer legalen Geschäftsabwicklung lagen, wie etwa die vorliegende Einschaltung zur Verschleierung im Rahmen einer Umsatzsteuerhinterziehung. Der Kläger war angesichts dessen gehalten, sich zu vergewissern, ob es sich tatsächlich um eine legale Geschäftsabwicklung gehandelt hat und insbesondere die umsatzsteuerlichen Anforderungen an den von ihm gegenüber dem FA geltend gemachten Vorsteuerabzug vorlagen. Hierbei hätte er aufgrund einfachster Kontrollen etwa der tatsächlichen Transporte erkennen können, dass tatsächlich keine Lieferungen stattfanden.

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(5) Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren keine Umstände dargelegt und unter Beweis gestellt, welche die vorgenannte Beurteilung entkräften konnten. Das gilt für sämtliche der o.g. Ausführungen des Klägers zum tatsächlichen Geschehensablauf, welche daher als zutreffend unterstellt werden können. So waren die vom Kläger geschilderten Erkundigungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der D GmbH von vornherein nicht geeignet, um den o.g. und ohne Weiteres ersichtlichen Verdachtsmomenten nachzugehen, dass im Rahmen einer legalen Geschäftsabwicklung kein vernünftiger und nachvollziehbarer Grund für die Einschaltung der A-GmbH bzw. des Klägers ersichtlich war. Auch die Schilderung des Klägers, er habe nach Aufnahme der Lieferbeziehungen einmal am Geschäftssitz der D GmbH die Verladung der Waren beobachtet bzw. kontrolliert und Herr H als Geschäftsführer der E B.V. habe laufend die ordnungsgemäße Ablieferung der Waren bestätigt, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Angesichts der o.g. und ohne Weiteres ersichtlichen Verdachtsmomente genügte auch das nach Auffassung des Senats nicht, um den sich aufdrängenden Zweifeln an einer legalen Geschäftsabwicklung zu begegnen. Statt eines einmaligen Zuschauens beim Aufladen und bloßer mündlicher Schilderungen durch den Geschäftsführer des Abnehmers wäre es für den Kläger eine sehr nahe liegende und sich aufdrängende Maßnahme gewesen, das tatsächliche Stattfinden der Transporte laufend und hierbei jedenfalls wiederholt stichprobenartig selbst zu kontrollieren.

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Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aufgrund der Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Insbesondere hat der Kläger auch hier keine Umstände benennen können, welche aus seiner seinerzeitigen Sicht einen nachvollziehbaren originär wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Grund für die D GmbH darstellen konnten, die A-GmbH bzw. ihn einzuschalten und dieser bzw. ihm die Marge zukommen zu lassen.

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b. Der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids steht auch nicht das seitens des Klägers geltend gemachte Mitverschulden des FA entgegen, wonach die Inhaftungnahme des Klägers jedenfalls der Höhe nach beschränkt bzw. ganz ausgeschlossen gewesen sein soll.

44

(1) Zwar weist der Kläger zutreffend auf die Rechtsprechung hin, wonach § 254 BGB als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens auch im Rahmen der Haftung nach § 69 AO Anwendung findet und sich im Rahmen der für die Haftungsinanspruchnahme zu treffenden Ermessensentscheidung auswirken kann (vgl. hierzu auch etwa Loose in Tipke/Kruse, AO/FG, § 69 AO Rz 28 f., Jatzke in Gosch, AO/FGO, § 69 AO Rz 63, beide m.w.N.). Allerdings weist das FA ebenfalls zutreffend darauf hin, dass es hierbei zu einer Beschränkung der Haftungsinanspruchnahme nur dann kommen kann, wenn ein Mitverschulden der Finanzbehörde ein solch erhebliches Ausmaß annimmt, dass demgegenüber das Verschulden des Haftungsschuldners nicht entscheidend ins Gewicht fällt (vgl. etwa BFH-Urteil vom 30.8.2005 ‒ VII R 61/04, BFH/NV 2006, 232; BFH-Beschluss vom 11.5.2000 ‒ VII B 217/99, BFH/NV 2000, 1442; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 AO Rz 28; Jatzke in Gosch, AO/FGO, § 69 AO Rz 63).

45

(2) Der Kläger hat eine solche Situation weder dargelegt noch unter Beweis gestellt. Nach der Schilderung des Klägers ist noch nicht einmal ersichtlich, dass das FA tatsächlich bereits seit September 2014 eine hinreichend sichere Kenntnis davon hatte, dass es sich bei den in Rede stehenden Lieferungen um Scheinlieferungen im Rahmen eines Umsatzsteuerkarussells gehandelt hat. Die vom Kläger angeführte Einleitung des Ermittlungsverfahrens insgesamt im September 2014 und speziell die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen die A-GmbH im November 2014 besagen zunächst einmal lediglich, dass die Steuerfahndung hinreichende Verdachtsmomente sah, welche für die Einleitung solcher Ermittlungsverfahren erforderlich sind. Der Kläger hat nichts weiter dazu ausgeführt, welche konkreten Umstände dem FA zu den vorgenannten Zeitpunkten sowie im späteren Verlauf der Ermittlungen jeweils bekannt waren und aufgrund derer es nach seiner Auffassung zwingend war, dass das FA die Erstattung der von der A-GmbH vorangemeldeten Vorsteuerbeträge unmittelbar hätte stoppen müssen. Der Kläger hat auch sein weiteres Vorbringen, die Steuerfahndung und das FA hätten lediglich aus ermittlungstaktischen Gründen und hierbei aus dem Grund, dass man an die Hintermänner habe herankommen wollen, weiter zugewartet, weder näher erläutert noch unter Beweis gestellt.

46

(3) Angesichts dessen fehlt es nach Auffassung des Senats schon daran, dass der Kläger Umstände dargelegt hat, welche zu einem so erheblichen Mitverschulden des FA führen würden, welches nach den o.g. Ausführungen für eine etwaige Beschränkung der Haftungsinanspruchnahme erforderlich wäre. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es stets zu einem erheblichen Mitverschulden des FA der o.g. Art führt, wenn dieses nach Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auf weitere Ermittlungsergebnisse wartet, bevor es Folgerungen für die steuerrechtliche Veranlagung zieht. Eine weitergehende Darlegung der konkreten Umstände durch den Kläger war daher nicht etwa entbehrlich.

47

c. Des Weiteren ist der Haftungsbescheid auch nicht deshalb rechtswidrig, weil er auch Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 sowie Säumniszuschläge erfasst.

48

(1) Die in die Haftung einbezogenen Zinsen sind nicht zu beanstanden. Im Hinblick auf die Zinsen hat der BFH zwar inzwischen entschieden, dass die Höhe des Zinssatzes von 0,5 % für jeden vollen Monat bzw. von 6 % pro Jahr (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) bereits für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2012 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln begegnet (vgl. BFH-Beschluss vom 4.7.2019 ‒ VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060). Jedoch ist im Streitfall weder aus dem Vorbringen der Beteiligten noch aus den vorliegenden Verwaltungsakten ersichtlich, dass die A-GmbH seinerzeit die Festsetzung der vorgenannten Zinsen überhaupt angefochten hat. Für eine Anfechtung auch der Zinsfestsetzung hätte sich der Einspruch der A-GmbH, welchen sie gegen die geänderte Umsatzsteuerfestsetzung für 2014 eingelegt hat, inhaltlich ausdrücklich auch gegen die Zinsfestsetzung richten und Einwendungen speziell gegen diese erheben müssen (vgl. hierzu etwa BFH-Beschluss vom 17.7.2019 ‒ X B 21/19, BFH/NV 2019, 1217). Daher sind die Zinsfestsetzungen vorliegend bestandskräftig geworden. Der Kläger als seinerzeitiger Geschäftsführer der A-GmbH muss die Unanfechtbarkeit der Zinsfestsetzung gem. § 166 AO auch im vorliegenden Haftungsverfahren gegen sich gelten lassen. Etwaigen verfassungsrechtlichen Zweifeln an dem Zinssatz kann im vorliegenden Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid nicht mehr nachgegangen werden.

49

(2) Bezüglich der in die Haftung einbezogenen Säumniszuschläge besteht zwar ‒ mangels Festsetzung der Säumniszuschläge dem Steuerpflichtigen gegenüber durch Steuerbescheid ‒ im Unterschied zu den o.g. Zinsfestsetzungen kein Einwendungsausschluss des Klägers nach § 166 AO. Säumniszuschläge entstehen gem. § 240 AO kraft Gesetzes, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Eine Anfechtung mittels Einspruch und Anfechtungsklage ist somit nicht möglich. Bei Streit über die Verwirkung der Säumniszuschläge (dem Grunde oder der Höhe nach) ist vielmehr ein Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO zu erlassen. Dies wäre vorliegend durch die A-GmbH zwar möglich gewesen. Auf einen Abrechnungsbescheid würde § 166 AO aber keine Anwendung finden (vgl. Rüsken in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 166 Rz. 17). Jedoch sind die in die Haftung einbezogenen Säumniszuschläge im Streitfall auch bei einer materiell-rechtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden.

50

Hinsichtlich der Säumniszuschläge geht die Rechtsprechung zwar davon aus, dass ‒ wie der Kläger zutreffend geltend macht ‒ Säumniszuschläge nach § 227 AO zu erlassen sein können, wenn sie wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Schuldners ihren Zweck verlieren, Druck auf diesen auszuüben (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 18.4.1996 ‒ V R 55/95, BStBl. II 1996, 561; vom 19.12.2000 ‒ VII R 63/99, BStBl. II 2001, 217; vom 16.11.2004 ‒ VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495; hierzu auch Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 240 AO Rz. 56, m.w.N.). Zum einen erfasst ein solcher Erlass ‒ entgegen dem Vorbringen des Klägers ‒ aber regelmäßig nur die Hälfte der Säumniszuschläge (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 30.3.2006 ‒ V R 2/04, BStBl. II 2006, 612; ebenso Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Rz. 109 m.w.N.). Eine solche (hälftige) „Erlasslage“ wäre auch im Rahmen der hier in Rede stehenden akzessorischen Haftung nach § 69 Satz 2 AO zu berücksichtigen (vgl. BFH-Urteil vom 19.12.2000 ‒ VII R 63/99, BStBl. II 2001, 217). Zum anderen hat jedoch das FA ‒ was es im vorliegenden Verfahren auch geltend macht ‒ die Säumniszuschläge für den Haftungsbescheid nur bis zum Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der A-GmbH am 29.5.2017 berechnet. Dazu, dass und ggf. ab wann die A-GmbH bereits vor diesem Zeitpunkt überschuldet oder zahlungsunfähig gewesen wäre, sind weder Anhaltspunkte ersichtlich noch hat der Kläger hierzu etwas in konkreter Form ausgeführt.

51

Der Senat hält auch die Höhe der Säumniszuschläge von 1 % für jeden angefangenen Monat der Säumnis (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO) für verfassungsgemäß. Teilweise wird zwar die Auffassung vertreten, dass die verfassungsrechtliche Problematik hinsichtlich der Höhe der Zinsen nach § 238 AO (vgl. vorstehend unter Abschnitt (1)) auch auf die Verwirkung von Säumniszuschlägen nach § 240 AO zu übertragen sei (so etwa Steinhauff, AO-StB 2019, 290; Steck, DStZ 2019, 143; s. auch FG München, Beschluss vom 13.8.2018 ‒ 14 V 736/18, EFG 2018, 1608´, erledigt durch BFH‒Beschluss vom 2.5.2019 ‒ VII B 155/18, wonach schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel bestünden, welche sich allerdings auf die Konstellation nach einem teilweisen Erlass der Säumniszuschläge wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung beschränken sollen; nur diese Konstellation als problematisch ansehend auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Rz. 19; vgl. auch BFH, Beschluss vom 14.4.2020 VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177, wonach die verfassungsrechtliche Beurteilung klärungsbedürftig ist). Der Senat hält die gesetzliche festgelegte Höhe der Säumniszuschläge jedoch für verfassungsgemäß. Die Überlegungen zur Frage einer Verfassungswidrigkeit der gesetzlich mit 6 % festgelegten Zinsen lassen sich nicht ohne Weiteres auf die gesetzlich mit 12 % festgelegten Säumniszuschläge übertragen. Die Säumniszuschläge stellen nach der Rechtsprechung des BFH in der vorgenannten Höhe eine Mischung aus Druckmittel, Abgeltung von Verwaltungsaufwand und eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern etc. („Zins“ oder „Zinsersatz“) dar. Vorrangiger Zweck ist hierbei allerdings die Wirkung als Druckmittel (vgl. hierzu etwa Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Rz. 11, m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH). Es lässt sich der gesetzlichen Konzeption auch nicht etwa ein „fester“ Zinsanteil entnehmen. Vielmehr deckt die Regelung des § 240 AO lediglich neben ihrem vorrangigen Zweck als Druckmittel auch die beiden vorgenannten weiteren Zwecke ab. Angesichts dieses Mischcharakters der Regelung lässt sich kein entsprechender Zinsanteil identifizieren, welcher darauf überprüft werden könnte, ob er nicht mehr realitätsgerecht bemessen und damit evtl. verfassungsrechtlich überhöht sein könnte. Es kann auch nicht etwa deswegen ein Anteil von 50 % der Säumniszuschläge einem Zinsanteil der o.g. Art zugeordnet werden, weil die Rechtsprechung in Fällen der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung aufgrund des Wegfalls des Druckcharakters einen hälftigen Erlass der Säumniszuschläge für gerechtfertigt erachtet (vgl. dazu oben). Hierbei handelt es sich nämlich um einen „pauschalierten“ Erlass eines Teils der Säumniszuschläge im Rahmen einer ‒ eigenen rechtlichen Grundsätzen folgenden ‒ Billigkeitsmaßnahme. Hieraus kann nicht etwa ein „fester“ Zinsanteil abgeleitet werden, welcher zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Höhe der Säumniszuschläge anhand der Kriterien zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Zinssatzhöhe nach § 238 AO herangezogen werden könnte. Die Frage, ob die Höhe der Säumniszuschläge verfassungsrechtlich überhöht ist, stellt sich vielmehr erst dann, wenn ihre Bemessung unter Berücksichtigung ihres vorrangigen Zwecks als Druckmittel gegen das Übermaßverbot verstoßen würde. Hierfür sind jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich (ebenso FG Hamburg, Urteil vom 1.10.2020 ‒ 2 K 11/18, EFG 2020, 1815; Revision eingelegt, Az. des BFH: VII R 55/20; FG Münster, Beschluss vom 29.5.2020 ‒ 12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053; Beschwerde eingelegt, Az. des BFH: B VII B 13/21).

52

2. Dafür, dass das FA vorliegend das ihm nach § 69 i.V.m. § 191 Abs. 1 AO zustehende Entschließungs- oder Auswahlermessen nicht fehlerfrei ausgeübt haben könnte, hat weder der Kläger etwas vorgetragen noch sind hierfür Anhaltspunkte ersichtlich.

53

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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III. Die Revision war zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Frage, ob sich die Zweifel an der Vereinbarkeit der nach der AO festzusetzenden Zinsen gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit dem Grundgesetz (GG) auch auf Säumniszuschläge gem. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO für Zeiträume nach dem 31.12.2009 übertragen lassen, ist klärungsbedürftig (so ausdrücklich BFH-Beschluss vom 14.4.2020 ‒ VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177, mit dem auf eine entsprechende Nichtzulassungsbeschwerde hin die Revision zugelassen wurde). Diese Rechtsfrage ist auch Gegenstand der gegen das Urteil des FG Hamburg vom 1.10.2020 (2 K 11/18, EFG 2020, 1815) eingelegten Revision (Aktenzeichen des BFH: VII R 55/20) sowie der

55

gegen den Beschluss des FG Münster vom 29.5.2020 (12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053) eingelegten Beschwerde (Aktenzeichen des BFH: VII B 13/21).

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