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30.01.2020 · IWW-Abrufnummer 213828

Landgericht Dortmund: Beschluss vom 29.11.2019 – 53 Qs 72/19

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


LG Dortmund

Beschluss vom 29.11.2019


in pp.

  1. Der Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 10.09.2019 wird aufgehoben, soweit hiermit der Antrag des Betroffenen auf Übersendung der Falldaten aller am Tattag mit dem Messgerät aufgenommenen Verkehrsverstöße zurückgewiesen wurde.
  2. Dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigerin ist Einsicht in die komplette Messreihe der Geschwindigkeitsmessung mit der Radar-Geschwindigkeitsmessanlage Traffipax Speedophot in Hamm, Vorsterhauser Weg, Fahrtrichtung Süden im Bereich der Hausnummer 33 am 15.11.2018 zu gewähren durch Übermittlung der gesamten digitalen Falldateien im sbf-Format nebst Schlüssel (pk-Datei) auf einem von der Verteidigerin zur Verfügung zu stellenden geeigneten Datenträger.
  3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Gegen den Betroffenen wurde am 30.01.2019 von der Stadt Hamm ein Bußgeldbescheid wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschossener Ortschaften um 21 km/h am 15.11.2018 um … Uhr in Hamm, Vorsterhauser Weg, Fahrtrichtung Süden im Bereich der Hausnummer 33 erlassen; der Betroffene wurde mit einer Geldbuße von 80 € und einem Punkt im Fahreignungsregister belegt. Der Bußgeldbescheid wurde dem Betroffenen am 02.02.2019 zugestellt; er legte durch seine Verteidigerin am 05.02.2019 Einspruch ein.

Bereits mit Schreiben vom 06.12.2018 hatte die Verteidigerin nach erfolgter Akteneinsicht bei der Verwaltungsbehörde die Aktenunvollständigkeit gerügt und um Zuleitung der Gebrauchsanweisung zum Messgerät, der digitalen Falldatei des Betroffenen sowie der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe jeweils im sbf-Format nebst Schlüssel (pk-Datei), der Ablichtung der eingeblendeten Annullierungsrate, des Schulungsnachweises des Messbeamten sowie des Auswerters, der Mitteilung, wann, wo und durch wen die Auswertung vorgenommen worden sei, der gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG erforderlichen Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät für den Zeitraum zwischen der letzten Eichung und der hier gegenständlichen Tat sowie zwei Monate hiernach, des Beschilderungsplanes und der Mitteilung des Grundes der gegenständlichen Geschwindigkeitsüberwachung gebeten.

Die Bußgeldabteilung der Stadt Hamm übersandte der Verteidigerin in der Folge den Falldatensatz der Geschwindigkeitsüberschreitung des Betroffenen und teilte mit, die Verteidigerin solle den Token und das dazugehörige Passwort beim Landesamt für Mess- und Eichwesen Berlin-Brandenburg anfordern. Ferner lagen dem Schreiben der Bußgeldabteilung die Gebrauchsanweisung des Messgeräts „Traffipax SpeedoPhot“ sowie der geforderte Beschilderungsplan bei. Die Bußgeldabteilung teilte der Verteidigerin außerdem mit, dass zur Annullierungsrate keine Angaben gemacht werden könnten. Die Auswertung sei durch die Sachbearbeiterin Frau D. durchgeführt worden; deren Schulungsnachweis sowie derjenige des Messbeamten hätten sich bei der gewährten Akteneinsicht bereits in der Akte befunden. Eine Lebensakte sei für das verwendete Messgerät nicht vorgeschrieben und werde daher auch nicht geführt; zum Messzeitpunkt sei das Messgerät aber gültig geeicht und die Eichmarken unversehrt gewesen. Zu der von der Verteidigerin erbetenen Übersendung der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe nahm die Verwaltungsbehörde in diesem Schreiben keine Stellung.

Daraufhin rügte die Verteidigerin mit Schreiben vom 23.01.2019, dass die Verwaltungsbehörde nach herrschender Ansicht auch die Entschlüsselungsdatei und gegebenenfalls das Passwort herausgeben müsse; der Betroffene dürfe insoweit nicht an das Eichamt verwiesen werden. Sie begründete zudem ausführlich, weswegen dem Betroffenen die gesamte Messreihe zur Verfügung gestellt werden müsse {vgl. hierzu im Einzelnen Bl. 52/53 d. A.). Ferner forderte sie erneut die Belege über Eingriffe und Reparaturen am Messgerät, die Übersendung der Statistikdatei der Messung und die Mitteilung des konkreten Messgrundes.

Mit Schreiben vom 30.01 .2019 teilte die Bußgeldabteilung der Verteidigerin mit, nach der Rechtsprechung des OLG Frankfurt (Beschluss vom 26.08.2016) gebe es kein Einsichtsrecht für die gesamte Messreihe; diese sei weder mittelbares noch unmittelbares Beweismittel im Verfahren. Eine tatsachenfundierte Begründung dazu, warum der Betroffene die gesamte Messreihe benötige und dabei in die grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte Dritter eingreifen wolle, liege bisher nicht vor. Eine Lebensakte des Messgerätes existiere nicht; die Vorschrift des § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG beziehe sich im Übrigen nicht auf geeichte Geräte wie das vorliegende.

Hierauf stellte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 05.02.2019 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG. Sie beantragte, die Verwaltungsbehörde zu verpflichten, dem Betroffenen Einsicht in den Schlüssel (pk-Datei) zu seiner eigenen digitalen Falldatei sowie Einsicht in die komplette Messreihe vom Tattag zu gewähren (zur Begründung im Einzelnen vgl. Bl. 83 bis 85 zum „Schlüssel“ sowie Bl. 85 bis 87 zur „kompletten Messreihe“).

Die Bußgeldabteilung teilte der Verteidigerin mit Schreiben vom 20.03.2019 mit, diese könne die Falldatensätze der Messreihe nicht dazu verwenden, auffällige Annullierungen festzustellen, da annullierte Messungen vom System nicht protokolliert würden. Auch ob Variationen im Messwinkel, plausible Fotopositionen oder Leerfotos vorlägen, lasse sich mit den Falldatensätzen der Messreihe nicht verifizieren. Dass keine räumliche Veränderung der Messanlage während der Messung stattgefunden habe, sei anhand der beiden Kalibrierfotos erkennbar. Dass der aufmerksame Messbetrieb gewährleistet gewesen sei, sei am ausgefüllten Messprotokoll ablesbar. Darüber hinaus sei die Schlüsseldatei auf den der Verteidigerin bereits übersandten Datenträgern vorhanden. Im Übrigen bleibe es weiterhin dabei, dass die Falldatensätze der anderen, während dieses Messvorganges festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht übersandt würden. Die Verteidigerin habe bislang nicht dargelegt, „warum dieser exorbitant hohe Aufwand im Verhältnis zur von ihrem Mandanten begangenen Ordnungswidrigkeit stehen“ sollte.

Mit Schriftsatz vom 15.04.2019 beantragte die Verteidigerin hierauf (erneut), die gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG einzuholen. Sie beantragte gegenüber dem Gericht zu beschließen, dass dem Betroffenen Einsicht in die komplette Messreihe sowie in die Geräteunterlagen zum Messgerät und die Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät für den Zeitraum ab der letzten Eichung bis zwei Monate nach der Geschwindigkeitsüberschreitung am 15.11.2018 zu gewähren sei (hierzu im Einzelnen Bl. 102 bis 105 d. A.).

Mit Beschluss vom 03.07.2019 (Bl. 124 bis 131 d. A.) wies das Amtsgericht Hamm die Verwaltungsbehörde an, der Verteidigerin des Betroffenen Unterlagen über sämtliche Wartungen, Reparaturen, Nacheichungen und sonstige Eingriffe an der bei der gegenständlichen Geschwindigkeitsmessung eingesetzten stationären Radar-Geschwindigkeitsmessanlage Traffipax SpeedoPhot 504-001/0898 für den Zeitraum zwischen dem Tattag am 15.11.2018 und dem Tag des Erlasses des Bußgeldbescheides am 30.01.2019 zugänglich zu machen. Im Übrigen wies es den Antrag des Betroffenen vom 15.04.2019 auf gerichtliche Entscheidung über die ablehnende Entscheidung der Stadt Hamm zurück. Das Amtsgericht Hamm begründete die Ablehnung der Einsicht in die gesamte Messreihe insbesondere damit, dass der Datenschutz der in den übrigen Fällen der Messreihe Betroffenen dem Recht des vorliegend Betroffenen auf ein faires Verfahren vorgehe; die Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe ohne konkrete Anhaltpunkte für ein Überprüfungserfordernis würde im vorliegenden Fall einen unzulässigen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung darstellen (zur ausführlichen Begründung im Einzelnen Bl. 125 ff. d. A.).

Das Amtsgericht Hamm bestimmte mit Verfügung vom 26.07.2019 Termin zur Hauptverhandlung auf den 09.12.2019.

Mit Schriftsatz vom 07.08.2019 (Bl. 142 ff. d. A.) beantragte die Verteidigerin beim Amtsgericht Hamm,

„1. dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger Einsicht in das Kalibrierungsbild zum Messende der Messung vom 15. 11.2018 als digitale Datei im sbf-Format nebst Schlüssel (pk-Datei) zu gewähren (…),
2. dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger Einsicht in die komplette Messreihe vom Tattag, mithin die digitalen Falldateien des Tattages im sbf-Format nebst Schlüssel (pk-Datei) zu gewähren (…),
3. dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger Einsicht in die Geräteunterlagen zum Messgerät zu gewähren und Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät(. . .) für den Zeitraum ab der letzten Eichung des Messgeräts bis zur vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung am 15.11.2018 herauszugeben.“ (zur Begründung der Anträge vgl. Bl. 143 bis 150 d. A.)

Mit Schreiben vom 15.08.2019 teilte das Amtsgericht Hamm der Verteidigerin mit, dass der Beschluss vom 03.07.2019 auch auf deren Gegendarstellung nicht abgeändert werde; das Amtsgericht Hamm halte an seiner Rechtsauffassung fest.
Ferner erließ das Amtsgericht Hamm am 10.09.2019 folgenden Beschluss:

„Der Antrag auf Einsicht der Verteidigerin vom 07.08.2019 wird zurückgewiesen, soweit ihm nicht abgeholfen wurde/wird.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zur Begründung vollumfänglich auf den Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 03.07.2019, Az. 12 OWi 385/19 (b) (Bl. 153 d. A.) verwiesen.

Soweit Kalibrierungsfoto[s] angefordert wurden, werden diese der Verteidigerin übersandt, sobald der im Schriftsatz vom 07.08.2019 angekündigte und mit Verfügung vom 15.08.2019 angeforderte Datenträger bei Gericht eingegangen ist.“

Mit Schriftsatz vom 16.10.20191egte die Verteidigerin gegen diesen ‒ am 07.10.2019 zugegangenen ‒ Beschluss Beschwerde ein und beantragte, dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger Einsicht in die komplette Messreihe vom Tattag, mithin die digitalen Falldateien des Tattages im sbf-Format nebst Schlüssel (pk-Datei), zu gewähren, diese auf einen von der Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger zu kopieren und der Unterzeichnerin zur Verfügung zu stellen. Zur eingehenden Begründung der Beschwerde wird auf Bl. 165 bis 171 d. A. verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

1.

Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 10.09.2019 ist nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 304 Abs. 1 StPO zulässig.

Die Beschwerde richtet sich ausweislich des gestellten Antrags (lediglich) gegen die Ablehnung der Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe des Tattags.

Diese Beschwerde ist nicht nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 305 S. 1 StPO ausgeschlossen.

Nach § 305 Satz 1 StPO unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. Entsprechend dem Zweck der Bestimmung, Verfahrensverzögerungen zu verhindern, die eintreten würden, wenn Entscheidungen der erkennenden Gerichte sowohl auf eine Beschwerde als auch auf das Rechtsmittel gegen das Urteil überprüft werden müssten, gilt dieser Ausschluss nur für Entscheidungen, die in innerem Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung selbst der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und keine weiteren Verfahrenswirkungen äußern (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 21.05.2015, Az. 1 Ws 80/15; LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017, Az. 1 Qs 46/17; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 22.05.2019, Az. 5 Qs 51/19).

Anfechtbar mit der Beschwerde sind hingegen Entscheidungen, bei denen die Beschwer des Betroffenen durch Anfechtung des Urteils nicht mehr beseitigt werden kann. Die Aufzählung in§ 305 S. 2 StPO ist insoweit nicht abschließend. Ob die Nichtherausgabe von Messdaten nach der Verurteilung des Betroffenen in einem Rechtsbeschwerdeverfahren überprüft werden kann, wird in der obergerichtliehen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt (bejahend: OLG Celle, Beschluss vom 21.03.2016, Az. 2 Ss (OWi) 77/16; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.03.2017, Az. 2 Ss (OWi) 40/17; verneinend: OLG Bamberg, Beschluss vom 04.04.2016; Az. 3 SsOWi 1444/15; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.08.2016, Az. 2 Ss-OWi 589/16; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 25.10.2017, Az. Ss Rs 17/2017 (30/17 OWi)). Somit besteht zumindest das Risiko, dass der Betroffene keine Möglichkeit hat, mit der Rechtsbeschwerde die Nichtherausgabe der Messdaten zu rügen.

Zur Vermeidung eines später nicht mehr zu beseitigenden rechtswidrigen Zustands ist dem Betroffenen daher die Überprüfung im Wege des Beschwerdeverfahrens zu ermöglichen, zumal es sich bei dem Antrag auf Herausgabe der Messdaten nicht um einen ‒ nicht der Beschwerde zugänglichen ‒ Beweisantrag oder um eine Beweisanregung handelt, sondern um einen Antrag auf erweiterte Akteneinsicht. Die Entscheidung über die Akteneinsicht steht in diesem konkreten Fall nicht in einem inneren Zusammenhang mit dem späteren Urteil (so u.a. auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.9.1995, Az. 2 Ws 174/95). Ihre Rechtmäßigkeit wird vorliegend weder bei der Urteilsfällung überprüft, noch wäre eine zuvor getroffene Entscheidung gegebenenfalls rückwirkend korrigierbar.

Gegen die Statthaftigkeit der Beschwerde ergeben sich auch keine Bedenken im Hinblick auf § 147 Abs. 4 S. 2 StPO, da sich der Antrag nicht auf die Modalität der Akteneinsicht bezieht, sondern deren Substanz betrifft (OLG Brandenburg, a. a. O.).

Die Beschwerde ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Betroffene im Verwaltungsverfahren bereits eine Entscheidung des Gerichts nach § 62 OWiG hat herbeiführen lassen, die nach § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG nicht anfechtbar ist. Die Beschwerde betrifft zwar ebenso wie der gestellte Antrag nach § 62 OWiG die Herausgabe der gesamten Messreihe. Dieser richtet sich jedoch im Verwaltungsverfahren gegen die Anordnung der Verwaltungsbehörde, im Beschwerdeverfahren aber gegen die ablehnende Entscheidung des Amtsgerichts auf Überlassung der Messreihe; somit liegt beiden Rechtsbehelfen nicht derselbe Gegenstand zugrunde.

2.

Die Beschwerde ist auch begründet.

a)

Zwar wird durch die Ablehnung der Überlassung der gesamten Messdaten nicht der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, wenn sich diese Rohmessdaten- wie vorliegend ‒ nicht in der Verfahrensakte, sondern nur bei der Verwaltungsbehörde befinden (vgl. OLG Bamberg, Beschlüsse vom 05.09.2016, Az. 3 Ss OWi 1050/16, und vom 04.04.2016, Az. 3 Ss OWi 1444/15; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15; OLG Hamm, Beschluss vom 19.06.2018, Az. 4 RBs 163/18).

Durch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs soll garantiert werden, dass einer Entscheidung nur Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte. Die gesamte Messreihe ist aber nicht Aktenbestandteil. Beweismittel für den Verkehrsverstoß ist ausschließlich das Messbild des Betroffenen mit den ihn betreffenden Messdaten in der ausgewerteten verbildlichten Form, wie es sich in der Gerichtsakte befindet (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 03.03.2016, Az. 2 Ss-OWi 1059/15; Beschluss vom 28.04.2016, Az. 2 Ss-OWi 190/16). Einen Anspruch auf Aktenerweiterung vermittelt der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht.

b)

Dem Betroffenen steht nach Auffassung der Kammer dennoch ein Anspruch auf Zurverfügungstellung der gesamten Messdaten zu und zwar auch dann, wenn sie nicht Bestandteil der gerichtlichen Akte sind.

Dies folgt aus dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des fairen Verfahrens (vgl. VGH des Saarlandes, Beschluss vom 27.4.2018, Az. Lv 1/18; KG, Beschluss vom 07.01.2013, Az. 3 Ws (8) 596/12; OLG Celle, Beschluss vom 21.03.2016, Az. 2 Ss (OWi) 77/16; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.03.2017, Az. 2 Ss (OWi) 40/17; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.01.2018, Az. 2 Rb 8 Ss 839/17; LG Trier, Beschluss vom 14.9.2017, Az. 1 Qs 46/17; LG Hanau, Beschluss vom 07.01.2019, Az. 4b Qs 114/18; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 22.05.2019, Az. 5 Qs 51/19).

Die Gegenauffassung (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 17.07.2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 25.10.2017, Az. Ss Rs 17/2017 (30/17 OWi); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15; Beschlüsse vom 05.09.2016, Az. 3 Ss OWi 1050/16, und vom 04.04.2016, Az. 3 Ss OWi 1444/15; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.08.2016, Az. 2 Ss-OWi 589/16), welche einen Anspruch auf Beiziehung und Überlassung der digitalen Daten einer Messreihe ablehnt, vermag nicht zu überzeugen.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens und das hieraus folgende Gebot der Waffengleichheit erfordern, dass die Verfolgungsbehörde und die Verteidigung in gleicher Weise Teilnahme-, Informations- und Äußerungsrechte wahrnehmen können, um so Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (BVerfGE 38, 111; BVerfGE 133, 168). An der dadurch garantierten „Parität des Wissens“ fehlt es jedoch, wenn die Bußgeldbehörde, nicht aber der Betroffene Zugang zu den für die Beurteilung des Messwerts relevanten Unterlagen hat (so auch LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017, Az. 1 Qs 46/17 m. w. N.; LG Hanau, Beschluss vom 07.01.2019, Az. 4b Qs 114/18). Davon ausgehend ist nach Auffassung der Kammer eine Zurverfügungstellung der Falldatensätze der tatgegenständlichen Messreihe angezeigt.

Bei dem Geschwindigkeitsmessverfahren mittels des Messgeräts Traffipax Speedophot handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem durch die Physikalisch-technische Bundesanstalt im Wege des antizipierten Sachverständigengutachtens die grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt wurde. Der Betroffene muss daher, wenn er die Richtigkeit der Messung angreifen will, konkrete Anhaltspunkte darlegen, die für eine Unrichtigkeit der Messung sprechen; es wird ihm also eine Beibringungs- bzw. Darlegungslast auferlegt. Derartige Punkte vorzutragen wird ihm jedoch unmöglich gemacht, wenn ihm die Messdaten als Grundlage der Messung nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Für den Betroffenen ist es nur dann möglich der Darlegungslast nachzukommen und das Messergebnis in Zweifel zu ziehen, wenn er die vom jeweiligen Messgerät erzeugten Daten als Grundlage jeder Messung technisch auswerten lassen kann. Als Konsequenz hieraus hat die Verwaltungsbehörde ‒ und soweit noch nicht geschehen auch das Amtsgericht ‒ dem Betroffenen Zugang zu allen Informationen zu gewähren, die für seine Verteidigung von Bedeutung sein können.

Der Betroffene hat vorliegend über seine Verteidigerin ausreichend detailliert und tatsachenfundiert dazu vorgetragen, warum es vorliegend zur effektiven Verteidigung erforderlich ist, Einsicht in die komplette Messreihe zu nehmen und nicht lediglich in die konkrete Falldatei. Darüber hinaus kann nicht verlangt werden, dass bereits vor Einsicht in die Messserie konkrete Mängel vorgetragen werden, da sich bestimmte Fehlerquellen erst aus einem Vergleich der eigenen Falldatei mit den anderen im Messzeitraum durchgeführten Messungen ergeben können. Zudem können gegebenenfalls erst anhand der weiteren Falldaten der Messreihe Fehler aufgedeckt werden, die allen Messungen der Messserie anhaften, aber aus der konkreten Messung beim Betroffenen nicht ersichtlich sind. Außerdem besteht die Möglichkeit, durch Aufzeigen mehrerer Fehlerquellen bei anderen Messungen die aus dem standardisierten Verfahren folgende Vermutung korrekter Messungen der gesamten Messserie zu erschüttern (so u. a. auch OLG Naumburg, Beschluss vom 16.12.2014, Az. 2 Ws 96/14).

Auch datenschutzrechtliche Bedenken stehen der Zurverfügungstellung der Falldatensätze nach Auffassung der Kammer nicht entgegen. Zwar sind bei Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe auch die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer betroffen. Dieser Eingriff ist jedoch hinzunehmen. Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist insoweit höherrangig, zumal es sich um einen relativ geringfügigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter handelt (so auch LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017, Az. 1 Qs 46/17). Mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie werden zwar Foto und Kennzeichen übermittelt, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift.

Zudem besteht bei der Übermittlung der Daten an die Verteidigerin als Organ der Rechtspflege grundsätzlich auch keine Gefahr der Weitergabe an Dritte (so auch OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.01.2017, Az. 1 Ws 348/16).

c)

Das Einsichtsrecht in die gesamte Messreihe steht dem Betroffenen nach Ansicht der Kammer gegenüber dem erkennenden Gericht allerdings nur dann zu, wenn er bereits rechtzeitig vor der Hauptverhandlung bei der aktenführenden Behörde diese Einsicht beantragt hatte (so auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15) und bei einer Ablehnung gegebenenfalls eine gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG hat herbeiführen lassen (so auch OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.03.2017, Az. 2 Ss (OWi) 40/17; a. A. wegen der „ungewissen Erfolgsaussichten eines solchen Antrages“: OLG Jena, Beschluss vom 01.03.2016, Az. 2 OLG 101 Ss Rs 131/15; OLG Brandenburg, Beschluss vom 08.09.2016, Az. (2 Z) 53 Ss-OWi 343/16 (163/16)).

Nur so kann dem Informationsinteresse des Betroffenen Genüge getan und zugleich gewährleistet werden, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Unterbrechung zur Gewährung der Einsicht unverhältnismäßig verzögert oder erschwert wird (ähnlich zum Strafverfahren: BVerfGE 63, 45, 67). Ergäben sich für den Betroffenen ‒ gegebenenfalls nach Auswertung durch einen privaten Sachverständigen ‒ aus den ihm außerhalb der Hauptverhandlung überlassenen Messdaten Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Messung, die sich auf den Betroffenen bezieht, so könnte er die relevanten Umstände durch Beweisanträge oder Beweisanregungen zum Gegenstand der Hauptverhandlung machen und so in dieser seine Interessen wahren.

Vorliegend hat sich der Betroffene bereits außerhalb des gerichtlichen Verfahrens ‒ sogar noch vor Erlass des Bußgeldbescheides ‒ bemüht, die von ihm begehrten Daten von der Verwaltungsbehörde zu erhalten und nach deren Weigerung erfolglos ein Verfahren nach § 62 OWiG durchgeführt, so dass auch diese Voraussetzung für das Bestehen eines Einsichtsrechts in die gesamte Messreihe erfüllt ist.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 467 Abs. 1 StPO analog, 46 Abs. 1 OWiG.

IV.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Eine weitere Beschwerde ist nicht zulässig (§§ 310 Abs. 2 StPO, 46 Abs. 1 OWiG).

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