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  • 07.01.2009 · IWW-Abrufnummer 090063

    Bundesgerichtshof: Urteil vom 04.11.2008 – VI ZR 171/07

    Zur Rücksichtnahme von Radfahrern gegenüber Fußgängern auf lediglich farblich getrennten Rad- und Fußwegen im Sinne des Zeichens 241 zu § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO.


    BUNDESGERICHTSHOF
    IM NAMEN DES VOLKES
    URTEIL

    VI ZR 171/07

    Verkündet am:
    4. November 2008

    in dem Rechtsstreit

    Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 4. November 2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll

    für Recht erkannt:

    Tenor:

    Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Juni 2007 aufgehoben.

    Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

    Von Rechts wegen

    Tatbestand:

    Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines Fahrradunfalls vom 1. September 2004 auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.

    Der Kläger fuhr mit seinem Fahrrad auf einem farblich markierten Radweg auf eine Bushaltestelle zu, die sich aus seiner Sicht links neben dem Radweg befand. Die Beklagte stand zu diesem Zeitpunkt auf der gepflasterten Freifläche der Bushaltestelle mit dem Rücken zum Kläger dicht am Radweg und unterhielt sich mit zwei Personen, die sich rechts vom Radweg auf dem Gehweg in Höhe eines Kiosks aufhielten. Als sich der Kläger der Personengruppe bis auf eine Entfernung von 10 m genähert hatte, klingelte er, um auf sich aufmerksam zu machen. Seine Geschwindigkeit reduzierte er nicht. Im Zuge seiner weiteren Annäherung machte die Beklagte eine Körperbewegung in Richtung auf den Radweg, wobei sie diesen nur leicht mit dem Fuß berührte. Der Kläger machte infolgedessen eine Vollbremsung, bei der das Vorderrad blockierte, das Fahrrad vornüber kippte und der Kläger über den Fahrradlenker zu Boden stürzte.

    Der Kläger, der keinen Fahrradhelm trug, erlitt einen Unfallschock, eine Schürfwunde am Stirnbein rechts, eine Risswunde am rechten Ohr durch einen Brillenbügel, eine Prellung und Hämatome an der Schulter, eine Quetschung der Rotatorenmanschette sowie eine Prellung des linken Zeigefingers. Bereits vor dem Unfall war der Kläger auf dem rechten Ohr völlig taub und auf dem linken teilweise hörgeschädigt. Der Kläger hat zunächst mit seiner Klage ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 5.000 ¤, sowie eine Verurteilung der Beklagten zum Ersatz seines materiellen Schadens in Höhe von 120,67 ¤ geltend gemacht. Das Landgericht hat dem Kläger unter Berücksichtigung eines mit 70 % bewerteten Mitverschuldens ein Schmerzensgeld in Höhe von 300 ¤ und auf den geltend gemachten materiellen Schaden einen Betrag von 36,20 ¤ zuerkannt. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers, mit der er den Mindestbetrag des Schmerzensgeldes auf 3.000 ¤ reduziert hat, hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 ¤ und den geltend gemachten materiellen Schaden von 120,67 ¤ in vollem Umfang zugesprochen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden hat.

    Entscheidungsgründe:

    I.

    Das Berufungsgericht, dessen Urteil in NZV 2007, 614 veröffentlicht ist, meint, die Beklagte hafte in vollem Umfang für alle unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden des Klägers; dieser müsse sich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Mitverschulden an der Entstehung des Schadens anspruchsmindernd anrechnen lassen. Die Beklagte, die hinsichtlich eines Mitverschuldens des Klägers darlegungs- und beweisbelastet sei, habe nicht bewiesen, dass der Kläger unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO ein höheres Ausgangstempo als die von ihm eingeräumte Annäherungsgeschwindigkeit von 15 km/h innehatte. Die von der Beklagten beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Nachweis ihrer Behauptung, der Kläger sei annähernd doppelt so schnell wie von ihm behauptet gefahren, sei nicht veranlasst, denn es fehle an den für eine unfallanalytische Auswertung notwendigen Anknüpfungstatsachen. Die Höhe der vom Kläger eingeräumten Annäherungsgeschwindigkeit von 15 km/h sei nicht zu beanstanden. Dem Kläger könne nicht angelastet werden, in einer Überreaktion fehlerhaft gebremst zu haben. Der Umstand, dass die Reaktion des Klägers zur Vermeidung einer befürchteten Kollision möglicherweise heftiger ausgefallen sei als nach den Umständen objektiv erforderlich, gereiche dem Kläger nicht zum Vorwurf eines mitwirkenden Verschuldens. Der Kläger habe aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert, weil die Beklagte in einer für den herannahenden Kläger überraschenden - weil unter Missachtung des vorherigen Klingelzeichens erfolgenden - Weise eine Körperbewegung in Richtung auf den Radweg gemacht habe, nachdem sie sich zuvor gefahrenneutral verhalten habe. Entgegen der Auffassung des Landgerichts habe der Kläger auf die sich ihm darbietende Situation nicht mit einer Verlangsamung seines Tempos reagieren müssen. Zwar treffe es zu, dass sich der Kläger im Grenzbereich zwischen Bushaltestelle und Radweg einer Verkehrssituation genähert habe, aus der sich potentiell eine Begegnungs- und Kollisionsgefahr hätte ergeben können. Es hätten jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Beklagte den Fahrradweg überqueren werde. Deshalb habe der Kläger davon ausgehen können, dass die Beklagte sein Klingelzeichen hören und sich weiterhin verkehrsgerecht verhalten werde. Eine Pflicht zu einer gesteigerten Rücksichtnahme auf die Beklagte als Fußgängerin habe nicht bestanden. Zwar hätten auf einem gemeinsamen Rad- und Gehweg Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen. Im vorliegenden Fall habe es sich jedoch um einen getrennten Rad- und Fußweg gehandelt. Da die Beklagte ihren gefahrenneutralen Standort zunächst unverändert beibehalten habe, sei keine weitergehende Rücksichtnahme seitens des Klägers geboten gewesen. Dem Kläger könne auch keine Obliegenheitsverletzung aufgrund des Umstandes angelastet werden, dass er bei dem Unfallereignis keinen Fahrradhelm getragen habe. Zum einen habe der Kläger nicht zu den besonders gefährdeten Radfahrergruppen gehört, von welchen ohne weiteres abverlangt werden könne, zum eigenen Schutz vor Unfallverletzung einen Fahrradhelm zu tragen. Zum anderen lasse sich nicht feststellen, dass der Eintritt der durch den Kläger sturzbedingt erlittenen Verletzungen durch den Schutz eines Helms hätte verhindert werden können.

    II.

    Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen liegt ein Mitverschulden des Klägers an seinem Sturz vom Fahrrad vor.

    1. Allerdings hat die Revision keinen Erfolg, soweit sie dem Kläger im Gegensatz zum Berufungsgericht ein Mitverschulden anlasten will, weil dieser schneller als die vom Berufungsgericht festgestellten 15 km/h gefahren sei und zudem keinen Fahrradhelm getragen habe.

    a) Die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe verfahrensfehlerhaft das beantragte verkehrstechnische Sachverständigengutachten zu der behaupteten höheren Geschwindigkeit nicht eingeholt, scheitert bereits daran, dass hierfür - wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat - die notwendigen Anknüpfungstatsachen fehlten. Allein die Tatsache, dass der Kläger bei seiner Notbremsung mit blockierendem Vorderrad vornüber vom Fahrrad stürzte, reicht hierfür nicht aus. Dass dies auch bei einer "normalen" Geschwindigkeit von 15 km/h geschehen kann, liegt auf der Hand und bedarf nicht - wie die Revision vom Berufungsgericht verlangt - der Darlegung besonderer Sachkunde.

    b) Auch das Nichttragen eines Fahrradhelms vermag unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Mitverschulden des Klägers zu begründen. Nach der bisher herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung begründet das Radfahren ohne Schutzhelm - zumindest bei Erwachsenen - nicht oder zumindest nicht ohne weiteres - den Vorwurf des Mitverschuldens (vgl. OLG Hamm NZV 2001, 86; OLG Hamm NZV 2002, 129, 131; OLG Stuttgart VRS 97 (1999), 15, 18; OLG Nürnberg DAR 1991, 173; OLG Nürnberg DAR 1999, 507; OLG Karlsruhe NZV 1991, 25; OLG Düsseldorf NZV 2007, 619; OLG Saarbrücken NZV 2008, 202, 303). Das Berufungsgericht hat hierzu - insbesondere bedingt durch die zunehmende Akzeptanz des Tragens von Fahrradhelmen - einen differenzierten Standpunkt eingenommen, indem es zwischen dem "normalen" Freizeitfahrer, der sein Gefährt als normales Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr ohne sportliche Ambitionen einsetzt und sportlich ambitionierteren Fahrern, wie etwa Rennradfahrern, unterscheiden und nur bei letzteren eine Obliegenheitsverletzung beim Nichttragen von Schutzhelmen annehmen will. Ob dieser Auffassung zu folgen ist (zur Kritik vgl. etwa Kettler, Recht für Radfahrer, 2. Aufl., S. 151 f.), kann im vorliegenden Fall jedoch offen bleiben. Denn nach den vom Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen hätte das Tragen eines Fahrradhelms nicht den Eintritt der Verletzungen verhindern können, die der Kläger durch seinen Sturz erlitten hat. Danach wurde der beim Kläger linksseitig eingetretene Hörsturz durch das Unfallgeschehen lediglich psychisch vermittelt. Für die übrigen Verletzungen kommt ein Ursachenzusammenhang mit dem Nichttragen eines Fahrradhelms nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ebenfalls nicht in Betracht.

    2. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen des Berufungsgerichts, der Kläger habe sich in einer für ihn "gefahrenneutralen" Situation mit der Abgabe eines Klingelzeichens begnügen und ohne Reduzierung seiner Geschwindigkeit weiterfahren dürfen. Soweit das Berufungsgericht meint, seine Überreaktion gereiche dem Kläger deshalb nicht zum Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB, kann dem aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.

    a) Das Berufungsgericht geht zwar im Ansatz zutreffend davon aus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers - hier in Form einer zu heftigen und objektiv nicht erforderlichen Bremsreaktion - dann kein Verschulden darstellt, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (vgl. das vom Berufungsgericht zitierte Senatsurteil vom 16. März 1976 - VI ZR 62/75 - VersR 1976, 734 m.w.N. zum plötzlichen Platzen eines Reifens während der Fahrt sowie Senatsurteile vom 7. Februar 1967 - VI ZR 132/65 - VersR 1967, 457, 458; vom 24. Februar 1987 - VI ZR 19/86 - VersR 1988, 291 und vom 18. November 2003 - VI ZR 31/02 - VersR 2004, 392). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lag jedoch eine solche ohne Verschulden des Klägers eingetretene und für ihn nicht voraussehbare Gefahrenlage nach den Umständen des Streitfalles nicht vor (vgl. Senatsurteil vom 18. November 2003 - VI ZR 31/02 - aaO).

    b) Es handelte sich nämlich nicht - wie das Berufungsgericht meint - um eine "gefahrenneutrale" Situation, bei welcher der Kläger ohne Verlangsamung seiner Geschwindigkeit mit gleich bleibendem Tempo weiterfahren durfte im Vertrauen darauf, die Beklagte werde sich nicht weiter in Richtung Fahrradweg bewegen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist im Bereich der Unfallstelle der Radweg von den angrenzenden - dem Fußgängerverkehr vorbehaltenen - Verkehrsflächen, links von der Bushaltestelle und rechts von dem relativen schmalen Gehweg, weder räumlich noch baulich abgetrennt. Vielmehr ist der Radweg als Sonderweg allein durch eine anders farbige Aufpflasterung von den übrigen Verkehrsflächen abgesetzt. Die Beklagte stand nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aus Sicht des Klägers im Bereich der Bushaltestelle bereits dicht am Radweg, wandte ihm den Rücken zu und unterhielt sich mit zwei Personen, die rechts neben dem Radweg auf dem Fußweg in der Nähe eines dort befindlichen Kiosks standen. Nach der eigenen Einschätzung des Berufungsgerichts näherte sich der Kläger damit im Grenzbereich zwischen Bushaltestelle, Radweg und Fußgängerweg einer Verkehrssituation, aus der sich potentiell eine Begegnungs- und Kollisionsgefahr ergeben konnte. Die dicht neben dem Radweg stehende Beklagte hatte keinen Sichtkontakt zum Kläger und war durch ein Gespräch abgelenkt. Der Kläger sah sich durch die Situation veranlasst, 10 Meter vor der besagten Stelle ein Klingelzeichen abzugeben, was darauf schließen lässt, dass er sich einer Kollisionsgefahr durchaus bewusst war. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe unter diesen Umständen davon ausgehen dürfen, dass die Beklagte auf sein aus der Entfernung abgegebenes Klingelzeichen hören und keine weitere Bewegung in Richtung Radweg machen werde, wird - wie die Revision mit Recht rügt - von den getroffenen Feststellungen nicht getragen. Denn diesen ist nicht zu entnehmen, dass der Kläger durch eine Reaktion der Beklagten - etwa durch Aufnahme von Blickkontakt - davon ausgehen konnte, dass diese sein Klingelzeichen wahrgenommen hatte. Unter diesen Umständen bedurfte es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keiner weiteren konkreten Anhaltspunkte für ein bevorstehendes Überqueren des Radweges durch die Beklagte. Es reichte vielmehr aus, dass die konkrete Gefahr bestand, dass sie - abgelenkt durch das Gespräch - bereits durch eine geringfügige Körperbewegung auf den Radweg gelangen konnte.

    c) Nicht frei von Rechtsfehlern sind schließlich auch die Ausführungen des Berufungsgerichts betreffend die Sorgfaltsanforderungen an Radfahrer bei - wie im vorliegenden Fall - getrennten Rad- und Fußwegen im Sinne des Zeichens 241 zu § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO, bei denen das Fahrradsymbol von dem Fußgängersymbol durch einen senkrechten weißen Strich getrennt ist. Zwar geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass es in § 41 Abs. 2 Nr. 5 Buchst. c StVO lediglich heißt, auf einem "gemeinsamen" Rad- und Gehweg (Zeichen 240 mit einer Trennung des Fußgänger- und Fahrradsymbols durch einen waagrechten Strich) hätten Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen. Daraus lässt sich jedoch nicht der Umkehrschluss ziehen, dass auf getrennten Rad- und Fußwegen im Sinne des Zeichens 241 zu § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO Radfahrer auf Fußgänger (generell) keine Rücksicht zu nehmen hätten.

    Nach § 1 Abs. 2 StVO hat sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Darüber hinaus gilt auch für einen Fahrradfahrer, dass dieser nur so schnell fahren darf, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht und innerhalb der übersehbaren Strecke anhalten kann (vgl. § 3 Abs. 1 StVO).

    Werden Rad- und Fußgängerwege auf jeweils nur optisch voneinander getrennten Verkehrsflächen so dicht aneinander vorbeigeführt, dass - wie das Berufungsgericht selbst zutreffend ausführt - im innerstädtischen Begegnungsverkehr abstrakt gefährliche Situationen zwangsläufig zu erwarten sind, können ähnliche Situationen entstehen wie auf gemeinsamen Rad- und Gehwegen. Solche Situationen begründen eine vergleichbare Pflicht zur Rücksichtnahme von Radfahrern auf Fußgänger jedenfalls dann, wenn sich das abstrakte Gefährdungspotential zu einer kritischen Situation verdichtet. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war dies nach den vorstehenden Ausführungen der Fall. Der mithin nach § 1 Abs. 2 StVO gebotenen Rücksichtsnahme hat der Kläger nicht schon - wie das Berufungsgericht meint - dadurch Genüge getan, dass er in einer Entfernung von 10 Metern durch Klingelzeichen auf sich aufmerksam machen wollte. Ohne erkennbare Reaktion der Beklagten auf dieses Klingelzeichen war er vielmehr gehalten, seine Geschwindigkeit zu reduzieren und sich bremsbereit zu verhalten. Dies wird das Berufungsgericht bei seiner erneuten Abwägung zu berücksichtigen haben.

    3. Bei der gebotenen Abwägung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB ist in erster Linie das Maß der Verursachung maßgeblich, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. etwa Senatsurteil vom 9. Juli 1968 - VI ZR 171/67 - VersR 1968, 1093, 1094 m.w.N.; vom 20. Januar 1998 - VI ZR 59/97 - VersR 1998, 474, 475). Es kommt danach für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (vgl. Senatsurteile vom 20. Januar 1998 - VI ZR 59/97 - aaO; vom 12. Juli 1988 - VI ZR 283/87 - VersR 1988, 1238, 1239 m.w.N.). Die unter diesem Gesichtpunkt vorzunehmende Abwägung kann zwar in besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss (vgl. Senatsurteil vom 20. Januar 1998 - VI ZR 59/97 - aaO). Unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung gemäß § 254 BGB ist eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten aber nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen (Senatsurteile vom 21. Februar 1995 - VI ZR 19/94 - VersR 1995, 583, 584 und vom 7. Februar 2006 - VI ZR 20/05 - VersR 2006, 663). Ob ein vollständiger Haftungsausschluss gerechtfertigt ist, kann jeweils nur nach einer umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles entschieden werden (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1991 - VI ZR 69/91 - VersR 1992, 371, 372 und vom 7. Februar 2006 - VI ZR 20/05 - aaO). Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen ist eine völlige Haftungsfreistellung des Klägers im Streitfall nicht gerechtfertigt.

    Danach beschränkt sich der Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeitrag der Beklagten darauf, dass sie mit dem Rücken zum Kläger dicht am Fahrradweg stand und aus Unaufmerksamkeit eine Bewegung machte, durch die sie mit einem Fuß den Radweg leicht berührte. Demgegenüber fallen dem Kläger mehrere Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeiträge für seinen Sturz vom Fahrrad zur Last. Zum einen hat er die in der konkreten Situation gebotene Sorgfalt nicht beachtet, seine Geschwindigkeit nicht herabgesetzt und sich nicht bremsbereit verhalten. Danach hat er eine seinen Sturz verursachende Vollbremsung vorgenommen, obwohl die Beklagte den Radweg tatsächlich gar nicht überquert oder betreten hat. Dabei hat er in einer Art und Weise gebremst, dass das Vorderrad blockierte und das Hinterrad fast senkrecht über dem Vorderrad stand, was nach dem ersten Anschein jedenfalls dafür spricht, dass der Kläger Vorder- und Hinterradbremse nicht gleichzeitig und gleichmäßig betätigt hat. Und schließlich äußert das Berufungsgericht aufgrund seiner Berechnungen selbst Bedenken gegen die Richtigkeit der Behauptung des Klägers, auf der ihm nach einer "Schrecksekunde" verbliebenen Restdistanz von nur noch knapp 6 m zu der Position der Beklagten wäre es - wenn diese den Radweg betreten hätte - ohne seine Vollbremsung mit dem anschließenden Sturz vom Fahrrad unweigerlich zu einem Zusammenprall gekommen.

    III.

    Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Der Senat ist an einer abschließenden Entscheidung gehindert, weil die Bewertung der Mitverursachungs- und Mitverschuldensanteile im Rahmen des § 254 BGB grundsätzlich Sache des Tatrichters ist. Deshalb ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

    RechtsgebieteBGB, StVOVorschriftenBGB § 254 Abs. 1, StVO § 1 Abs. 2, StVO § 3 Abs. 1, StVO § 41 Abs. 2 Nr. 5