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17.09.2010 · IWW-Abrufnummer 102707

Oberlandesgericht Bamberg: Beschluss vom 01.06.2010 – 3 Ss OWi 814/10

1. Macht der Betroffene geltend, aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers eine innerorts angeordnete Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers übersehen zu haben, kommt die Berufung auf ein Augenblicksversagen nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Betroffene zugleich die nach § 3 III Nr. 1 StVO innerhalb geschlossener Ortschaften gültige Höchstgeschwindigkeit von 50km/h deutlich (hier: um 30 %) überschritten hat.



2. Will das Tatgericht in einem derartigen Fall von einem Fahrverbot absehen, sind Feststellungen dazu zu treffen, weshalb gerade für den konkreten innerörtlichen Straßenabschnitt die Begrenzung angeordnet war und ob sich diese Gründe für den Betroffenen, etwa aufgrund der Örtlichkeit oder sonstiger Gegebenheiten, nicht ohnehin aufdrängen mussten.


Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 1. 6. 2010 - 3 Ss OWi 814/10

Zum Sachverhalt:
Das AG verurteilte den Betr. am 18.02.2010 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 360 Euro. Von dem im Bußgeldbescheid neben einer Geldbuße von 160 Euro angeordneten Fahrverbot von einem Monat sah es demgegenüber ab. Nach den Feststellungen befuhr der Betr. mit einem Pkw am 02.07.2009 um 22.14 Uhr in R. die O.-Straße, wobei er die dort durch Zeichen 274 angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h aus Unachtsamkeit um 35 km/h überschritt. Die gemäß § 79 I 1 Nr. 3 OWiG statthafte und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde der StA, mit der sie beanstandet, dass das AG von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen hat, erwies sich als erfolgreich.

Aus den Gründen:
1. Zwar hat das AG nicht verkannt, dass gegen den Betr. hier gemäß § 25 I 1 StVG, § 4 I 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. Nr. 11.3.6 der Tab. 1c zum BKat die Anordnung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in der Regel in Betracht kam. Auch geht die Tatrichterin zutreffend davon aus, dass auch in den Fällen des § 4 I 1 BKatV in der Tat nicht ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhängen ist. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen. Denn die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters besondere Umstände ergibt, nach denen es ausnahmsweise der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots im Einzelfall nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Der Tatrichter hat innerhalb des ihm eingeräumten Bewertungsspielraums die Wertungen nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen zu treffen. Seine Entscheidung kann vom Rechtsbeschwerdegericht deshalb nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt, die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat. In danach verbleibenden Zweifelsfällen hat das Rechtsbeschwerdegericht die Bewertung des Tatrichters zu respektieren, und zwar auch dann, wenn es selbst hinsichtlich der Frage des Fahrverbots zu einem abweichenden Ergebnis gelangte.
2. Andererseits ist die Vorbewertung des Verordnungsgebers, der in § 4 I 1 BKatV bestimmte Verhaltensweisen als grobe Pflichtverletzungen ansieht, bei denen regelmäßig die Anordnung eines Fahrverbots in Betracht kommt, von den Gerichten zu beachten (BGHSt 38, 125/130 und 231/235; BayObLG VRS 104, 437 f.). Entsprechend der Intention des Verordnungsgebers wird deshalb grundsätzlich – soweit der Tatbestand des § 4 I 1 Nr. 1 BKatV (hier i.V.m. Nr. 11.3.6 der Tab. 1c zum BKat) erfüllt ist – das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne des § 25 I 1 StVG indiziert, so dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf.
3. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben vermögen hier jedenfalls die bisherigen Feststellungen des AG eine Ausnahme von der gebotenen Verhängung des Regelfahrverbots wegen eines groben Pflichtenverstoßes (noch) nicht zu rechtfertigen. Insbesondere kann ein den Betr. im Einzelfall privilegierendes sog. Augenblicksversagen im Sinne der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 43, 241/250 ff.; zu den gesteigerten Darlegungsanforderungen vgl. BayObLGSt 1999, 4, 5 ff.; 2000, 106, 107 f. und DAR 2000, 577; vgl. auch OLG Bamberg VRR 2007, 113 ff. = VerkMitt. 2007 Nr. 57) nicht anerkannt werden. Nach den Urteilsgründen hat sich der Betr. darauf berufen, „das die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschränkende Verkehrszeichen übersehen zu haben, bzw. nicht bewusst wahrgenommen zu haben“. Ein Wahrnehmungsfehler kann den Betr. allerdings nur dann entlasten, wenn dieser seinerseits nicht als pflichtwidrig anzusehen wäre. Auf nur einfache Fahrlässigkeit kann sich nämlich derjenige nicht berufen, welcher die an sich gebotene Aufmerksamkeit in grob pflichtwidriger Weise unterlassen hat (BGHSt 43, 241 ff.). Wer etwa während der Fahrt sein Autotelefon benutzt, intensiv auf Wegweiser achtet, sich durch ein am Straßenrand liegen gebliebenes Fahrzeug ablenken lässt oder in einen Kreuzungsbereich zu schnell einfährt, kann nicht geltend machen, er habe nur versehentlich ein Verkehrszeichen nicht wahrgenommen. Denn durch sein vorheriges sorgfaltswidriges Verhalten hat er selbst in grob nachlässiger Weise zu seiner eigenen Unaufmerksamkeit beigetragen (vgl. OLG Karlsruhe DAR 2007, 529 f. = VRS 113, Nr. 46 m.w.N.). Der vorliegende Fall kann im Ansatz wertungsmäßig jedoch nicht anders beurteilt werden: Denn der Betr. hat die von ihm (irrtümlich) angenommene und innerhalb geschlossener Ortschaften gemäß § 3 III Nr. 1 StVO für alle Kraftfahrzeuge gleichermaßen gültige zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit 15 km/h zwar nicht erheblich, aber doch deutlich, nämlich um immerhin 30 %, überschritten, obwohl sich der Betr. darüber, seinen Pkw auf einer innerhalb geschlossener Ortschaften gelegenen Straße zu führen, ersichtlich nicht geirrt hat. Bei dieser indiziell mindestens auf Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit des Betr. gegenüber bestehenden Verkehrsvorschriften hindeutenden Sachlage durfte seitens des AG jedenfalls auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen noch nicht von einem nur auf einer augenblicklichen Unaufmerksamkeit beruhenden und deshalb die Annahme eines sog. Augenblicksversagens rechtfertigenden Verkehrsverstoß des Betr. ausgegangen werden. Vielmehr beruht der Verkehrsverstoß in einem solchen Fall gerade nicht mehr auf einem subjektiv ‚nur’ augenblicklichen, also leicht fahrlässigen Übersehen oder Verwechseln des Vorschriftszeichens (vgl. Deutscher in Burhoff , Hdb. für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl., Rn. 959 ff., insbes. Rn. 961 ff. und Rn. 983 ff. ). Hieran ändert für sich genommen auch die ergänzende Feststellung des AG nichts, dass das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzende Verkehrszeichen „vor der Messstelle nicht mehrfach wiederholt worden“ sei, zumal die unmittelbar vorausgehende Erwägung, wonach auch zu berücksichtigen gewesen sei, „dass die äußeren Umstände nicht zwingend auf eine Geschwindigkeitsbeschränkung hindeuteten“, sondern „diese (…) ‚lediglich’ eingerichtet worden“ sei, „um Anwohner vor Unfallgefahren oder übermäßigen Lärmbelästigungen zu schützen“, für den Senat nicht nachzuvollziehen ist (zur Frage eines Augenblicksversagens bei einer gemäß § 45 I 2 Nr. 3 StVO allein aus Gründen des Lärmschutzes angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkung vgl. im Übrigen OLG Bamberg, Beschluss vom 21.11.2006 – 3 Ss OWi 1516/06 = VRR 2007, 113 ff. = VerkMitt. 2007 Nr. 57 = DAR 2007, 94 = NStZ-RR 2007, 123 sowie schon KG VRS 109, 132 f.). Soweit das AG schließlich „insbesondere“ darauf abstellt, dass aufgrund der fehlenden Einträge im Verkehrszentralregister davon auszugehen sei, dass es sich bei dem Betr. um einen pflichtbewussten Verkehrsteilnehmer handelt, vermag auch diese Erwägung weder isoliert noch in der Zusammenschau mit weiteren Umständen ein privilegierendes Augenblicksversagen zu begründen.
4. Das AG wird deshalb weitergehende Feststellungen dazu zu treffen haben, weshalb gerade für den konkreten innerörtlichen Straßenabschnitt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h angeordnet war und ob sich diese Gründe für den Betr., etwa aufgrund der Örtlichkeit oder sonstiger Gegebenheiten (z.B. Fahrbahnbeschaffenheit, Ausbauzustand, Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich, Schule oder Kindergarten, Baustelle, Unfallhäufigkeit, polizeiliche Kontrollstelle oder Staugefahr), nicht ohnehin aufdrängen mussten. Auf Feststellungen dieser Art darf grundsätzlich nicht verzichtet werden, weil durch die (möglicherweise vorschnelle) Anerkennung einer Ausnahme von dem Grundsatz, dass die in den Verkehrszeichen enthaltenen Gebote oder Verbote in aller Regel auch wahrgenommen werden, ansonsten dazu führte, dass die vom Verordnungsgeber der BKatV eingeführte Indizwirkung der Regelbeispiele als Regel-Ausnahme-Verhältnis unterlaufen würde.
5. Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels ist auf die Rechtsbeschwerde der StA das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben; wegen der Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbuße betrifft die Aufhebung den gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen (§ 79 III 1 OWiG, § 353 StPO). Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das AG zurückverwiesen (§ 79 VI OWiG). Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt, da in der neuen Verhandlung neben den bereits angesprochenen weiteren Feststellungen auch noch Feststellungen zu der Frage getroffen werden können, ob ein einmonatiges Fahrverbot für den Betr. - auch unter Berücksichtigung der hier nach Sachlage eröffneten Möglichkeiten nach § 25 IIa 1 StVG - eine unverhältnismäßige Härte darstellt (zu den insoweit gesteigerten Darlegungsanforderungen vgl. allerdings u.a. Senatsbeschluss vom 11.04.2006 - 3 Ss OWi 354/2006 = VRR 2006, 230 ff. = DAR 2006, 515 f. = ZfSch 2006, 533 ff. m.w.N.).

RechtsgebieteStPO, StVG, StVO, BKatV, BKatVorschriftenStPO § 267 III; StVG § 25 I 1; StVO § 3 III Nr. 1; BKatV § 4 I 1 Nr. 1; BKat Nr. 11.3.6 Tab. 1c

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