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29.01.2009 · IWW-Abrufnummer 090420

Bundesfinanzhof: Urteil vom 30.07.2008 – V R 7/03

1. Aus den im Steuerrecht allgemein geltenden Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes ergibt sich, dass die Steuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht versagt werden darf, wenn der liefernde Unternehmer die Fälschung des Ausfuhrnachweises, den der Abnehmer ihm vorlegt, auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht hat erkennen können (Änderung der Rechtsprechung; Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 21. Februar 2008 Rs. C-271/06, Netto Supermarkt GmbH & Co. KG, BFH/NV Beilage 2008, 199).



2. Ob die Voraussetzungen hierfür gegeben sind, ist im Erlassverfahren zu prüfen.


Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um den Erlass von Umsatzsteuer, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) gegen die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wegen des Fehlens der Voraussetzungen für steuerfreie Ausfuhrlieferungen festgesetzt hat.

Die Klägerin betreibt Discount-Supermärkte. In den Jahren 1992 bis 1998 erstattete sie folgende Umsatzsteuerbeträge (gerundet) an ihre Kunden:

1992|... DM,
1993|... DM,
1994|... DM,
1995|... DM,
1996|... DM,
1997|... DM,
1998|... DM.

Betriebsintern hatte sie festgelegt, dass sie die Umsatzsteuer im nichtkommerziellen Reiseverkehr nur erstattet, wenn sich der Stempelaufdruck hälftig auf dem Bon und dem Zollformular befindet und der ausländische Bürger seinen Pass vorlegt. Diese Regelungen führte sie vor dem Erscheinen des Merkblatts des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) zur Umsatzsteuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr vom 18. März 1999 IV D 2 S -7133- 4/99 (BStBl I 1999, 289) ein, in dem Empfehlungen für den Nachweis der Ausfuhr im nichtkommerziellen Reiseverkehr enthalten sind.

Die Leiterin der Buchhaltung und der Verwaltungsleiter der Klägerin suchten am 12. August 1998 das Hauptzollamt (HZA) auf, um festzustellen, ob der häufig auftretende Zollstempel Nr. 73 und die dazu gehörenden Papiere der Zollbehörde gefälscht waren. Nachdem die Gesprächspartnerin im HZA die Stempel für echt gehalten hatte, informierte das HZA am 29. September 1998 den Verwaltungsleiter der Klägerin, die von der Klägerin übergebenen Unterlagen seien nach nochmaliger Prüfung als gefälscht erkannt worden. Die Angelegenheit wurde sodann der Steuerfahndungsstelle übergeben. Diese ermittelte mit Hilfe sog. Stempelfolien, dass ein erheblicher Teil der Ausfuhrnachweise in den Jahren 1993 bis 1998 von polnischen Staatsbürgern nachgefertigt bzw. die Ausfuhrnachweise mit einem falschen Zollstempel versehen worden waren. Die Steuerfahndungsstelle stellte fest, dass die polnischen Staatsbürger Einkäufe und Ausfuhren vorspiegelten, indem sie liegen gebliebene Kassenbons auf den Parkplätzen, in den Einkaufskörben und den Papierkörben der Supermärkte einsammelten, zum Teil mit gefälschten Vordrucken und gefälschten Zollstempeln Ausfuhrnachweise "fertigten", diese mit Namen und Anschrift des jeweiligen polnischen Staatsbürgers versahen und die Erstattung der Umsatzsteuer von der Klägerin beantragten und gewährt bekamen.

Mit (geänderten) Umsatzsteuerbescheiden vom 11. Oktober 1999 für die Jahre 1993 bis 1997 und Vorauszahlungsbescheid vom 12. November 1999 für den Monat Dezember 1998 setzte das FA daraufhin Umsatzsteuer fest.

Den von der Klägerin beantragten Erlass der nachgeforderten Umsatzsteuer für die Jahre 1993 bis 1998 lehnte das FA mit Bescheid vom 14. Februar 2000 ab. Der Einspruch dagegen hatte zum Teil Erfolg. Das FA erließ die Umsatzsteuernachforderung für die Jahre 1993 und 1994, weil für diese Jahre eine Betriebsprüfung durchgeführt worden war und die Steuerbescheide nicht mehr hätten geändert werden dürfen. Die Zinsen (1993 bis 1997) erließ das FA, weil der Klägerin nur ein fiktiver Liquiditätsvorteil entstanden war.

Im Übrigen wies das FA den Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide 1995 bis 1998 zurück. Zur Begründung führte es aus, die Einziehung sei nicht sachlich unbillig. Die Klägerin schulde die Steuer, da sie keinen ordnungsgemäßen Ausfuhrnachweis habe erbringen können. Die Durchsetzung des Anspruches aus dem Steuerschuldverhältnis unter den besonderen Umständen des Einzelfalles laufe den gesetzlichen Wertungen nicht zuwider.

Der Zeitraum von 1993 bis 1998, in dem die Klägerin nicht bemerkt habe, dass ein erheblicher Teil der Ausfuhrpapiere von polnischen Staatsbürgern nachgefertigt und mit einem falschen Zollstempel versehen worden sei, sei lang andauernd. Zudem sei die Erstattung von Umsatzsteuer in Höhe von 223 390 DM an polnische Staatsbürger ein erheblicher Schaden. Der Schaden sei nicht durch die falsche Auskunft der Zollbehörden verursacht worden. Die Maßnahmen, die die Klägerin ergriffen habe, hätten nicht ausgereicht. Bei angemessener Sorgfalt hätte ein über Jahre andauernder Betrug verhindert werden können. Zwar seien die Vorschriften des § 8 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV) eingehalten worden, der Echtheit der abgestempelten Ausfuhrnachweise sei jedoch zu wenig Bedeutung geschenkt worden. Erst nach Jahren sei den aufgekommenen Zweifeln nachgegangen worden.

Die Klägerin müsse sich zurechnen lassen, dass sie die ungerechtfertigte Auszahlung der Umsatzsteuern mitverschuldet habe, auch wenn durch ihr Handeln weiterer Schaden verhindert worden sei. Die Umsatzsteuer könne zurückgefordert werden, auch wenn die Klägerin wesentlich zur Aufklärung des Sachverhaltes beigetragen habe. Dieser Umstand müsse nur im Strafprozess positiv bedacht werden, für einen Erlass der gesamten Umsatzsteuern reiche dies jedoch nicht. Eine analoge Anwendung des § 6a Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG 1993) komme nicht in Betracht. Dort sei ebenfalls Voraussetzung, dass der Unternehmer die Unrichtigkeit der Angaben des Abnehmers auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht habe erkennen können. Davon abgesehen handele es sich um keine planwidrige Lücke im Gesetz. Die Vertrauensschutzregelung in § 6a Abs. 4 UStG 1993 für die innergemeinschaftliche Lieferung beruhe auf der Überlegung, dass die Steuerforderungen im EU-Binnenmarkt leichter realisierbar seien als bei Lieferungen in Drittstaaten, die dem § 6 UStG 1993 unterlägen.

Die auf den Erlass der Umsatzsteuernachforderungen nach § 227 der Abgabenordnung (AO) für die Jahre 1995 bis 1998 gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, die Einziehung der Umsatzsteuer sei auch dann nicht sachlich unbillig, wenn die Klägerin nicht gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen haben sollte. Auch in diesem Fall entspreche die Einziehung der Steuer den Wertungen des Gesetzes.

Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, das Urteil des FG verletze materielles Recht und Verfahrensrecht. Das FG habe die Lieferungen an polnische Abnehmer in analoger Anwendung des § 6a Abs. 4 UStG 1993 als steuerfrei behandeln müssen.

Im Übrigen seien die Voraussetzungen einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gegeben.

Der Senat hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) die folgende Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorgelegt:

"Stehen die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung bei Ausfuhren in ein Drittland einer Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitswege durch den Mitgliedstaat entgegen, wenn zwar die Voraussetzungen der Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige deren Fehlen aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes nicht erkennen konnte?"

Der EuGH hat diese Frage in seinem Urteil vom 21. Februar 2008 Rs. C-271/06, Netto Supermarkt GmbH & Co. KG (BFH/NV Beilage 2008, 199) wie folgt beantwortet:

"Art. 15 Nr. 2 der ... Richtlinie 77/388/EWG ... in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG vom 10. April 1995 ist dahin auszulegen, dass er der von einem Mitgliedstaat vorgenommenen Mehrwertsteuerbefreiung einer Ausfuhrlieferung nach einem Ort außerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht entgegensteht, wenn zwar die Voraussetzungen für eine derartige Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige dies aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns infolge der Fälschung des vom Abnehmer vorgelegten Nachweises der Ausfuhr nicht erkennen konnte."

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des FG sowie die Einspruchsentscheidung vom 3. Mai 2000 und den Ablehnungsbescheid vom 14. Februar 2000 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Umsatzsteuer für 1995 um ... EUR, die Umsatzsteuer für 1996 um ... EUR, die Umsatzsteuer für 1997 um ... EUR und die Umsatzsteuer für 1998 um ... EUR herabzusetzen.

Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Das FA ist der Ansicht, die Voraussetzungen eines Erlasses seien auch nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils Netto Supermarkt GmbH & Co. KG in BFH/NV Beilage 2008, 199 nicht erfüllt. Die Klägerin habe die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht beachtet, weil von ihr nicht im ausreichenden Umfang geprüft worden sei, ob der Inhaber der Zollpapiere auch der tatsächliche Abnehmer der Waren gewesen sei.

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass die Klägerin auch dann keinen Anspruch auf den begehrten Erlass habe, wenn ihr kein Verstoß gegen ihre Sorgfaltspflichten zur Last fiele. Die Sache ist nicht spruchreif. Der Senat kann aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die Klägerin alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihr getätigten Umsätze nicht zu einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen und die Einziehung der Umsatzsteuer deshalb unbillig ist.

1.

Nach § 163 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Unter denselben Voraussetzungen können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen werden (§ 227 AO). Sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Besteuerung, unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den gesetzlichen Wertungen zuwiderläuft (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 9. September 1993 V R 45/91, BFHE 172, 237, BStBl II 1994, 131, und vom 23. September 2004 V R 58/03, BFH/NV 2005, 825, unter II. 1.).

2.

Die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. a UStG 1993 sind vorliegend nicht erfüllt. Danach sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1993 fallenden Umsätzen u.a. die Ausfuhrlieferungen (§ 6 UStG 1993) steuerfrei.

Eine Ausfuhrlieferung liegt gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 UStG 1993 vor, wenn bei einer Lieferung der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das Drittlandsgebiet, ausgenommen Gebiete nach § 1 Abs. 3 UStG 1993, befördert oder versendet hat und ein ausländischer Abnehmer ist.

Gemäß § 6 Abs. 4 UStG 1993 müssen die Voraussetzungen u.a. des Abs. 1 vom Unternehmer nachgewiesen werden. Das BMF kann mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung bestimmen, wie der Unternehmer die Nachweise zu führen hat.

Das BMF hat von der Ermächtigung des § 6 Abs. 4 UStG 1993 in § 8 Abs. 1 UStDV Gebrauch gemacht. Danach muss bei Ausfuhrlieferungen der Unternehmer im Geltungsbereich dieser Verordnung durch Belege nachweisen, dass er oder der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das Drittlandsgebiet befördert oder versendet hat (Ausfuhrnachweis). Dies muss sich aus den Belegen eindeutig und leicht nachprüfbar ergeben. Diese Voraussetzungen sind vorliegend hinsichtlich der streitigen Umsätze nicht erfüllt, weil die Ausfuhrnachweise gefälscht waren.

3.

Eine ausdrückliche Vertrauensschutzregelung sieht das UStG 1993 für diesen Fall, anders als in § 6a Abs. 4 UStG 1993, nicht vor.

a)

Allerdings trifft § 6a Abs. 4 UStG 1993 eine Vertrauensschutzregelung für die innergemeinschaftliche Lieferung, die wie folgt lautet:

"Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht vorliegen, so ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. In diesem Fall schuldet der Abnehmer die entgangene Steuer."

b)

Eine analoge Anwendung des § 6a Abs. 4 UStG 1993 auf Ausfuhrlieferungen kommt nicht in Betracht. Zum einen hat der liefernde Unternehmer bei der Ausfuhrlieferung, anders als bei der innergemeinschaftlichen Lieferung, die Möglichkeit, durch Ausfuhrbelege nachzuweisen, dass der Gegenstand in ein anderes Land verbracht worden ist. Darüber hinaus kommt die analoge Anwendung der Regelung über die Steuerschuld des Abnehmers in § 6a Abs. 4 Satz 2 UStG 1993, die in untrennbarem Zusammenhang mit der Vertrauensschutzregelung des § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG 1993 steht, nicht in Betracht.

c)

Da aber der leistende Unternehmer bei der Ausfuhrlieferung dann vor einer mit dem innergemeinschaftlich Liefernden vergleichbaren Situation steht, wenn die für die Befreiung erforderliche Mitwirkung des Abnehmers (hier die Vorlage des Ausfuhrnachweises --Beleg der Zollstelle--) manipuliert ist und der leistende Unternehmer die Unrichtigkeit dieser "Angabe" des Abnehmers auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte, hat der Senat für diesen atypischen Fall die Möglichkeit eines Billigkeitserlasses in Betracht gezogen und deshalb dem EuGH die o.g. Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt.

4.

Der EuGH hat daraufhin im Urteil in BFH/NV Beilage 2008, 199 zu der Frage, ob im vorliegenden Sachverhalt die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung von Ausfuhrlieferungen in ein Drittland der Gewährung einer Steuerbefreiung im Billigkeitswege durch den Mitgliedstaat entgegenstehen, Folgendes ausgeführt:

"17

Wie sich aus dem einleitenden Teil von Art. 15 der Sechsten Richtlinie ergibt, ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Bedingungen für die Anwendung der Steuerbefreiung einer Ausfuhrlieferung nach einem Ort außerhalb der Gemeinschaft festzulegen. Nach dieser Vorschrift setzen die Mitgliedstaaten zudem diese Bedingungen insbesondere 'zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen' fest.

18

Jedoch ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien übertragen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten müssen, die Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes zählen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 1997, Molenheide u.a., C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96, Slg. 1997, I-7281, Randnrn. 45 bis 48, vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u.a., C-384/04, Slg. 2006, I-4191, Randnr. 29, und vom 14. September 2006, Elmeka, C-181/04 bis C-183/04, Slg. 2006, I-8167, Randnr. 31).

19

Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesem Grundsatz Mittel einsetzen müssen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Gemeinschaftsrechts möglichst wenig beeinträchtigen (vgl. Urteile Molenheide u.a., Randnr. 46, und vom 27. September 2007, Teleos u.a., C-409/04, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 52).

20

Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. u.a. Urteile Molenheide u.a., Randnr. 47, und Federation of Technological Industries u.a., Randnr. 30).

21

Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer die Lieferer als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse fungieren (vgl. Urteil vom 20. Oktober 1993, Balocchi, C-10/92, Slg. 1993, I-5105, Randnr. 25). Sie schulden die Mehrwertsteuer, obwohl diese als Verbrauchsteuer letztlich vom Endverbraucher getragen wird (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2006, Banca popolare di Cremona, C-475/03, Slg. 2006, I-9373, Randnrn. 22 und 28).

22

Das in Art. 15 der Sechsten Richtlinie genannte Ziel, der Steuerhinterziehung vorzubeugen, rechtfertigt daher mitunter hohe Anforderungen an die Verpflichtungen der Lieferer. Die Verteilung des Risikos zwischen diesen und der Finanzverwaltung aufgrund eines von einem Dritten begangenen Betrugs muss jedoch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein (Urteil Teleos u.a., Randnr. 58).

23

Dies scheidet aus, wenn ein Steuersystem dem Lieferer unabhängig davon, ob er an dem vom Abnehmer begangenen Betrug beteiligt war, die gesamte Verantwortung für die Zahlung der Mehrwertsteuer auferlegt (vgl. in diesem Sinne Urteil Teleos u.a., Randnr. 58). Denn wie der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wäre es offenkundig unverhältnismäßig, einem Steuerpflichtigen anzulasten, dass durch betrügerische Machenschaften Dritter, auf die er keinen Einfluss hat, Steuereinnahmen entgehen.

24

Dagegen verstößt es, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, nicht gegen das Gemeinschaftsrecht, wenn vom Lieferer gefordert wird, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt (vgl. Urteil Teleos u.a., Randnr. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Dass der Lieferer gutgläubig war, dass er alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und dass seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist, sind daher wichtige Kriterien im Rahmen der Feststellung, ob er nachträglich zur Mehrwertsteuer herangezogen werden kann (vgl. Urteil Teleos u.a., Randnr. 66).

26

Ebenso verstieße es gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, wenn ein Mitgliedstaat, der die Voraussetzungen für die Befreiung einer Ausfuhrlieferung nach einem Ort außerhalb der Gemeinschaft festgelegt hat, indem er u.a. eine Liste von Unterlagen aufgestellt hat, die den zuständigen Behörden vorzulegen sind, und der die vom Lieferer als Nachweise für das Recht auf Befreiung vorgelegten Unterlagen zunächst akzeptiert hat, den Lieferer später zur Zahlung der auf diese Lieferung entfallenden Mehrwertsteuer verpflichten könnte, wenn sich herausstellt, dass infolge eines vom Abnehmer begangenen Betrugs, von dem der Lieferer weder Kenntnis hatte noch haben konnte, die Befreiungsvoraussetzungen tatsächlich nicht vorlagen (vgl. in diesem Sinne Urteil Teleos u.a., Randnr. 50).

27

Daraus folgt, dass der Lieferer auf die Rechtmäßigkeit des Umsatzes, den er tätigt, vertrauen können muss, ohne Gefahr zu laufen, sein Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu verlieren, wenn er wie im Ausgangsverfahren selbst bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns außerstande ist, zu erkennen, dass die Voraussetzungen für die Befreiung in Wirklichkeit nicht gegeben waren, weil die vom Abnehmer vorgelegten Ausfuhrnachweise gefälscht waren."

An seiner gegenteiligen Rechtsprechung (BFH-Beschluss vom 6. Mai 2004 V B 101/03, BFHE 205, 416, BStBl II 2004, 748) hält der Senat nicht fest.

5.

Ob die Grundsätze des Vertrauensschutzes die Gewährung der Steuerbefreiung gebieten, obwohl die Voraussetzungen einer Ausfuhrlieferung i.S. des § 6 Abs. 1 UStG 1993 nicht erfüllt sind, kann nur im Billigkeitsverfahren entschieden werden. Dem steht das Gemeinschaftsrecht nicht entgegen.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats (EuGH-Urteil vom 15. März 2007 Rs. C-35/05, Reemtsma, Slg. 2007, I-2425, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2007, 570, Randnr. 40, m.w.N.; vgl. auch EuGH-Urteil vom 19. September 2000 C-454/98, Schmeink & Cofreth AG & Co. KG, Slg. 2000, I-6973, BFH/NV Beilage 2001, 33, Randnrn. 65, 66, Leitsatz 2 zur Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer). Hat der nationale Gesetzgeber die Berücksichtigung des Vertrauensschutzes und deren Voraussetzungen nicht ausdrücklich, wie in § 6a Abs. 4 UStG 1993, im materiellen Recht geregelt, eröffnen die Regelungen in § 163 AO und § 227 AO verfahrensrechtlich deren Berücksichtigung im Einzelfall. Auch wenn sich der Steuerpflichtige, anders als im vorliegenden Fall, bereits im Festsetzungsverfahren auf Vertrauensschutzgesichtspunkte beruft, sind diese gleichwohl im Billigkeitsverfahren zu berücksichtigen. Dabei wird das Ermessen der Finanzverwaltung (§ 163 Satz 3 AO) regelmäßig dahingehend auszuüben sein, dass die Entscheidung über die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen mit der Steuerfestsetzung zu verbinden ist.

Hat der Steuerpflichtige alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die von ihm getätigten Umsätze nicht zu einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen, so ist das Verwaltungsermessen hinsichtlich der Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme auf Null reduziert. Zur Sicherstellung einer richtlinienkonformen Anwendung des nationalen Rechts besteht daher auch unter Beachtung von § 102 FGO eine insoweit uneingeschränkte Überprüfbarkeit der Ermessensentscheidung des FA durch das FG.

6.

Das FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen; sein Urteil war daher aufzuheben. Die Feststellungen des FG erlauben keine abschließende Entscheidung, denn das FG hat --von seinem Standpunkt aus zu Recht-- keine ausreichenden Feststellungen zur Frage getroffen, ob die Klägerin alle ihr zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen. Bei seiner Würdigung wird das FG auch den langen Zeitraum, in dem die Missbräuche stattgefunden haben, zu berücksichtigen haben. Auch die Verdoppelung der Umsatzsteuererstattungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr von 1995 auf 1996 hätte ab diesem Zeitpunkt Anlass zu Nachforschungen gegeben. Für die Zeiträume vor 1996 lässt sich aber aus diesem Gesichtspunkt nichts herleiten. Auch die Rechtschreibfehler auf einigen der gesichteten Ausfuhrbelege sprechen dagegen, dass die Klägerin alle ihr zu Gebote stehenden Maßnahmen gegen einen Missbrauch ergriffen hat.

RechtsgebieteUStG 1993, AO, RL 77/388/EWGVorschriftenUStG 1993 § 4 Nr. 1a, UStG 1993 § 6 Abs. 1, UStG 1993 § 6 Abs. 4, UStG 1993 § 6a Abs. 4, AO § 163, AO § 227, RL 77/388/EWG Art. 15

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