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10.05.2007 · IWW-Abrufnummer 071611

Oberlandesgericht Celle: Urteil vom 20.12.2005 – 14 U 54/05

1. Von der Einholung eines Sachverständigengutachtens in Straßenverkehrsunfallprozessen darf nur abgesehen werden, wenn das Gericht aus eigener Sachkunde zu beurteilen vermag, dass dafür keine ausreichenden Anknüpfungstatsachen vorliegen. Diese Kenntnis, die im Urteil verlautbart werden muss, haben Richter in der Regel nicht.



2. Sachverständigengutachten, die das Unfallgeschehen aufgrund objektiver Umstände aufzuklären vermögen, tragen in der Regel erheblich mehr zur Akzeptanz eines Urteils bei, als wenn dieses nur auf Zeugenaussagen gestützt wird. Auch diese Tatsache spricht für eine großzügige Handhabung bei der Einholung von Sachverständigengutachten in Verkehrsunfallsachen.


14 U 54/05

Urteil

Verkündet am
20. Dezember 2005

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 2. Dezember 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... als Einzelrichter für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 17. Dezember 2004 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Hannover abgeändert, soweit über die Widerklage und die Kosten entschieden worden ist.

Die Klägerin und die Widerbeklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Beklagten zu 1 und Widerkläger 979,29 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 709,29 EUR seit dem 18. Juni 2003 und aus weiteren 270 EUR seit dem 16. September 2003 zu zahlen.

Die Klägerin und die Drittwiderbeklagten werden verurteilt, an den Beklagten zu 1 ein Schmerzensgeld in Höhe von 150 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 4. Mai 2003 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Klägerin und die Drittwiderbeklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Beklagten zu 1 den ihm entstandenen Rückstufungsschaden in der Vollkaskoversicherung bei dem ... Versicherungsverein ... a.G., ..., zum Versicherungsschein Nr. ..., anlässlich

des Verkehrsunfalls vom 4. Mai 2003 auf der BAB 2 in Höhe des Kilometers ... zu erstatten.

Von den Gerichtskosten des ersten Rechtszugs haben die Klägerin und die Drittwiderbeklagten als Gesamtschuldner 20 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 80 % zu tragen.

Von den im ersten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten haben zu tragen: von den Kosten der Klägerin die Beklagten als Gesamtschuldner 80 % und von den Kosten des Beklagten zu 1 und Widerklägers die Klägerin und die Drittwiderbeklagten als Gesamtschuldner 20 %. Im Übrigen haben die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin und die Drittwiderbeklagten als Gesamtschuldner zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

(gemäß §§ 540 Abs. 3, 313 a ZPO abgekürzt)

Die Berufung des Beklagten zu 1 und Widerklägers, die sich allein gegen die Abweisung der Widerklage richtet, ist begründet. Er kann von der Klägerin und den Drittwiderbeklagten vollen Ersatz des Schadens verlangen, der ihm durch den Unfall am 4. Mai 2003 auf der BAB 2 Richtung Dortmund in der Nähe der Ausfahrt 44 Hannover-Nord entstanden ist.

1. Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. B. steht fest, dass die Drittwiderbeklagte zu 1 einen Fahrbahnwechsel vollzogen hatte und es im Zusammenhang damit zu dem Unfall kam. Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten überzeugend dargelegt, dass sich dies aus dem Schadensbild an beiden beteiligten Kraftfahrzeugen, der daraus ermittelten Winkelstellung zum Zeitpunkt der Kollision und der Endstellung der Kraftfahrzeuge ergibt. Die Schäden am Toyota wären nicht erklärbar, wenn es zu dem von der Klägerin und den Drittwiderbeklagten behaupteten Auffahren gekommen wäre. Der Sachverständige hat daher diese Art der Kollision eindeutig ausgeschlossen. Darstellbar ist nur eine Kollision nach Hinüberfahren des Toyota von der rechten auf die mittlere Spur, wobei der Beklagte zu 1 trotz Vollbremsung eine Kollision nicht mehr vermeiden konnte. Die gegen diese Feststellung von der Klägerin und den Widerbeklagten erhobenen Einwendungen hat der Sachverständige bei seiner mündlichen Anhörung überzeugend und einleuchtend widerlegt. Seine Stellungnahme findet sich in der beiden Parteien der mündlichen Verhandlung zugeleiteten "Anlage zum Termin". Danach kann die von der Polizei festgestellte Brems und Driftspur nur von dem Toyota herrühren, weil sie neben dem VW endet, und zwar in Richtung der Standposition des Toyota. Die geringe Breite von 10 cm rührt daher, dass sich nur der Driftanteil auf der Fahrbahn abzeichnete. Die Schäden können nicht nur durch nur einen Zusammenstoss entstanden sein, sondern es muss zu einer weiteren Kollision gekommen sein, was allerdings zeitlich kaum wahrnehmbar war. Der Sachverständige hat dies anhand der Schadensbilder einleuchtend begründet. Dass die Unfallbeteiligten dies nicht so wahrgenommen haben, weshalb in diesem Rechtsstreit vor der Gutachtenerstellung davon auch keine Rede war, ist leicht erklärbar, weil sich das Unfallgeschehen natürlich sehr schnell abspielte. Aus diesem Grunde kommt abweichenden Zeugenaussagen auch kein entscheidendes Gewicht gegenüber den fundierten Feststellungen des Sachverständigen zu. Weitere Einwendungen gegen das Gutachten sind auch nicht mehr erfolgt, wobei angemerkt werden darf, dass es sachdienlich gewesen wäre, wenn die Klägerin und die Drittwiderbeklagte zu 1 zur mündlichen Verhandlung erschienen wären, um die Ausführungen des Sachverständigen selbst anzuhören und ggf. Fragen stellen zu können, wenn etwas unklar geblieben wäre.

2. Gleichzeitig steht damit fest, dass die Drittwiderbeklagte zu 1 den Unfall schuldhaft verursacht hat. Gemäß § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Bereits die Kollision beweist, dass die Widerbeklagte zu 1 gegen diese Vorschrift verstoßen hat. Insbesondere kann die erforderliche Rückschau nicht vorgenommen worden sein, weil dann das Kraftfahrzeug des Beklagten zu 1 hätte bemerkt werden müssen. Der VW kann schließlich nicht, wie in solchen Fällen gesagt werden muss, "vom Himmeln gefallen sein".

3. Ein Verschulden des Beklagten zu 1 und Widerklägers (verspätete Reaktion) kann nach dem Sachverständigengutachten nicht festgestellt werden. Ob der Unfall für ihn unvermeidbar war, wofür nach dem Sachverständigengutachten einiges sprechen dürfte, kann letztlich offen bleiben, da eine den Beklagten zuzurechnende Betriebsgefahr hinter dem erheblichen Verschulden der Drittwiderbeklagten zu 1 ohnehin vollständig zurücktreten würde. Gerade Fahrbahnwechsel auf der Autobahn stellen wegen des dort herrschenden schnellen Verkehrs eine besondere Gefahr dar, sodass besondere Sorgfalt aufzuwenden ist. Wird dagegen, wie hier, verstoßen, ist es nicht gerechtfertigt, dem nicht schuldhaft handelnden anderen Verkehrsteilnehmer auch nur einen Bruchteil des Schadens aufzuerlegen.

4. Der vom Beklagten zu 1 geltend gemachte materielle Schaden ist der Höhe nach nicht im Streit. Er hat durch Vorlage eines Attestes des St. Franziskus-Hospitals A. auch nachgewiesen, dass er durch den Unfall eine Brustbeinprellung erlitten hat, die angesichts der Tatsache, dass Novalgin verschrieben wurde, nicht völlig unerheblich gewesen sein kann. Deshalb ist das Begehren des Beklagten zu 1 auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 150 EUR gerechtfertigt. Begründet ist schließlich auch der Feststellungsantrag.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO. Da die Berufung der Beklagten in vollem Umfang Erfolg hat, haben die Klägerin und die Widerbeklagten die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Die vom Landgericht für die Kosten des ersten Rechtszugs getroffene Kostenentscheidung war entsprechend abzuändern.

Die sonstigen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 708, 713 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil der Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich ist (§ 543 Abs. 2 ZPO).

6. Da der Senat in letzter Zeit immer wieder feststellt, dass Urteile allein auf Zeugenaussagen gestützt werden und kein Sachverständigengutachten eingeholt wird, besteht Anlass zu dem Hinweis, dass von der Einholung eines Sachverständigengutachtens nur abgesehen werden darf, wenn das Gericht aus eigener Sachkunde zu beurteilen vermag, dass keine ausreichenden Anknüpfungstatsachen für die Einholung eines solchen Gutachtens gegeben sind. Dass hier eine solche Sachkunde vorhanden war, die in der Regel kein Richter besitzt, ist in dem Urteil nicht festgestellt worden. Tatsächlich war die Feststellung des Landgerichts, aus den auf den Lichtbildern dokumentierten Schäden ergäbe sich, dass nur ein "normaler" Auffahrunfall vorgelegen haben könne, ja auch falsch, wie das Sachverständigengutachten ergeben hat. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Zeugenaussagen, wie jeder Richter oder Rechtsanwalt weiß, gerade in Verkehrsunfallsachen in der Regel ein sehr problematisches Beweismittel sind, weil sich Unfälle sehr schnell ereignen und bestimmte Tatsachen (Geschwindigkeiten, Entfernungen) nur ungenau registriert werden können. Dagegen vermögen Sachverständigengutachten in der Regel das Unfallgeschehen aufgrund objektiver Umstände aufzuklären und tragen daher erheblich mehr zur Akzeptanz eines Urteils bei den Bürgern bei. Davon abgesehen spricht auch der Gesichtspunkt der Prozessökonomie für eine großzügige Handhabung bei der Einholung von Sachverständigengutachten bereits im ersten Rechtszuge, können doch dann meistens umfangreiche Berufungsverfahren vermieden werden, sei es, dass von vornherein kein Rechtsmittel eingelegt wird oder aber gemäß § 522 Abs. 2 ZPO verfahren werden kann. Schließlich wäre durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens bereits im ersten Rechtszug wohl auch vermieden worden, dass nunmehr Klage und Widerklage in vollem Umfang Erfolg haben, ein Ergebnis, dass von den Parteien nur schwer nachvollziehbar ist. Dass es dazu gekommen ist, liegt daran, dass nur der Widerkläger ein Rechtsmittel eingelegt hat und der Senat daher über die Klage nicht mehr zu befinden hatte.

RechtsgebietZPOVorschriftenZPO § 144

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