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04.04.2006 · IWW-Abrufnummer 060968

Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 19.01.2006 – 3 Ss OWi 851/05

Der drohende Verlust des Arbeitsplatzes, der das Absehen von einem Regelfahrverbot rechtfertigen soll, wird i.d.R. nicht durch ein bloßes Schreiben des Arbeitgebers des Betroffenen hinreichend bestätigt werden können.


3 Ss OWi 851/05

Beschluss

Bußgeldsache
gegen P.L.
wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaft

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Essen vom 24.08.2005 gegen das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 10. August 2005 hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 19. 01. 2006 durch die Richterin am Oberlandesgericht als Einzelrichterin (§ 80 a Abs. OWiG) auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft und nach Anhörung des Betroffenen bzw. seines Verteidigers beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Essen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Essen hat den Betroffenen durch das angefochtene Urteil wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaft zu einer Geldbuße von 250,00 ? verurteilt; von der Verhängung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gem. § 4 Abs. 1 Nr. 1 Bußgeldkatalogverordnung hat das Amtsgericht abgesehen.

Nach den getroffenen Feststellungen fuhr der Betroffene am 08.02.2005 gegen 20.16 Uhr die Bredeneyer Straße in Fahrtrichtung Werden. In Höhe des Löwentals fuhr er mit einer Geschwindigkeit von mindestens 93 km/h, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit nur 60 km/h betrug. Zumindest aus grober Nachlässigkeit heraus ist dem Betroffenen entgangen, dass er nur 60 km/h hätte fahren dürfen. Der Betroffene hat diesen Sachverhalt nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils voll umfänglich eingeräumt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Essen mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Sie ist ausweislich der Rechtsbeschwerdebegründung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Die Generalstaatsanwaltschaft ist dem Rechtsmittel der örtlichen Staatsanwaltschaft beigetreten.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg, denn die Rechtsfolgenentscheidung des angefochtenen Urteils weist einen durchgreifenden materiell-rechtlichen Rechtsfehler auf.

Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 08.12.2005 folgendes ausgeführt:

"Die knappen Urteilsgründe dürften den Anforderungen, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung an die Verurteilung wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu stellen sind, noch genügen. Nach dieser Rechtsprechung sind (nur) erforderlich die Angabe des Messverfahrens und des berücksichtigten Toleranzwertes, soweit die Überzeugung des Tatrichters von der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf mit anerkannten Geräten in weithin standardisierten Verfahren gewonnenen Messergebnissen beruht (zu vgl. Hentschel, StV, 37. Aufl., § 3 StVO, Rdn. 56 b m. w. N.). Diesen Ansprüchen wird das Urteil des Amtsgerichts Essen noch gerecht. Das Amtsgericht teilt mit, dass die Geschwindigkeitsmessung mittels eines Radarmessgeräts - hierbei handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren - durchgeführt worden ist. Überdies lässt sich den Feststellungen entnehmen, welche zulässige Höchstgeschwindigkeit der Betroffene zur Tatzeit mit dem von ihm innerhalb geschlossener Ortschaft geführten Pkw zu beachten hatte und in welchem Umfang der Betroffene diese Geschwindigkeit überschritten hat. Zwar enthalten die Urteilsgründe Angaben zu dem vorgenommenen Toleranzabzug von der gemessenen Geschwindigkeit des Betroffenen nicht, das Amtsgericht stellt insoweit lediglich eine "Netto"-Geschwindigkeit von 93 km/h fest. Das Fehlen dieser Angabe bedeutet aber nicht, dass die Feststellungen zu der dem Betroffenen vorgeworfenen Tat als lückenhaft anzusehen sind. Denn die Mitteilung des berücksichtigten Toleranzwertes ist nicht zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung erforderlich, sondern um dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung zu ermöglichen. Eine lückenhafte Beweiswürdigung schließt aber ebenso wie eine falsche Anwendung des geltenden Rechts eine Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch nicht aus (zu vgl. OLG Hamm, Senatsbeschluss vom 18.03.2004 - 3 Ss OWi 11/04 -).

Jedoch kann der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils aus den zutreffenden Gründen der Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft Essen, auf die insoweit Bezug genommen wird, keinen Bestand haben. Denn die Erwägungen des Amtsgerichts rechtfertigen weder für sich genommen noch unter Gesamtwürdigung aller Umstände das Absehen von der Verhängung eines gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaft um 33 km/h gemäß lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1 c des Anhang zu Nr. 11 der Anlage zu Absatz 1 BKatV regelmäßig vorgesehenen Fahrverbots von einem Monat.

Zwar unterliegt es in erster Linie tatrichterlicher Würdigung, ob Gründe vorliegen, die ausnahmsweise Anlass geben könnten, von der Rechtsfolge des § 25 Abs. 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 BkatV abzusehen (zu vgl. BGHSt 38, 231, 237; OLG Hamm, NZV 1997, 185). Dem Tatrichter steht aber kein rechtlich ungebundenes freies Ermessen zu (zu vgl. OLG Hamm, a.a.O.). § 4 BKatV konkretisiert im Sinne der Ermächtigungsnorm des § 26 a Abs. 2 StVG die Anordnungsvoraussetzungen eines Fahrverbots nach § 25 StVG als Regelmaßnahme (zu vgl. BGHSt 38, 125, 132) und gewährleistet damit die Gleichbehandlung des Betroffenen, wodurch auch ein Gebot der Gerechtigkeit erfüllt wird (zu vgl. BGH, NStZ, 92, 286, 288). Der Richter muss deshalb nach übereinstimmender Rechtsprechung der Obergerichte die Grundentscheidung des Verordnungsgebers für Verkehrsverstöße der vorliegenden Art respektieren und für seine abweichende Entscheidung eine eingehende, auf Tatsachen gestützte Begründung geben. Diese darf sich insbesondere nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen (zu vgl. OLG Hamm, Senatsbeschlüsse vom 24.05.1998 - 3 Ss OWi 160/98 -; vom 11.08.1998 - 3 Ss OWi 697/98 - und vom 17.11.2005 - 3 Ss OWi 717/05 - m.w.N.). Deshalb hat das Amtsgericht eine auf überprüfte Tatsachen gestützte, besonders eingehende Begründung abzugeben, in der es im Einzelnen darlegt, welche besonderen Umstände in objektiver und subjektiver Hinsicht es gerechtfertigt erscheinen lassen, vom Regelfahrverbot abzusehen (zu vgl. BGHSt, a.a.O.). Sein Entscheidungsspielraum wird durch die gesetzlich niedergelegten oder von der höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung herausgearbeiteten Rechtsfolgenzumessungskriterien eingeengt und unterliegt auch hinsichtlich der Angemessenheit der Rechtsfolgen in gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Beschwerdegericht (zu vgl. OLG Hamm, Senatsbeschlüsse vom 24.05.1998 - 3 Ss OWi 160/98 -; vom 11.08.1998 - 3 Ss OWi 697/98 - und vom 17.11.2005 - 3 Ss OWi 717/05 - m.w.N.).

Diesen Maßstäben genügt das angefochtene Urteil nicht. Einen Ausnahmefall für ein Absehen vom Fahrverbot können zwar Härten ganz außergewöhnlicher Art wie z. B. drohender Verlust des Arbeitsplatzes oder der Verlust der sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage (zu vgl. OLG Hamm, VRS 1990, 210) begründen. Es war jedoch rechtsfehlerhaft, dass das Amtsgericht die entsprechenden Angaben des Betroffenen, die durch ein bloßes Schreiben seiner Arbeitgeberin nicht hinreichend bestätigt werden können, zur Grundlage der Entscheidung gemacht hat. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Arbeitgeberin bei einem verhängten Fahrverbot lediglich auf die Möglichkeit von arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnissen hinweist. Bereits aus diesem Grunde ist eine nähere Überprüfung der Richtigkeit der Einlassung insbesondere durch Zeugeneinvernahme der verantwortlichen Entscheidungsträger der Arbeitgeberin vorzunehmen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass allein die Möglichkeit einer Kündigung ohne nähere Feststellungen zu deren Wahrscheinlichkeit und Durchsetzbarkeit ein Absehen von einem regelmäßig zu verhängenden Fahrverbot nicht zu begründen vermag (zu vgl. OLG Hamm, Senatsbeschluss vom 17.11.2005 - 3 Ss OWi 717/05 - m.w.N.).

Zu der Ermittlung gehört auch, für welchen zusammenhängenden Zeitraum die Arbeitgeberin bereit ist, Urlaub zu gewähren und ob der Betroffene in der den Urlaub überschreitenden Restzeit des Fahrverbots durch einen anderen Bediensteten der Firma vertreten werden kann. Auch die Frage, ob der Betroffene mittels eines von ihm eingestellten Fahrers seine Aufgaben erfüllen kann, nicht geklärt worden. Dabei geht die Rechtsprechung von einer grundsätzlichen Zumutbarkeit eines entsprechenden finanziellen Aufwandes - notfalls auch unter Aufnahme eines Kredits - aus, wenn der Betroffene - wie hier - in geregelten finanziellen Verhältnissen lebt (vgl. Senatsbeschluss vom 20.09.2005 - 3 Ss OWi 610/05 -; BayObLG NZV 2002, 143).

Die aufgezeigten Begründungsmängel führen zur Aufhebung des Urteils im gesamten Rechtsfolgenausspruch, da zwischen der verhängten Geldbuße und dem Fahrverbot eine Wechselwirkung besteht. Eine Entscheidung des Senats gemäß § 79 Abs. 6 OWiG kommt nicht in Betracht, weil zu den Folgen des Fahrverbots für den Betroffenen weitere Feststellungen zu treffen sind."

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an und macht sie zum Gegenstand seiner Entscheidung.
Das angefochtene Urteil war daher im Rechtsfolgenausspruch mit den insoweit getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Essen zurückzuverweisen.

RechtsgebietStPOVorschriftenStPO 267; StPO 261

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