BFH Urteil v. - VI R 23/08

Auslegung der Überleitungsvorschrift des § 52 Abs. 55j Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 2008 im Zusammenhang mit der Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F.

Leitsatz

Sind Einkommensteuererklärungen für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 zur Durchführung von Antragsveranlagungen nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG im Jahr 2003 beim Finanzamt eingereicht worden und war am über die Anträge auf Veranlagung noch nicht bestandkräftig entschieden, kommt eine Antragsveranlagung für diese Veranlagungszeiträume in Betracht.

Gesetze: EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8, EStG § 46 Abs. 2 Nr. 1, EStG § 52 Abs. 55j, AO § 170 Abs. 2, AO § 169

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die angestellte Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) reichte am Einkommensteuer-Erklärungen für 1997 bis 2000 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) ein. Im Hinblick darauf, dass die Abgabefrist von zwei Jahren (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes in der in diesen Jahren geltenden Fassung —EStG a.F.—) abgelaufen war, beantragte sie zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der AbgabenordnungAO—).

Das FA lehnte es ab, die beantragten Veranlagungen durchzuführen. In der Einspruchsentscheidung führte das FA im Wesentlichen aus, im Streitfall komme wegen der geltend gemachten Verluste der Klägerin aus Vermietung und Verpachtung keine Amtsveranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG), sondern nur eine Antragsveranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F.) in Betracht. Die Klägerin habe jedoch die Abgabefrist von zwei Jahren versäumt. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben.

Nachdem der Gesetzgeber die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG durch Art. 1 Nr. 30 des Jahressteuergesetzes 2008 (JStG 2008) vom (BGBl I 2007, 3150, 3157, BStBl I 2008, 218 —§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F.—) dahingehend geändert hat, dass die Antragsfrist von zwei Jahren entfällt, erklärte sich das FA während des Klageverfahrens bereit, für die Jahre 1999 und 2000 jeweils Einkommensteuer-Veranlagungen durchzuführen. Hinsichtlich der Streitjahre 1997 und 1998 blieb das FA bei seiner ablehnenden Haltung; für diese Veranlagungszeiträume sei Festsetzungsverjährung eingetreten.

Die Klage der Klägerin hatte mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 1088 veröffentlichten Gründen Erfolg.

Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Die Auffassung des Finanzgerichts (FG), bei einer Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG finde die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO Anwendung, widerspreche der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH). Die bezeichnete Anlaufhemmung betreffe nur Fälle, in denen der Steuerpflichtige aufgrund einer gesetzlichen Regelung zur Abgabe der Steuererklärung verpflichtet sei oder das FA ihn zur Abgabe der Erklärung aufgefordert habe. Die Anlaufhemmung greife jedoch nicht in solchen Fällen, in denen der Steuerpflichtige zur Stellung des Antrags „freiwillig” eine Steuererklärung beim FA einreiche.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision des FA zurückzuweisen.

II. Die Revision des FA ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Die Entscheidung der Vorinstanz erweist sich im Ergebnis als zutreffend.

1. Besteht das Einkommen —wie im Streitfall— nach § 46 Abs. 2 EStG ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt.

a) Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. in Betracht kommt. Danach wird eine Einkommensteuer-Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Die —frühere zusätzliche— Voraussetzung, dass der Antrag bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres zu stellen war, ist nunmehr entfallen.

b) § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 2 EStG (JStG 2008) erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und —hier einschlägig— in Fällen, in denen am über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist. Letzteres trifft zu. Eine bestandskräftige Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Durchführung der Einkommensteuer-Veranlagungen 1997 und 1998 liegt nicht vor. Nach Ansicht des Senats ist der Anspruch der Klägerin auf Durchführung der streitbefangenen Veranlagungen von weiteren Voraussetzungen nicht abhängig. Unter Berücksichtigung gleichheitsrechtlicher Gesichtspunkte steht den beantragten Einkommensteuer-Festsetzungen auch eine Verjährungsfrist nicht entgegen. Dabei geht der Senat davon aus, dass der Gesetzgeber mit der genannten Überleitungsvorschrift alle noch offenen —zahlenmäßig offenbar nur wenige— Fälle ohne zusätzliche Prüfung weiterer Fragen einer umfassenden Erledigung zuführen wollte. Der Senat berücksichtigt überdies, dass aufgrund der seit 2005 geänderten Rechtsprechung des Senats zu der Vorschrift des § 46 Abs. 2 (Nr. 1 und Nr. 8) EStG und der darauf folgenden Reaktionen des Gesetzgebers vielfach zeitliche Zufälligkeiten darüber mitentscheidend waren, ob Anträge bzw. Klagen auf Durchführung von Einkommensteuer-Veranlagungen erfolgreich sein konnten.

aa) So war nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bis zur Änderung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durch das Jahressteuergesetz 2007 (JStG 2007) vom (BGBl I 2006, 2878, BStBl I 2007, 28) eine Veranlagung von Amts wegen nicht nur dann durchzuführen, wenn die positive Summe der Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren (Nebeneinkünfte), den Betrag von 800 DM (410 €) übersteigt, sondern auch dann, wenn die negative Summe der betreffenden Nebeneinkünfte diesen Betrag übersteigt (vgl. , BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45, und VI R 47/05, BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47). Unter den Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG a.F. (nebst einer für solche Fälle vorgesehenen Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) wäre die vorliegende Klage (gleichfalls) erfolgreich gewesen.

bb) Aus diesem Grunde hat der Senat ferner —vor der (verschärfenden) Änderung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durch das JStG 2007— in seinem Urteil vom VI R 14/06 (BFHE 216, 167, BStBl II 2007, 129) eine Aussetzung jenes Revisionsverfahrens (§ 74 FGO) abgelehnt und einer Klage auf Durchführung einer Einkommensteuer-Veranlagung (unter den gleichen Voraussetzungen wie im Streitfall) stattgegeben. Für den Senat war dabei entscheidend, dass sich die durch die Auslegung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG a.F. eröffnete —verbesserte— Rechtsposition des Klägers durch die Änderung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durch das JStG 2007 verschlechtert hätte (vgl. auch Bergkemper, Finanz-Rundschau 2007, 357, und Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2007, 249).

2. Bei dieser Rechtslage können verschiedene (einfach- und verfassungsrechtliche) Fragen im Zusammenhang mit den Vorschriften des § 46 Abs. 2 Nr. 1 und § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG auf sich beruhen.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 755 Nr. 5
BFH/PR 2009 S. 253 Nr. 7
EStB 2009 S. 164 Nr. 5
HFR 2009 S. 788 Nr. 8
StBW 2009 S. 6 Nr. 8
StC 2009 S. 11 Nr. 6
AAAAD-17968