BFH Urteil v. - I R 56/02

Unbeschränkte ESt-Pflicht bei inländischem Zweit- oder Nebenwohnsitz

Gesetze: EStG § 1 Abs. 1 Nr. 1; AO § 8

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf)

Gründe

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war von 1993 bis einschließlich Mai 1995 im Inland als Geschäftsführer einer italienischen Firma tätig. Er hatte in dieser Zeit neben seinem (Haupt-)Wohnsitz in Italien im Inland eine Wohnung (möblierte 2 Zimmer mit 59 qm Wohnfläche) angemietet; die Miete hierfür wurde von seinem Arbeitgeber übernommen. Die Wohnung ließ von ihrer Ausstattung her die Unterbringung einer weiteren Person zu. Die Ehefrau E des Klägers war in Italien als Lehrerin berufstätig; sie bezog im Streitjahr keine dem Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) unterliegenden Einkünfte. Der gemeinsame Sohn ging in Italien zur Schule.

In einer gemeinsamen Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1994 beantragten der Kläger und E die Zusammenveranlagung. Sie legten eine Bescheinigung der inländischen Vermieterin vor, wonach die Wohnung auch zum Zwecke des Aufenthalts der Familie des Klägers vermietet worden sei; die Familie habe die Wohnung an zwei bis drei Tagen im Monat und während der großen Ferien mitbewohnt. Demgegenüber setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) die Einkommensteuer für 1994 unter Anwendung der Grundtabelle fest. Dabei wurden „außergewöhnliche Belastungen„ berücksichtigt; in der Sache bedeutete dies die Gewährung eines halben Kinderfreibetrags gemäß § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Der Kläger ist der Ansicht, auch E sei im Streitjahr 1994 unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen; ihm stehe daher die Anwendung des Splittingtarifs und der Ansatz eines vollen Kinderfreibetrages zu.

Die dahin gehende Verpflichtungsklage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, auch E habe im Streitjahr 1994 einen Wohnsitz in der vom Kläger angemieteten Wohnung im Inland innegehabt und sei deshalb unbeschränkt einkommensteuerpflichtig; daher bestehe ein Anspruch auf Zusammenveranlagung mit den sich daraus ergebenden steuerlichen Folgen. Die Vorentscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 1198 abgedruckt.

Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung von § 26 Abs. 1, § 1 Abs. 1 EStG und § 8 der Abgabenordnung (AO 1977). Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision des FA ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Zu Recht hat das FG die Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung des Klägers mit seiner Ehefrau E im Streitjahr mit der Folge bejaht, dass der Splittingtarif gemäß § 26b EStG anzuwenden und ein voller Kinderfreibetrag gemäß § 32 Abs. 6 EStG zu gewähren ist.

1. Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG können Ehegatten, die beide unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind, unter weiteren Voraussetzungen die Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) wählen. Unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Einen Wohnsitz hat jemand gemäß § 8 AO 1977 dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Einen derartigen Wohnsitz hatte E als Ehefrau des Klägers im Streitjahr 1994 im Inland.

2. Die Beurteilung der Umstände des „Innehabens„ einer Wohnung liegt weit gehend auf tatsächlichem Gebiet. Dabei können alle Umstände des Einzelfalles herangezogen werden, die nach der Lebenserfahrung den Schluss erlauben, dass der betreffende Steuerpflichtige die Wohnung beibehält, um sie als solche zu nutzen. Insoweit ist der erkennende Senat als Revisionsgericht gemäß § 118 Abs. 2 FGO an die Beurteilung durch das FG gebunden. Er kann diese Beurteilung durch das FG nur auf Verstöße gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze hin überprüfen (, BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447; vom I R 15/01, BFH/NV 2002, 1411).

Die (wertende) Feststellung des FG, wonach der Kläger und seine Ehefrau E aus der Sicht des Streitjahres diese Wohnung i.S. des § 8 AO 1977 beibehalten und benutzen würden, stützt sich auf die nachgewiesenen und unbestrittenen Gesamtumstände des Streitfalles, insbesondere auf die Ausstattung der Wohnung, ihre Nutzbarkeit und die dokumentierte tatsächliche Nutzungsabsicht; somit verstößt sie weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze (, BFHE 158, 118, BStBl II 1989, 956; in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447). Im Gegenteil entspricht es, worauf der Kläger zu Recht hinweist, der Lebenserfahrung, dass Träger verantwortlicher Funktionen ausländischer Firmen im Inland aus dienstlichen oder gesellschaftlichen Gründen veranlasst sein können, verschiedentlich auch ihre Wochenenden und ihre Freizeit mit ihren Familien im Inland zu verbringen. In Bezug auf die Feststellungen des FG sind auch keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht worden.

3. Auch die —im steuerrechtlichen Sinne objektivierten— Voraussetzungen für das „Innehaben„ einer Wohnung durch E (vgl. hierzu , BFHE 155, 29, BStBl II 1989, 182) liegen aufgrund der tatsächlichen Gestaltung im Streitfall vor.

a) Ein erforderliches hinreichendes Zeitmoment war jedenfalls im Streitjahr gegeben. Revisionsrechtlich ist nicht zu beanstanden, wenn dabei auf eine Mindestdauer von sechs Monaten in Anlehnung an die Sechsmonatsfrist des § 9 Satz 2 AO 1977 abgestellt wird (BFH-Urteil in BFHE 158, 118, BStBl II 1989, 956; vgl. auch Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 2003, § 8 AO 1977 Anm. 27). Der Kläger hatte die Wohnung —auch für E— bereits zu Beginn seiner Tätigkeit im Inland angemietet.

b) Es ist nicht erforderlich, dass der Steuerpflichtige sich während einer Mindestzahl von Tagen oder Wochen im Jahr tatsächlich in der Wohnung aufhält. Auch unregelmäßige Aufenthalte in einer Wohnung können zur Aufrechterhaltung eines dortigen Wohnsitzes führen (BFH-Urteile in BFH/NV 2002, 1411; in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447; , BFH/NV 2000, 673, m.w.N.). Der Kläger weist zu Recht darauf hin, dass andernfalls auch er selbst keine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht im Inland hätte begründen können. Für die Frage des Innehabens einer Wohnung i.S. des § 8 AO 1977 ist auch unbeachtlich, wer die dafür anfallende Miete trägt.

c) Ein Steuerpflichtiger kann gleichzeitig mehrere Wohnsitze i.S. des § 8 AO 1977 haben. Diese können im In- und/oder Ausland belegen sein (BFH-Urteile in BFH/NV 2002, 1411; in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447; vgl. auch Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 8 AO Anm. 4). Da diese Vorschrift ohne weitere Unterscheidung nur das Vorliegen „eines„ Wohnsitzes verlangt, geht sie erkennbar von der Gleichwertigkeit aller Wohnsitze einer Person aus. Insbesondere enthält § 8 AO 1977 keinen Anknüpfungspunkt für eine Differenzierung zwischen „Hauptwohnsitz„ und „Nebenwohnsitz„. Vor diesem Hintergrund verbietet sich die Annahme, dass nur ein —in welcher Weise auch immer— „qualifizierter„ Wohnsitz zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht führt. Entscheidend ist allein, ob objektiv erkennbare Umstände dafür sprechen, dass der Steuerpflichtige die Wohnung für Zwecke des eigenen Wohnens beibehält. In diesem Zusammenhang kommt es auf einen Vergleich der Wohnung mit einer anderen nach Größe und Ausstattung nicht an. Ein Wohnsitz i.S. des § 8 AO 1977 setzt auch nicht voraus, dass der Steuerpflichtige von dort aus seiner täglichen Arbeit nachgeht (BFH-Urteile in BFH/NV 2002, 1411; in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447).

d) Schließlich ist dem Wortlaut des § 1 EStG nicht zu entnehmen, dass nur derjenige Wohnsitz zur unbeschränkten Steuerpflicht führt, der zugleich den Mittelpunkt der Lebensinteressen der betreffenden Person darstellt. Dementsprechend hat der Senat wiederholt entschieden, dass ein inländischer Wohnsitz auch dann zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht eines Steuerpflichtigen führt, wenn der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sich im Ausland befindet (Urteile in BFH/NV 2002, 1411; in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447). Diese Handhabung ist im Schrifttum ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen (vgl. etwa Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O.; Gersch in Klein, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 8 Anm. 4). Der Streitfall bietet keine Veranlassung, davon abzuweichen.

Es gibt auch keinen „allgemeinen Grundsatz des internationalen Steuerrechts„, nach dem jede Person nur von demjenigen Staat als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden darf, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet (, BFH/NV 2001, 1402). Die Frage der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland ist, worauf der Kläger zu Recht hinweist, zu trennen von der Frage, wo eine Person im Sinne eines Doppelbesteuerungsabkommens als ansässig gilt (vgl. etwa Art. 4 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Verhinderung der Steuerverkürzung vom , BGBl II 1990, 743; vgl. dazu bereits , BFHE 116, 150, BStBl II 1975, 708). Somit ist entgegen der Ansicht des FA auch nicht entscheidend, ob es sich bei dem gemeinsamen Wohnsitz des Klägers und der E im Ausland um den „Familienwohnsitz„ handelte.

4. Nach diesen Grundsätzen war die Vorentscheidung zu bestätigen. Dabei kann offen bleiben, inwieweit der Streitfall, was die Beteiligten unterschiedlich beurteilen, mit dem mit Senatsurteil in BFH/NV 2001, 1402 entschiedenen Fall vergleichbar ist.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 917
BFH/NV 2004 S. 917 Nr. 7
KÖSDI 2004 S. 14276 Nr. 8
GAAAB-21049