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11.01.2012

Finanzgericht Niedersachsen: Urteil vom 16.11.2011 – 3 K 269/11

- Wegen eines beim EGMR anhängigen Beschwerdeverfahrens besteht kein Anspruch auf Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, weil dort ausschließlich der Gerichtshof der EU Erwähnung findet.


- Eine Erstreckung der Vorschrift auf den EGMR durch erweiternde Auslegung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO kommt nicht in Betracht.


Tatbestand

Streitig ist, ob das FA verpflichtet war, das Einspruchsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 oder Satz 2 der Abgabenordnung (AO) ruhen zu lassen.

Der Kläger ist … im Ruhestand und erzielt daraus Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In seiner Einkommensteuererklärung machte der Kläger u.a. die Aufwendungen für seine private Krankenversicherung als Sonderausgaben geltend. Das FA ließ insoweit nur einen beschränkten Sonderausgabenabzug zu.

Der Kläger machte im Einspruchsverfahren geltend, dass das Einspruchsverfahren im Hinblick auf ein laufendes Beschwerdeverfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR; Beschwerde-Nr. 2795/10) zur sogenannten pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur beschränkten Abzugsfähigkeit von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen (BVerfG-Beschluss vom 13. Februar 2008, 2 BvL 1/06, NJW 2008, 1868) ruhen solle.

Das FA lehnte eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 AO im Einspruchsbescheid ab. Eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO komme aus Zweckmäßigkeitsgründen u.a. nicht in Betracht, weil Entscheidungen des EGMR allgemein keine Wirkungen auf die individuelle Steuerfestsetzungen haben könnten. Dagegen richtet sich die Klage.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist in diesem – sowie zwei anderen Verfahren – mit gleichlautenden Begründungen der Ansicht, das FA sei aus grundsätzlichen Erwägungen verpflichtet gewesen, das Verfahren zum Ruhen zu bringen. Es lägen bereits die Voraussetzungen für eine Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO vor, da dort der „Europäische Gerichtshof” ausdrücklich erwähnt sei und daher auch der EGMR angesprochen sei. Der EGMR stehe im Übrigen einem obersten Bundesgericht gleich. Das FA habe im Übrigen nicht ermessensfehlerfrei eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO ablehnen können. Durch frühere Entscheidungen des EGMR sei belegt, dass auch bereits abgeschlossene Verfahren wieder aufgenommen werden müssten.

Schließlich und vor allem verstoße die pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Verfassung, weil sie sehenden Auges Unrecht dulde. Die fiskalischen Interessen des Staates dürften nicht in dieser Weise vorrangig berücksichtigt werden. Solange das Bundesverfassungsgericht seine pro-futuro-Rechtsprechung nicht aufgebe, werde den Steuerbürgern effektiver Rechtschutz verwehrt und deren Rechtsschutzmöglichkeiten würden unangemessen in die Länge gezogen. Dadurch entstehe eine überlange Verfahrensdauer und damit ein Verstoß gegen Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Der Kläger beantragt,

den Einspruchsbescheid zur Einkommensteuer 2009 aufzuheben und das FA zu verpflichten, das Einspruchsverfahren sodann gemäß § 363 Abs. 2 AO bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem Beschwerdeverfahren 2795/10 ruhen zu lassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält daran fest, dass das FA nicht verpflichtet gewesen sei, das Einspruchsverfahren ruhen zu lassen.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.

Die Entscheidung des FA, das Einspruchsverfahren nicht ruhen zu lassen, verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

a) Der Kläger hatte keinen Anspruch auf ein Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, da dort ausschließlich der Gerichtshof der Europäischen Union Erwährung findet, wenn von „dem Europäischen Gerichtshof” die Rede ist, und sich der Kläger abweichend davon auf ein beim EGMR anhängiges Beschwerdeverfahren beruft.

Eine durch erweiternde Auslegung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO Erstreckung der Vorschrift auch auf den „Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte” (EGMR) kommt nicht in Betracht und wurde auch von der Rechtsprechung und Literatur in der Vergangenheit gar nicht erst in Erwägung gezogen (vgl. BFH-Urteil vom 26. September 2006 X R 39/05, BStBl. II 2007, 222; Beschluss vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587; Brockmeyer in Klein, AO, § 363 Rz. 17 f und auch Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 363 AO Rz. 202). Soweit in jüngster Zeit vereinzelt im Schrifttum vorgebracht wird, der Wortlaut der Vorschrift sei jedenfalls nicht eindeutig und insoweit auslegungsbedürftig und auslegungsfähig (vgl. [PE], NWB 18/2011, 1523; Nebe, Stbg 2011, 256 [257]; Mann, Steuerberater Intern, Beilage zur Ausgabe 7/2011, S. 3 f.) folgt der Senat dieser Auffassung nicht. Zum Einen ist im Gesetz ausdrücklich nur von „dem” Europäischen Gerichtshof” im Singular die Rede. Dies schließt eine Auslegung, die mehrere gänzlich verschiedene Gerichte adressiert, schon vom Wortlaut als der äußeren Grenze einer möglichen Auslegung aus. Zum Anderen ist der Europäische Gerichthof, also der „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften”, in das steuerrechtliche Rechtsschutzsystem durch die Möglichkeit von Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte wie dem Finanzgericht aktiv einbezogen (ebenso Birkenfeld, aaO., Rz. 203). Daher kommt nur eine Auslegung der Vorschrift des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO dergestalt in Betracht, dass nur der EuGH in Luxemburg und nicht auch der EGMR in Straßburg in die gesetzliche Regelung einbezogen ist.

b) Das FA war auch nicht verpflichtet, das Einspruchsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO mit Zustimmung bzw. auf Antrag des Klägers ruhen zu lassen.

Bei der Entscheidung des FA, das Einspruchsverfahren nicht ruhen zu lassen, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Dies ergibt sich aus § 363 Abs. 2 Satz 1 AO. Der Senat kann daher bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Weigerung des FA nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens des FA setzen. Er darf nach § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Ermessensausübung durch das FA vielmehr nur daraufhin überprüfen, ob das Ermessen des FA im Streitfall auf Null geschrumpft war und der Kläger daher ausnahmsweise einen Anspruch auf Ruhen des Verfahrens hatte oder ob das FA einen sonstigen Ermessensfehler begangen hat. Derartige Ermessensverstöße vermag der Senat im Streitfall nicht zu erkennen.

aa) Das Ermessen des FA war nicht so (auf Null) geschrumpft, dass nur eine Anordnung des Ruhens des Einspruchsverfahrens rechtmäßig gewesen wäre.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass Rechtsmittelverfahren nicht dazu da sind, um Steuerfälle ohne jedes Risiko kostenpflichtiger ablehnender Entscheidungen offenzuhalten (BFH-Beschluss vom 6. Oktober 1995 III R 52/90, BStBl II 1996, 20; vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587; ebenso Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 24. Juni 2010 6 K 12181/08, EFG 2010, 1562). Es besteht ein natürliches Interesse der Steuerpflichtigen, Rechtsmittelkosten möglichst gering zu halten und möglichst alle/viele Veranlagungen offen zu halten, um auch in der Zukunft noch von allen eventuell günstigen Entwicklungen der Rechtsprechung profitieren zu können. Andererseits besteht auch ein Interesse der Finanzverwaltung, Veranlagungen rechts- oder bestandskräftig abschließen zu können. Damit wird zugleich den Steuerpflichtigen Rechtssicherheit gewährt.

Nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde das Verfahren deshalb mit Zustimmung des Einspruchsführers ruhen lassen, wenn das aus wichtigen Gründen zweckmäßig erscheint. Bei den Zweckmäßigkeitserwägungen sind die materiellen Interessen des Einspruchsführers und die Interessen der Finanzverwaltung an einem ökonomischen Verfahren einzubeziehen.

Aus § 363 Abs. 2 Satz 4 AO folgt im Umkehrschluss, dass eine Ermessensreduzierung auf Null in den Fällen des § 363 Abs. 2 Satz 1 AO grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Denn selbst wenn das Einspruchsverfahren teilweise von Gesetzes wegen gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ruht, weil wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird, ist das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO fortzusetzen, wenn die Finanzbehörde dies dem Einspruchsführer mitteilt. Der Steuerpflichtige hat somit selbst dann keinen Anspruch auf ein Ruhen des Einspruchsverfahrens, wenn er den Einspruch auf ein bereits anhängiges und ihm bekanntes Musterverfahren bei einem der in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO aufgeführten Gerichte stützt. Umso weniger besteht ein derartiger Anspruch, wenn lediglich ein Verfahren bei einem dort nicht aufgeführten Gericht herangezogen werden soll (so BFH-Beschluss vom 6. Oktober 1995, aaO. und Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 24. Juni 2010, aaO.)

bb) Es sind darüber hinaus keine Ermessensfehler ersichtlich, die im Streitfall die Weigerung des FA, das Ruhen des Einspruchsverfahrens anzuordnen, unrechtmäßig erscheinen lassen. Das FA hat bei der Weigerung weder gesetzliche Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 102 FGO).

Das FA hat bei der Ermessensabwägung dem Interesse des Klägers am Ruhen des Verfahrens die nach seiner Auffassung bestehenden geringen Erfolgsaussichten des Einspruchsverfahrens gegenübergestellt und zusätzlich berücksichtigt, dass sich der Kläger im wesentlichen nur auf das Musterverfahren beruft und keine eigenen Gründe für die Rechtswidrigkeit der pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zur begrenzten Anzugsfähigkeit der Kosten der Krankenversicherungsbeiträge als Sonderausgaben geltend gemacht hatte. Diese Abwägung widerspricht nicht dem Zweck der Ermächtigung zur Ermessensausübung in § 363 Abs. 2 Satz 1 AO.

Insbesondere durfte das FA der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur streitigen steuerrechtlichen Fragestellung des begrenzten Sonderausgabenabzugs folgen und letztlich im Einklang mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgericht die Erfolgsaussichten der hier streitigen Steuerfestsetzung zur Einkommensteuer des Klägers für das Jahr 2009 als aussichtslos bewerten. Demgegenüber durfte das FA aus seiner Sicht dem Interesse des Klägers an dem Offenhalten ihrer Steuerfestsetzung ein (deutlich) geringeres Gewicht beimessen und dem baldigen Abschluss des Einspruchsverfahrens in der Abwägung ein höheres Gewicht zuschreiben. Das Gericht kann dem Finanzamt im Rahmen seiner nach § 102 FGO eingeschränkten Entscheidungskompetenz keine andere Abwägung vorschreiben.

Soweit das FA zusätzlich noch die Erfolgsaussichten des von dem Kläger herangezogenen Beschwerdeverfahrens bei EGMR in der Weise berücksichtigte, dass es im Einklang mit der Rechtslage eine unmittelbare Wirkung auf die individuelle Steuerfestsetzung der Kläger verneinte, weil die Entscheidungen des EMRK generell keine kassatorischen Wirkungen entfalten, liegt jedenfalls kein Ermessensfehler vor, da solche Erwägungen vom FA ergänzend herangezogen werden konnten.

Jedenfalls musste das FA nicht zusätzlich auch die Erfolgsaussichten des von dem Kläger zitierten Musterverfahren beim EGMR bewerten, in seine Ermessenserwägungen zwingend einbeziehen und ausdrücklich abwägen, da es sich insoweit nur um einen möglichen weiteren Gesichtspunkt zur Zweckmäßigkeit des Ruhens des Einspruchsverfahrens handelt, dem erkennbar vom FA unter Berücksichtigung der Interessen der Finanzverwaltung an einem ökonomischen und alsbald abzuschließenden Verfahren bei der Abwägung kein entscheidender Wert beizumessen gewesen wäre. Selbst wenn das FA dem Beschwerdeverfahren beim EGMR hypothetisch Aussicht auf Erfolg eingeräumt hätte, hätte die Abwägung mit dem Risiko massenhaft offener Einspruchsverfahren keine andere Entscheidung erfordert (§ 102 FGO).

VorschriftenAO § 363 Abs. 2 Satz 2

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