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06.08.2010 · IWW-Abrufnummer 102500

Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 22.04.2010 – C-62/09

Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er Regelungen finanzieller Anreize wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die von den nationalen Gesundheitsbehörden angewandt werden, um ihre Ausgaben in diesem Bereich zu senken und die Ärzte bei der Behandlung bestimmter Krankheiten dazu zu bewegen, bestimmte bezeichnete Arzneimittel zu verschreiben, die einen anderen Wirkstoff enthalten als das Arzneimittel, das zuvor verschrieben wurde oder das ohne die Anreizregelung möglicherweise verschrieben worden wäre.


In der Rechtssache C-62/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court) (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 4. November 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 2009, in dem Verfahren

The Queen, auf Antrag der

Association of the British Pharmaceutical Industry

gegen

Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency,

Beteiligte:

The NHS Confederation (Employers) Company Ltd,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter K. Schiemann, P. Kuris und L. Bay Larsen,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der Association of the British Pharmaceutical Industry, vertreten durch T. de la Mare, Barrister, beauftragt von A. Brown, I. Dodds-Smith und S. Samaratunga, Solicitors,

- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Seeboruth als Bevollmächtigten im Beistand von J. Coppel, Barrister,

- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

- der estnischen Regierung, vertreten durch L. Uibo als Bevollmächtigten,

- der spanischen Regierung, vertreten durch J. López-Medel Bascones als Bevollmächtigten,

- der französischen Regierung, vertreten durch B. Messmer und R. Loosli-Surrans als Bevollmächtigte,

- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,

- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Oliver und M. imerdová als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2010

folgendes

Urteil

Tenor:
Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er Regelungen finanzieller Anreize wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die von den nationalen Gesundheitsbehörden angewandt werden, um ihre Ausgaben in diesem Bereich zu senken und die Ärzte bei der Behandlung bestimmter Krankheiten dazu zu bewegen, bestimmte bezeichnete Arzneimittel zu verschreiben, die einen anderen Wirkstoff enthalten als das Arzneimittel, das zuvor verschrieben wurde oder das ohne die Anreizregelung möglicherweise verschrieben worden wäre.

Entscheidungsgründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association of the British Pharmaceutical Industry (im Folgenden: ABPI) und der Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (im Folgenden: MHPR), einer dem Department of Health (Gesundheitsministerium) unterstehenden Exekutivbehörde, über die Rechtmäßigkeit der von der MHPR vertretenen Auffassung, wonach Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 auf Regelungen finanzieller Anreize keine Anwendung findet, die die staatlichen Behörden für die Verschreibung bestimmter bezeichneter Arzneimittel geschaffen haben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Die Erwägungsgründe 2, 47, 50 und 52 der Richtlinie 2001/83 lauten:

"(2) Alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Herstellung, des Vertriebs oder der Verwendung von Arzneimitteln müssen in erster Linie einen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten.

...

(47) Die Arzneimittelwerbung bei Personen, die zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigt sind, trägt zu deren Information bei. Diese Werbung ist jedoch strengen Voraussetzungen und einer wirksamen Kontrolle zu unterwerfen, wobei insbesondere den im Rahmen des Europarats durchgeführten Arbeiten Rechnung zu tragen ist.

...

(50) Die zur Verschreibung von Arzneimitteln berechtigten Personen müssen ihre Aufgabe absolut objektiv erfüllen können, ohne direkten oder indirekten finanziellen Anreizen ausgesetzt zu sein.

...

(52) Die zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigten Personen müssen zwar über eine neutrale und objektive Informationsquelle über die auf dem Markt angebotenen Arzneimittel verfügen, es obliegt jedoch den Mitgliedstaaten, die dafür geeigneten Maßnahmen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen besonderen Lage zu treffen."

Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:

"Die Bestimmungen dieser Richtlinie berühren nicht die Zuständigkeiten der Behörden der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festsetzung der Arzneimittelpreise und ihrer Einbeziehung in den Anwendungsbereich der innerstaatlichen Krankenversicherungssysteme aufgrund gesundheitlicher, wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen."

Titel VIII ("Werbung") der Richtlinie umfasst die Art. 86 bis 88, während ihr Titel VIIIa ("Information und Werbung") die Art. 88a bis 100 enthält.

In Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 heißt es:

"Im Sinne dieses Titels gelten als 'Werbung für Arzneimittel‘ alle Maßnahmen zur Information, zur Marktuntersuchung und zur Schaffung von Anreizen mit dem Ziel, die Verschreibung, die Abgabe, den Verkauf oder den Verbrauch von Arzneimitteln zu fördern; sie umfasst insbesondere:

- die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel,

- die Arzneimittelwerbung bei Personen, die zur Verschreibung oder zur Abgabe von Arzneimitteln befugt sind,

...

- Anreize zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln durch das Gewähren, Anbieten oder Versprechen von finanziellen oder materiellen Vorteilen, sofern diese nicht von geringem Wert sind,

..."

In Art. 88 Abs. 1 und 4 der Richtlinie heißt es:

"(1) Die Mitgliedstaaten verbieten die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel, die

a) gemäß Titel VI nur auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden dürfen,

...

(4) Das Verbot nach Absatz 1 gilt nicht für die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten genehmigten Impfkampagnen der Industrie."

Art. 94 Abs. 1 und 3 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Im Rahmen der Verkaufsförderung für Arzneimittel bei den zu ihrer Verschreibung oder Abgabe berechtigten Personen ist es verboten, diesen eine Prämie, finanzielle oder materielle Vorteile zu gewähren, anzubieten oder zu versprechen, es sei denn, sie sind von geringem Wert und für die medizinische oder pharmazeutische Praxis von Belang.

...

(3) Die zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigten Personen dürfen keine der aufgrund von Absatz 1 untersagten ... Anreize verlangen oder annehmen."

Art. 95 der Richtlinie lautet:

"Die Bestimmungen des Artikels 94 Absatz 1 stehen der direkten oder indirekten Bewirtung bei ausschließlich berufsbezogenen und wissenschaftlichen Veranstaltungen nicht entgegen; der entsprechende Repräsentationsaufwand muss immer streng auf den wissenschaftlichen Hauptzweck der Veranstaltung begrenzt sein; er darf nicht anderen Personen als Angehörigen der Gesundheitsberufe gelten."

Art. 99 der Richtlinie 2001/83 bestimmt:

"Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Anwendung der Bestimmungen dieses Titels sicherzustellen, und legen insbesondere die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die zur Durchführung dieses Titels erlassenen Bestimmungen anzuwenden sind."

Nationales Recht

Regulation 21(1) und (5) der Arzneimittelwerbungsverordnung von 1994 (Medicines [Advertising] Regulations 1994), mit der die in den Randnrn. 4 bis 9 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen des Unionsrechts umgesetzt wurden, sieht vor:

"(1) Vorbehaltlich von Regulation 21(2) und (4) ist es im Rahmen der Verkaufsförderung für relevante Arzneimittel bei den zu ihrer Verschreibung oder Abgabe berechtigten Personen verboten, diesen eine Prämie, finanzielle oder materielle Vorteile zu gewähren, anzubieten oder zu versprechen, es sei denn, sie sind von geringem Wert und für die medizinische oder pharmazeutische Praxis von Belang.

...

(5) Eine zur Verschreibung oder Abgabe relevanter Arzneimittel berechtigte Person darf keine der durch diese Verordnung untersagten Prämien, finanziellen oder materiellen Vorteile, Bewirtungs- oder Sponsorleistungen verlangen oder annehmen."

Nach Regulation 23(1) der genannten Verordnung von 1994 ist ein Verstoß gegen ihre Regulation 21(1) strafbar und wird mit Geldstrafe und/oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren geahndet.

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist der Secretary of State gemäß dem Gesetz von 2006 über den Nationalen Gesundheitsdienst (National Health Service Act 2006) in England und Wales für die Bereitstellung eines umfassenden Gesundheitsdienstes zuständig, der Verbesserungen der physischen und psychischen Gesundheit der Bevölkerung sowie die Verhütung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten sicherstellen soll. In England werden zu diesem Zweck die Kosten für medizinische Leistungen auf lokaler Ebene von sogenannten "Primary Care Trusts" (im Folgenden: PCTs) und in Wales von den "Local Health Boards" (im Folgenden: LHBs) getragen.

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

In England und Wales sind Allgemeinmediziner und andere Angehörige der Gesundheitsberufe mit speziellen Befugnissen zur Verschreibung von Arzneimitteln ausgestattet. Wenn sie Arzneimittel verschreiben, deren Kosten vom National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst) getragen werden sollen, müssen sie dessen Regeln und Verschreibungsvorschriften beachten. Sie haben auch die beruflichen Verhaltenskodexe zu befolgen, die der General Medical Council aufstellt.

Im Rahmen einer allgemeinen Politik zur Senkung ihrer Kosten im Bereich Arzneimittel haben die PCTs und die LHBs Regelungen finanzieller Anreize für Arztpraxen geschaffen, um diese dazu zu bewegen, ihren Patienten entweder bestimmte bezeichnete Arzneimittel oder Generika zu verschreiben.

Im Ausgangsverfahren geht es nur um die Regelungen finanzieller Anreize für die Verschreibung bestimmter bezeichneter Arzneimittel.

Was diese Arzneimittel betrifft, sollen die Regelungen die Ärzte dazu bewegen, bei der Aufstellung ihrer Behandlungsstrategie die Verschreibung bestimmter Arzneimittel zu bevorzugen, die zu derselben therapeutischen Klasse gehören wie die zuvor verschriebenen Arzneimittel oder diejenigen, die den Patienten ohne die Anreizregelung möglicherweise verschrieben worden wären, aber nicht denselben Wirkstoff enthalten. Die Ärzte werden so zum einen veranlasst, die Behandlung ihrer Patienten hinsichtlich laufender Verschreibungen umzustellen, und zum anderen, bei der ersten Verschreibung eines Arzneimittels gegen eine bestimmte Krankheit eine Behandlung zu bevorzugen, die auf einem bestimmten Wirkstoff anstelle eines anderen beruht. Die Bestimmung der therapeutischen Gleichwertigkeit von Arzneimitteln derselben therapeutischen Klasse durch die PCTs und die LHBs erfolgt u. a. nach den Leitlinien des National Institute of Health and Clinical Excellence (Nationales Institut für Gesundheit und klinische Exzellenz). Im vorliegenden Fall betreffen die fraglichen Anreizregelungen hauptsächlich die Verschreibung von Statinen, die zur Senkung des Cholesterins eingesetzt werden.

Die finanziellen Anreize werden nach zwei unterschiedlichen Regelungen berechnet. Nach der ersten sammeln die Arztpraxen Punkte für die Erfüllung einer Reihe von Verschreibungszielvorgaben, zu denen die Erhöhung des Anteils von Verschreibungen eines bestimmten bezeichneten Arzneimittels (das insoweit ausdrücklich oder implizit gegenüber anderen Arzneimitteln in der betreffenden Klasse bevorzugt wird) gehören kann. Die Höhe der Zahlung hängt also von der Anzahl der gesammelten Punkte ab. Die zweite Regelung beruht auf Einzelzielvorgaben, d. h., die Zahlungen hängen von der Erfüllung einer einzelnen Zielvorgabe - wozu die Erhöhung des Gesamtanteils der Verschreibungen eines bestimmten bezeichneten Arzneimittels gehören kann - oder von der Zahl der Patienten ab, die von einem etablierten Arzneimittel auf das - oder die - Arzneimittel umgestellt werden, das von den zuständigen nationalen Behörden empfohlen wird.

Die an eine allgemeinmedizinische Praxis geleisteten Zahlungen erhöhen deren Einkünfte, die sie aus Konsultationen bezieht, und kommen letztlich denjenigen Allgemeinmedizinern zugute, die an den von der Praxis erzielten Gewinnen beteiligt sind.

Mit diesen Regelungen finanzieller Anreize sollen die Kosten der PCTs und der LHBs im Bereich Arzneimittel gesenkt werden, da es sich bei den Arzneimitteln, deren Verschreibung empfohlen wird, um die preisgünstigsten der entsprechenden therapeutischen Klassen handelt. In bestimmten Fällen könnte jedoch ein anderes Arzneimittel derselben therapeutischen Klasse besser zur Behandlung eines bestimmten Patienten geeignet sein. Daher könnte die Ersetzung des verschriebenen Arzneimittels durch ein anderes, das einen anderen Wirkstoff enthält, in einigen Fällen durchaus negative Folgen für den Patienten nach sich ziehen.

Am 3. Juli 2006 wandte sich die ABPI, der 70 nationale und internationale im Vereinigten Königreich tätige Pharmaunternehmen angehören, mit einem Schreiben an die MHPR, zu deren Aufgaben die Überprüfung der Einhaltung der Unionsregelungen und der nationalen Regelungen über Werbung und Verkaufsförderung für Arzneimittel gehört. In ihrem Schreiben äußerte die ABPI ihre Bedenken und juristischen Einwände in Bezug auf einige von PCTs und LHBs durchgeführte Anreizregelungen für die Verschreibung bestimmter bezeichneter Arzneimittel.

In ihrer Antwort vom 16. Oktober 2006 teilte die MHPR, die zuvor eine andere Auffassung vertreten hatte, mit, sie gehe nunmehr davon aus, dass Art. 94 der Richtlinie 2001/83 lediglich Verkaufsförderungen und/oder Anreizregelungen kommerzieller Art erfasse. Denn Art. 94 sei zwar erlassen worden, um kommerzielle Organisationen an der Beeinflussung der Verschreibungsentscheidungen der Ärzte zu hindern, dies ändere jedoch nichts daran, dass in Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie eindeutig anerkannt werde, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen können müssten und treffen dürften, um eine Begrenzung der aus öffentlichen Mitteln getragenen Kosten sicherzustellen.

Da die ABPI diese Auslegung des Art. 94 der Richtlinie 2001/83 ablehnte, erhob sie beim vorlegenden Gericht eine Klage zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des von der MHPR vertretenen Standpunkts. In ihrer Klage führt sie u. a. aus, dass sich die Finanzierung medizinischer Behandlungen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheide, da sie zum Teil durch öffentliche, zum Teil durch private Kassen sichergestellt werde. Wenn staatliche Behörden, die Gesundheitsdienstleistungen erbrächten, vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen würden, liefe dies darauf hinaus, dass unterschiedliche Regeln angewandt würden, je nachdem, ob der Leistungserbringer einen kommerziellen Zweck verfolge oder nicht, und letztlich der Binnenmarkt für diese Dienstleistungen in der Europäischen Union beeinträchtigt würde.

Da der High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court), eine Auslegung des Art. 94 der Richtlinie 2001/83 für erforderlich hält, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist eine öffentliche Einrichtung, die zu einem nationalen öffentlichen Gesundheitsdienst gehört, aufgrund von Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 daran gehindert, in dem Bestreben, eine Senkung ihrer Gesamtausgaben für Arzneimittel zu erreichen, eine Regelung durchzuführen, in deren Rahmen Arztpraxen finanzielle Anreize geboten werden (die wiederum dem verschreibenden Arzt einen finanziellen Vorteil verschaffen können) für die Verschreibung eines von der Anreizregelung erfassten bestimmten bezeichneten Arzneimittels, bei dem es sich

a) entweder um ein anderes verschreibungspflichtiges Arzneimittel handelt als das Arzneimittel, das der Arzt dem Patienten zuvor verschrieben hatte,

b) oder um ein anderes verschreibungspflichtiges Arzneimittel als dasjenige, das dem Patienten ohne die Anreizregelung möglicherweise verschrieben worden wäre,

wobei dieses verschreibungspflichtige Arzneimittel derselben therapeutischen Klasse von Arzneimitteln angehört, die zur Behandlung der betreffenden Krankheit des Patienten eingesetzt werden?

Zur Vorlagefrage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

Die ABPI und die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 auch auf nationale Behörden Anwendung finde. Folglich sei eine öffentliche Einrichtung, die zu einem nationalen öffentlichen Gesundheitsdienst gehöre, durch diese Bestimmung daran gehindert, eine Regelung durchzuführen, in deren Rahmen Arztpraxen finanzielle Anreize geboten würden, damit die in diesen Praxen tätigen Ärzte ein bestimmtes bezeichnetes Arzneimittel verschrieben, und zwar auch dann, wenn mit dieser Regelung bezweckt werde, die öffentlichen Gesamtausgaben für Arzneimittel zu senken.

Dagegen vertreten die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die tschechische, die estnische, die spanische, die französische und die niederländische Regierung die Auffassung, dass Art. 94 der Richtlinie 2001/83, wie sich aus der Systematik dieser Richtlinie und daraus ergebe, dass Art. 152 Abs. 5 EG ausdrücklich vorsehe, dass bei der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt werde, nicht für die nationalen Gesundheitsbehörden gelte. Außerdem fiele, falls das in Art. 94 aufgestellte Verbot auf diese Behörden Anwendung finden sollte, eine von ihnen geschaffene Regelung finanzieller Anreize unter die Ausnahme des Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie, da mit einer derartigen Regelung bezweckt werde, für alle den Zugang zu einer ausreichenden Menge an Arzneimitteln zu einem vernünftigen Preis zu gewährleisten.

Antwort des Gerichtshofs

Nach Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 ist es verboten, zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigten Personen eine Prämie, finanzielle oder materielle Vorteile zu gewähren, anzubieten oder zu versprechen, es sei denn, sie sind von geringem Wert und für die medizinische oder pharmazeutische Praxis von Belang.

Wie aus dieser Bestimmung hervorgeht, gilt dieses Verbot "[i]m Rahmen der Verkaufsförderung für Arzneimittel" bei Ärzten oder Apothekern.

Nach der Systematik der Richtlinie 2001/83 sollen demnach mit diesem Verbot, das vor allem die Pharmaindustrie betrifft, wenn diese Verkaufsförderungsmaßnahmen für von ihr auf den Markt gebrachte Arzneimittel unternimmt, Verkaufsförderungspraktiken verhindert werden, die geeignet sind, bei den Angehörigen der Gesundheitsberufe ein wirtschaftliches Interesse an der Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln zu wecken. Mit dieser Bestimmung soll also eine medizinische und pharmazeutische Praxis gefördert werden, die den Berufsregeln entspricht.

Hinsichtlich der Werbung für Arzneimittel hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass diese der öffentlichen Gesundheit, deren Schutz das wesentliche Ziel der Richtlinie 2001/83 ist, auch dann schaden kann, wenn sie von einem unabhängigen Dritten außerhalb einer kaufmännischen oder gewerblichen Tätigkeit vorgenommen wird, und dass die von einem Dritten vorgenommene Verbreitung von Informationen über ein Arzneimittel, namentlich über dessen heilende oder verhütende Eigenschaften, deshalb auch dann als Werbung im Sinne des Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie angesehen werden kann, wenn dieser Dritte aus eigenem Antrieb und in völliger - rechtlicher und tatsächlicher - Unabhängigkeit vom Hersteller oder vom Verkäufer des Arzneimittels handelt (Urteil vom 2. April 2009, Damgaard, C-421/07, Slg. 2009, I-0000, Randnrn. 22 und 29).

Diese Argumentation kann jedoch nicht auf Informationen über ein Arzneimittel übertragen werden, die von den staatlichen Behörden selbst, etwa bei Ausbruch einer Epidemie oder Pandemie, verbreitet werden. Insbesondere ergibt sich nämlich aus Art. 88 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83, dass das in Art. 88 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Verbot der Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel nicht für die "Impfkampagnen der Industrie" gilt, wenn diese von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten genehmigt sind.

Auch hinsichtlich der finanziellen Anreize für die Verschreibung von Arzneimitteln kann das Verbot nach Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 zwar auf unabhängige Dritte, die außerhalb einer kaufmännischen oder gewerblichen Tätigkeit oder überhaupt außerhalb einer auf Gewinn gerichteten Tätigkeit handeln, Anwendung finden, jedoch nicht für die nationalen Behörden gelten, die für die Gesundheit der Bevölkerung zuständig und insbesondere damit betraut sind, zum einen für die Anwendung der geltenden Regelungen zu sorgen, zu denen u. a. diese Richtlinie gehört, und zum anderen die Handlungsprioritäten der Gesundheitspolitik festzulegen, insbesondere bezüglich der Begrenzung der öffentlichen Ausgaben für diese Politik, für die sie gerade verantwortlich sind.

Allgemein wird mit der von einem Mitgliedstaat definierten Gesundheitspolitik und den öffentlichen Ausgaben, die er hierfür vorsieht, weder ein Erwerbszweck noch ein kaufmännischer Zweck verfolgt. Eine Regelung finanzieller Anreize wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die in den Bereich dieser Politik fällt, gehört daher nicht zur kommerziellen Verkaufsförderung für Arzneimittel.

Im Übrigen war zwar die Verbreitung von Informationen über ein Arzneimittel durch einen unabhängigen Dritten in der Rechtssache, in der das Urteil Damgaard ergangen ist, geeignet, der öffentlichen Gesundheit, deren Schutz das wesentliche Ziel der Richtlinie 2001/83 ist, zu schaden, doch ist eine solche Gefahr bei finanziellen Anreizen, die von den für die Gesundheit der Bevölkerung zuständigen Behörden gewährt werden, nicht erkennbar. Denn das Wesen der Aufgabe dieser Behörden besteht gerade darin, für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen, für die sie die politische Verantwortung tragen; somit haben sie den therapeutischen Nutzen der Arzneimittel zu bewerten, deren Inverkehrbringen sie genehmigen.

Daher steht es den genannten Behörden im Rahmen der ihnen obliegenden Verantwortlichkeiten frei, auf der Grundlage von Bewertungen der therapeutischen Eigenschaften von Arzneimitteln unter Berücksichtigung ihrer Kosten für den öffentlichen Haushalt zu bestimmen, ob für die Behandlung bestimmter Krankheiten gewisse Arzneimittel, die einen bestimmten Wirkstoff enthalten, aus Sicht der öffentlichen Finanzen gegenüber anderen Arzneimitteln vorzugswürdig sind, die einen anderen Wirkstoff enthalten, aber zu derselben therapeutischen Klasse gehören.

Denn nach Art. 168 Abs. 7 AEUV lässt das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und insbesondere zum Erlass von Vorschriften zur Regulierung des Arzneimittelverbrauchs im Hinblick auf die Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts ihrer Krankenversicherungssysteme unberührt (Urteil vom 2. April 2009, A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., C-352/07 bis C-356/07, C-365/07 bis C-367/07 und C-400/07, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Um die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme (ABl. 1989, L 40, S. 8) zu gewährleisten, muss den Angehörigen der Pharmaindustrie unabhängig davon, ob für ihre Arzneimittel finanzielle Verschreibungsanreize bestehen oder nicht, allerdings auch die Möglichkeit geboten werden, sich zu vergewissern, dass die von den staatlichen Behörden durchgeführte Regelung finanzieller Anreize auf objektiven Kriterien beruht und inländische Arzneimittel und solche aus anderen Mitgliedstaaten nicht unterschiedlich behandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juni 2003, Kommission/Finnland, C-229/00, Slg. 2003, I-5727, Randnr. 39, und A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 28).

Auch wenn die Richtlinie 89/105 vom Gedanken einer minimalen Einwirkung auf die mitgliedstaatliche Organisation der internen Sozialversicherungspolitiken getragen ist (Urteil vom 20. Januar 2005, Merck, Sharp & Dohme, C-245/03, Slg. 2005, I-637, Randnr. 27), sind die nationalen Gesundheitsbehörden, die eine Regelung finanzieller Anreize für die Verschreibung bestimmter bezeichneter Arzneimittel erlassen, daher insbesondere verpflichtet, diese Regelung öffentlich zu machen und den Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Pharmaindustrie die Bewertungen zur Verfügung zu stellen, anhand deren die therapeutische Gleichwertigkeit der verfügbaren Wirkstoffe, die zu der unter diese Regelung fallenden therapeutischen Klasse gehören, festgestellt wird.

Schließlich beeinträchtigen derartige Praktiken staatlicher finanzieller Anreize für die Verschreibung von Arzneimitteln, die bestimmte Wirkstoffe enthalten, nicht die Objektivität, die der Arzt nach dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 wahren muss, wenn er einem Patienten ein Arzneimittel verschreibt.

Denn zum einen darf ein verschreibender Arzt ein Arzneimittel nach den Berufsregeln nicht verschreiben, wenn es für die therapeutische Behandlung seines Patienten nicht geeignet ist, und zwar ungeachtet des Bestehens staatlicher finanzieller Anreize für die Verschreibung dieses Arzneimittels.

Zum anderen darf ein Arzt seinen Beruf nur unter der Kontrolle der staatlichen Gesundheitsbehörden ausüben, die unmittelbar oder mittelbar durch hierzu ermächtigte Berufsorganisationen wie den General Medical Council im Vereinigten Königreich erfolgt. Im Rahmen dieser Aufgabe der Kontrolle und Aufsicht über die Tätigkeit der Ärzte sind die staatlichen Behörden oder die beauftragten Berufsorganisationen befugt, den Ärzten Empfehlungen im Bereich der Verschreibung von Arzneimitteln zu erteilen, ohne dass diese Empfehlungen die Objektivität der verschreibenden Ärzte im Sinne des 50. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2001/83 beeinträchtigen könnten.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass er Regelungen finanzieller Anreize wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die von den nationalen Gesundheitsbehörden angewandt werden, um ihre Ausgaben in diesem Bereich zu senken und die Ärzte bei der Behandlung bestimmter Krankheiten dazu zu bewegen, bestimmte bezeichnete Arzneimittel zu verschreiben, die einen anderen Wirkstoff enthalten als das Arzneimittel, das zuvor verschrieben wurde oder das ohne die Anreizregelung möglicherweise verschrieben worden wäre.

Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er Regelungen finanzieller Anreize wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die von den nationalen Gesundheitsbehörden angewandt werden, um ihre Ausgaben in diesem Bereich zu senken und die Ärzte bei der Behandlung bestimmter Krankheiten dazu zu bewegen, bestimmte bezeichnete Arzneimittel zu verschreiben, die einen anderen Wirkstoff enthalten als das Arzneimittel, das zuvor verschrieben wurde oder das ohne die Anreizregelung möglicherweise verschrieben worden wäre.

RechtsgebietArzneimittelrechtVorschriftenArt. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG

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