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17.06.2010 · IWW-Abrufnummer 101808

Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 17.03.2010 – 2 K 3539/09

1. Krankheit entschuldigt eine Fristversäumung nur, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar auftritt und so schwerwiegend ist, dass weder die Wahrung der Frist noch die Bestellung eines Vertreters möglich ist.



2. Bei einer normalen Geburt ist es der Entbundenen regelmäßig nach einem Tag möglich, Klage zu erheben oder eine Person hiermit zu beauftragen, so dass sie durch die Geburt nicht an der Einhaltung der einmonatigen Rechtsmittelfrist gehindert worden ist.


FG Baden-Württemberg v. 17.03.2010

2 K 3539/09

Tatbestand
Streitig ist die Zulässigkeit der Klage.

Die seit Oktober 2006 geschiedene Klägerin war bis 2007 in Frankreich als Physiotherapeutin selbständig berufstätig und wohnt seit April 2008 in Deutschland. Am 28. November 2008 beantragte sie für den in ihrem Haushalt lebenden, am 13. Oktober 2003 geborenen Sohn * bei der beklagten Bundesagentur für Arbeit – Familienkasse – Kindergeld. Dabei gab sie an, der Vater ihres Sohns – ihr geschiedener Ehemann – lebe und arbeite in Frankreich.

Da die Klägerin angeforderte Unterlagen nicht vorlegte, wurde der Antrag auf Kindergeld durch Bescheid vom 16. März 2009 mit der Begründung abgelehnt, die Voraussetzungen für das Bestehen eines Anspruchs auf Kindergeld könnten nicht festgestellt werden. Hiergegen legte die Klägerin am 8. April 2009 Einspruch ein und legte zu dessen Begründung eine Meldebestätigung der Gemeinde X sowie eine Bestätigung des Therapiezentrums P vom 24. April 2009 über eine Beschäftigung der Klägerin vom 22. April 2008 bis einschließlich 30. Juni 2008 vor. Außerdem einen Arbeitsvertrag, nach welchem die Klägerin seit 1. Februar 2009 bei dem H als Physiotherapeutin beschäftigt ist. Den ebenfalls angeforderten Nachweis über Höhe und Zeitraum des in Frankreich erhaltenen Kindergelds legte sie der Familienkasse jedoch nicht vor.

Durch Bescheid vom 9. Juli 2009 änderte die Familienkasse den angefochtenen Bescheid gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a Abgabenordnung (AO) und setzte Kindergeld für den Sohn der Klägerin von April 2008 bis Juni 2008 i.H.v. 154 Euro und ab Februar 2009 i.H.v. 164 Euro jeweils monatlich fest und wies den Einspruch im Übrigen durch Entscheidung vom 9. Juli 2009 als unbegründet zurück. Nach dem anzuwendenden Recht der Europäischen Union (EU) sei ein Kindergeldanspruch der Klägerin in Deutschland nur bei deren Erwerbstätigkeit im Inland gegeben. Die Klägerin habe im maßgeblichen Zeitraum von Juli 2008 bis 31. Januar 2009 jedoch keine Erwerbstätigkeit ausgeübt. In einem solchen Fall sei der Kindergeldanspruch des in Frankreich erwerbstätigen Vaters vorrangig. Deutsches Kindergeld der Klägerin sei in Höhe des ausländischen Anspruchs auszusetzen.

Nach von der Bearbeiterin mit Namenszeichen versehenem Vermerk wurde die Einspruchsentscheidung am 10. Juli 2009 als einfacher Brief abgesandt.

Mit unter dem 11. August 2009 gefertigtem Schreiben, welches durch die Post übermittelt wurde und am 18. August 2009 beim Gericht einging, hat sich die Klägerin gegen die Einspruchsentscheidung gewandt. Hierzu führt sie folgendes aus: Da ihr das französische Amt schnelle Bearbeitung zugesichert habe, habe sie ihre schriftliche Antwort soweit wie möglich innerhalb der Monatsfrist hinausgezögert. Sie habe am 8. August entbunden. Die leichte Überziehung der Monatsfrist bitte sie zu entschuldigen. Die Bestätigung, dass auch in Frankreich niemand Zahlungen für ihren Sohn erhalten habe, werde sie nachsenden. Am 24. August 2009 hat die Klägerin eine Bestätigung der Caisse d'Allocations Familiales du Gard, U/Frankreich, vom 28. Juli 2009 vorgelegt. Danach haben weder der Vater noch das Kind * Zahlungen erhalten.

Mit der der Klägerin am 31. Oktober 2009 bekanntgegebenen Verfügung des Gerichts wurde diese auf die Versäumung der Klagefrist hingewiesen. Hierauf hat die Klägerin am 12. November 2009 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung beantragt, zum einen sei sie nicht dafür verantwortlich, dass die französische Behörde so lange gebraucht habe, um ein Dokument zu schicken. Zum anderen sei sie unverschuldet an der Einhaltung der Klagefrist verhindert gewesen. Sie habe früher entbunden als erwartet. Dies werde durch das Schreiben ihrer Hebamme belegt.

Das Kindergeld stehe ihr auch zu, da sie bewiesen habe, für den Zeitraum von Juli 2008 bis Januar 2009 kein Geld von der französischen Kasse erhalten zu haben.

Die Klägerin beantragt,

nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand den Kindergeldbescheid sowie die Einspruchsentscheidung, beide vom 9. Juli 2009, zu ändern und für die Zeit von Juli 2008 bis Januar 2009 Kindergeld i.H.v. insgesamt 1.242 Euro zu zahlen.

Die Familienkasse beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Klage sei, da verspätet beim Finanzgericht eingegangen, unzulässig. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben. Durch die Rechtsbehelfsbelehrung der Einspruchsentscheidung sei der Klägerin der Ablauf der Klagefrist bekannt gewesen. Des Weiteren sei der Klägerin bekannt gewesen, dass der geschätzte Geburtstermin und der Ablauf der Klagefrist nahe zusammengelegen hätten. Es sei durchaus nicht ungewöhnlich, dass eine Geburt zeitnah vor dem angenommenen Termin stattfinde und somit auch für die Klägerin nicht unerwartet geschehen sei. Da der Ablauf der Klagefrist und die erwartete Entbindung nahe zusammengelegen hätten, hätte die Klägerin durchaus Vorkehrungen zur Sicherstellung einer fristgerechten Klageerhebung treffen können (z.B. Beauftragung Dritter).

Im Klageverfahren hat die Klägerin ein Schreiben vom 6. November 2009 ihrer Hebamme B vorgelegt, in welchem diese bestätigt, dass der Geburtstermin auf die Zeit zwischen dem 15. und 22. August geschätzt worden sei, die Klägerin ihr Kind jedoch bereits am 8. August 2009 zur Welt gebracht habe. Aus medizinischen Gründen habe sie ihr eine Woche Bettruhe verordnet. Die Klägerin sei in der ersten Woche nach der Geburt nicht in der Lage gewesen, sich um organisatorische oder bürokratische Dinge zu kümmern. Das Schreiben schließt mit der Frage: „Sollten wir in einem Land, welches dringend Nachwuchs braucht, in derartigen Situationen nicht mal beide Augen zudrücken?”

Durch Beschluss vom 25. Januar 2010 ist der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen worden.



Entscheidungsgründe
Die Klage ist nicht zulässig.

Der Änderungsbescheid vom 9. Juli 2009, der nach § 365 Abs. 3 AO Gegenstand des Einspruchsverfahrens geworden ist, ist bestandskräftig. Denn die Klagefrist des § 47 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) von einem Monat ist versäumt worden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO kann nicht gewährt werden.

Die Klägerin hat mit dem am 18. August 2009 beim Gericht eingegangenen Schreiben Klage gemäß § 40 Abs. 1 FGO erhoben. Inhaltlich liegt eine Klageerhebung nur vor, wenn um gerichtlichen Rechtsschutz in Form eines Urteils nachgesucht wird (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 28. Juni 1989 I R 67/85, BStBl II 1989, 848). Dieses Begehren muss sich aus der Rechtsbehelfsschrift selbst ergeben. Bei deren Auslegung ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Betroffene den Rechtsbehelf einlegen wollte, der seinen Belangen entspricht und zu dem von ihm angestrebten Erfolg führen kann (z.B. Urteil des BFH vom 18. Dezember 1985 I R 30/85, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 1986, 675, mit weiteren Nachweisen). Prozesserklärungen sind so auszulegen, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (Urteil des BFH vom 8. November 1996 VI R 37/94, BFH/NV 1997, 363, mit weiteren Nachweisen).

Nach diesen Grundsätzen ist das an das Gericht adressierte Schreiben der Klägerin als Klage zu werten. Denn diesem Schreiben ist eindeutig zu entnehmen, dass die Klägerin sich mit ihrem Ersuchen um rechtliche Überprüfung gegen die Einspruchsentscheidung wendet. Nachdem die Familienkasse in der Einspruchsentscheidung an der Teilabhilfeentscheidung festhielt, entspricht es dem wohlverstandenen Interesse der Klägerin, eine Nachprüfung durch das Gericht in einem Klageverfahren herbeizuführen, zumal die Klägerin auf Anfrage gegenüber dem Finanzgericht selbst zum Ausdruck gebracht hat, ihr Schreiben vom 11. August 2009 sei als Klage anzusehen.

Die Klage ist jedoch nicht fristgerecht erhoben worden, mithin unzulässig.

Nach § 47 Abs. 1 FGO kann gegen die Einspruchsentscheidung innerhalb eines Monats Anfechtungsklage erhoben werden. Dies ist hier nicht geschehen. Die Klagefrist beginnt mit der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (§ 366 AO). Im Streitfall wurde die Einspruchsentscheidung ausweislich des Absendevermerks am 10. Juli 2009 als einfacher Brief zur Post aufgegeben. Nach § 122 Abs. 2 AO gilt die Einspruchsentscheidung mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekanntgegeben. Die Klagefrist begann somit am 14. Juli 2009 zu laufen und endete am 13. August 2009. Bis zu diesem Zeitpunkt ist gegen die Einspruchsentscheidung nicht geklagt worden. Die beim Finanzgericht am 18. August 2009 eingegangene Klage ist verspätet erhoben.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO liegen nicht vor. Über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung – hier Erhebung der Klage – zu befinden hat (§ 56 Abs. 4 FGO), nach Gewährung rechtlichen Gehörs (Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 16. November 1972 2 BvR 21/72, Sammlung der Entscheidungen des BVerfG – BVerfGE – 34, 154 vom 15. Januar 1980 2 BvR 920/79, BVerfGE 53, 109 sowie vom 15. November 1982 1 BvR 585/80, BVerfGE 62, 249). In der Regel wird über die Wiedereinsetzung im Endurteil mitentschieden (§ 155 FGO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung).

Wiedereinsetzung ist auf Antrag zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist verhindert war (§ 56 Abs. 1 FGO). Formell setzt die Wiedereinsetzung voraus, dass der Antrag innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses gestellt oder innerhalb dieser Frist die versäumte Rechtshandlung nachgeholt wird (§ 56 Abs. 2 Sätze 1 und 4 FGO) und diejenigen Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll (z.B. Urteil des BFH vom 21. Februar 1995 VIII R 76/93, BFH/NV 1995, 989, mit weiteren Nachweisen). Das erfordert grundsätzlich eine in sich schlüssige Darstellung der für die Wiedereinsetzung wesentlichen Tatsachen innerhalb dieser Frist (z.B. Beschluss des BFH vom 14. Oktober 1998 X R 87/97, BFH/NV 1999, 621, mit weiteren Nachweisen). Nach Ablauf dieser Frist können Wiedereinsetzungsgründe nicht mehr nachgeschoben, sondern nur noch unklare und unvollständige Angaben erläutert oder ergänzt werden (Urteil des BFH vom 21. Februar 1995 VIII R 76/93, a.a.O.).

Hat der Betroffene die Frist zur Klage gegen eine zurückweisende Einspruchsentscheidung versäumt, so hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Bei Anwendung des § 56 FGO dürfen deshalb die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlasst haben oder vorbringen muss, um Wiedereinsetzung zu erhalten (Beschlüsse des BVerfG vom 16. November 1972 2 BvR 21/72 , a.a.O., vom 11. Juli 1984 1 BvR 1269/83, BVerfGE 67, 208).

Die Klägerin hat die Tatsachen zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO vorgetragen. Sie hat geltend gemacht, durch die vorzeitige Geburt ihres zweiten Kindes habe sie die Klage nicht fristgerecht einreichen können. Hierzu hat sie eine Bestätigung ihrer Hebamme vorgelegt, wonach diese der Klägerin für die erste Woche nach der Geburt Bettruhe verordnet habe.

Dieser Vortrag kann eine Wiedereinsetzung nicht begründen. Krankheit entschuldigt die Fristversäumung nur, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar auftritt und so schwerwiegend ist, dass weder die Wahrung der Frist noch die Bestellung eines Vertreters möglich war (vgl. Gräber/Stapperfend, FGO, 6. Auflage 2006, § 56 Randziffer 20, Stichwort „Krankheit”, mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen; Tipke/Kruse, AO und FGO, § 110 AO Randziffer 35, mit Rechtsprechungsnachweisen).

Die Klägerin war durch die vorzeitige Geburt nicht daran gehindert, gegen die Einspruchsentscheidung innerhalb der gesetzlichen Frist von vier Wochen Klage zu erheben. Denn sie war nicht durch eine plötzlich und unvorhersehbar aufgetretene schwerwiegende Erkrankung an der Fristwahrung gehindert. Bei normalem Verlauf ist die Geburt eines Kindes zwar keine Krankheit. Gleichwohl ist die werdende Mutter durch die Dauer der Geburt (vgl. hierzu Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261. Auflage 2007, Stichwort: Geburtsdauer) kurzfristig an der Wahrnehmung ihrer Pflichten gehindert. Anders verhält es sich nur dann, wenn es sich um eine Geburt mit Komplikationen bzw. durch diese verursachte schwere psychische Störungen der Mutter handelt. Das Vorliegen solcher Umstände hat die Klägerin auch bei ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung nicht dargetan. Bei einer normalen Geburt ist es der Entbundenen regelmäßig nach einem Tag möglich, Klage zu erheben oder jedenfalls eine Person hiermit zu beauftragen. Da die Klägerin am 8. August 2009 entbunden wurde, hätte sie ausreichend Zeit gehabt, dafür Sorge zu tragen, dass die Klage bis zum Ablauf des 13. August 2009 beim Finanzgericht eingereicht wird. Ob der Klägerin für die Woche nach der Geburt Bettruhe verordnet worden war, ist folglich unerheblich. Im Übrigen ist das Vorbringen der Klägerin widersprüchlich. Denn ausweislich des Datums auf der Klage ist diese am 11. August 2009, also bereits drei Tage nach der Geburt ihres Kindes, von der Klägerin gefertigt worden.

Die Klägerin hat ihren Wiedereinsetzungsantrag nicht darauf gestützt, das verspätet eingegangene Schriftstück sei fristgerecht abgesandt worden. Hierzu wären genaue Angaben dazu erforderlich, wann, in welcher Weise und von welcher Person das Schreiben zur Post gegeben wurde (Beschluss des BFH vom 9. Februar 2005 X R 11/04, BFH/NV 2005, 1115, mit weiteren Nachweisen). Derartige Angaben hätte die Klägerin innerhalb der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO machen müssen. Zudem hätten diese Angaben durch geeignete Beweismittel glaubhaft gemacht werden müssen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO).

Die Versäumung der Klagefrist führte zur Bestandskraft des angefochtenen Kindergeldbescheids. Demzufolge kann dieser Bescheid vom Gericht nicht mehr sachlich-rechtlich nachgeprüft werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

RechtsgebieteFGO, AOVorschriftenFGO § 56 FGO § 47 Abs. 1 AO § 122 Abs. 2 AO § 366

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