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09.10.2008 · IWW-Abrufnummer 083048

Finanzgericht Hamburg: Urteil vom 30.05.2008 – 3 K 124/06

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Finanzgericht Hamburg

3 K 124/06

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Voraussetzungen für den Erlass von Einkommensteuer für die Jahre 1996 bis 1998 aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 09.03.2004 (2 BVL 17/02, BVerfGE 110, 94 bis 141; BGBl. I2004, 591, BStBl II 2005, 96) festgestellten und auf Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren beschränkten Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1996 bis 1998 geltenden Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16.04.1957 (BGBl. I Seite 821) erfüllt sind.

I.

Der Kläger erzielte in den Streitjahren (1996 bis 1998) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalvermögen und bezog ... Berufsunfähigkeitsrenten. Des Weiteren erklärte der Kläger folgende Spekulationsgewinne aus der Veräußerung von Wertpapieren in seinen Einkommensteuererklärungen:

1996|DM|...,
1997|DM|...,
1998|DM|....

Diese Einkünfte wurden den Steuerfestsetzungen der Streitjahre zugrunde gelegt. Die Einkommensteuer für 1996 und 1997 wurde zuletzt mit Bescheiden jeweils vom 26.03.1999, festgesetzt (Einkommensteuerakte - ESt-A Band V für 1996 Blatt 13/14 ff und für 1997 Blatt 63 ff.).

Die Einkommensteuer für 1998 wurde mit Bescheid vom 26.03.1999 (ESt-A Band V Blatt 89 ff.) festgesetzt. Ein Änderungsbescheid erging am 09.04.1999 (ESt-A Band V Blatt 85 ff). Die Einkommensteuerbescheide für 1996 bis 1998 wurden bestandskräftig.

II.

1. Mit Urteil vom 09.03.2004 (a.a.O.) stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16.04.1997 (BGBl. I Seite 821) mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG - wegen des Vollzugsdefizits unvereinbar und nichtig sei soweit Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betroffen seien, da ein gleichheitsgerechter Vollzug der gesetzlichen Regelung nicht gewährleistet sei.

2. Mit Schreiben vom 31.12.2004, beim Beklagten eingegangen am 03.01.2005, beantragte der Kläger wegen des o. g. Urteils des Bundesverfassungsgerichts die auf die 1996, 1997 und 1998 auf die Wertpapierveräußerungsgeschäfte entfallende Steuer gemäß § 227 Abgabenordnung (AO) aus Billigkeitsgründen und zur Wiederherstellung von Steuergerechtigkeit zu erlassen, oder die Bescheide gemäß § 163 AO zu ändern. Er führt hierzu aus, wenn das Bundesverfassungsgericht gemäß § 79 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) bestandskräftige Bescheide, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Rechtsnorm beruhen, unberührt lasse, so könne das nur für bestandskräftige Bescheide gelten, die nach der Anhängigkeit des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ergangen seien und somit hätten offen gehalten werden können.

3. Mit Bescheid vom 20.01.2005 lehnte der Beklagte sowohl den Erlassantrag als auch den Änderungsantrag (§ 163 AO) mit der Begründung ab, der gesetzliche Ausschluss der Änderungsmöglichkeit verbiete die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit im Sinne der § 163, 227 AO.

4. Mit Schreiben vom 21.02.2005 legte der Beklagte dagegen Einspruch ein (Blatt 4 Rb-Akte) und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass die streitgegenständlichen Bescheide bereits lange vor der Anhängigkeit des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht rechtskräftig gewesen seien und die Zulässigkeit des Einspruchs gar nicht gegeben gewesen sei, so dass dem Kläger die Nichteinlegung des Einspruchs nicht angelastet werden könne. Da hier keine schuldhafte Versäumnis eines Rechtsbehelfs vorliege, handele es sich um einen atypischen Einzelfall, bei dem durch einen Billigkeitserlass eine gerechte Entscheidung zu treffen sei.

5. Mit Einspruchsentscheidung vom 07.06.2006 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass persönliche Billigkeitsgründe mangels Erlassbedürftigkeit nicht vorliegen. Im Übrigen habe der Gesetzgeber mit der Regelung in § 79 Abs. 2 BVerfGG dem Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang eingeräumt vor der Forderung nach Gerechtigkeit im Einzelfall. Die nachträglich festgestellte Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm, auf der ein Steuerbescheid beruhe, dürfe somit nicht zur Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheides führen und begründe keine sachliche Unbilligkeit.

6. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 07.07.2006, beim Finanzgericht eingegangen am gleichen Tage, Klage, mit dem Ziel des Teilerlasses der auf die Spekulationsgewinne entfallenden Einkommensteuer. Er führt aus, § 79 Abs. 2 BVerfGG benachteilige den ehrlichen und pünktlichen Steuerzahler und begünstige Steuerhinterzieher und Vollstreckungsschuldner. Die Vorschrift verstoße deshalb gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass niemandem aus einem rechtswidrigen Verhalten Rechtsvorteile erwachsen dürfen. Die Vorschrift stehe daher mit Artikel 3 GG in Widerspruch und sei somit verfassungswidrig. Der Gedanke der Rechtssicherheit, der in § 79 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck komme, dürfe nicht dazu führen, dass der ehrliche und pünktliche Steuerzahler zu der Überzeugung gelange, dass Rechtsbrecher vom Gesetzgeber bevorzugt würden. Dies führe zur Staatsverdrossenheit und leiste der Steuerhinterziehung Vorschub.

Die erhebliche Zunahme verfassungswidriger Gesetze, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts gebiete eine verfassungsrechtliche Neubewertung des § 79 Abs. 2 BVerfGG. Es könne nicht sein, dass der Steuergesetzgeber leichtfertig verfassungswidrige Gesetze, wie neuerdings die sogenannte Reichensteuer, auf den Weg bringe, in der Erwartung, dass der Anfechtung nach § 79 Abs. 2 BVerfGG enge Grenzen gesetzt seien. Wenn ein verfassungswidriges Gesetz für den Staat richtig teuer werde, könne davon ausgegangen werden, dass Steuergesetze mit viel größerer Sorgfalt konzipiert und nicht mehr im "Hauruck-Verfahren" nächtens durch den Vermittlungsausschuss gebracht würden.

Die strukturellen Erhebungsdefizite des § 23 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b EStG 1997 seien zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der angegriffenen Steuerbescheide an den Kläger noch nicht allgemein bekannt gewesen. Die im Urteil des 5. Senats des Finanzgericht Hamburg vom 18.01.2007 (StEd 2007, 340) genannten Publikationsmittel, die die Verfassungswidrigkeit der Regelung thematisiert hätten, nämlich "der Steuerberater" (1994, 399 u. 446, 449 ff.) und "die Wirtschaftswoche" (1999 Nr. 6 Seite 104 u. Seite 114) gehörten nach der Rechtsprechung zur Steuerberaterhaftung aber nicht zu denen, die der Steuerberater lesen müsse. Sie zählten weder zur aktuellen Tagespresse noch müssten diese Publikationen Steuerpflichtige oder Steuerberater lesen oder kennen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 20.01.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 07.06.2006 zu verpflichten, die Einkommensteuer des Klägers für die Jahre 1996 bis 1998 aus Gründen der sachlichen Unbilligkeit insoweit zu erlassen, als Einkünfte aus Spekulationsgeschäften in 1996 in Höhe von DM ..., in 1997 in Höhe von DM ... und in 1998 in Höhe von DM ..., berücksichtigt worden sind.

hilfsweise,

§ 79 Abs. 2 BVerfGG im konkreten Fall verfassungskonform nicht anzuwenden, weil seine Anwendung hier gegen Art. 3 Grundgesetz verstoße.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die Klage für unbegründet und verweist im Übrigen auf eine Entscheidung des Finanzgerichts München vom 20.06.2005 (Az. 1 K 4683/04 - [...] -) und den die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisenden Beschluss des BFH vom 29.11.2005 (Az. IX B 161/05, BFH/NV 2006, 897).

Die Einkommensteuerakten Band V und VI sowie die Rechtsbehelfsakten zur Steuernummer ... bzw. ... haben vorgelegen. Die Berichterstatterin hat die Rechtssache mit den Beteiligten am 12.07.2007 erörtert (vgl. Protokoll vom 12.07.2007, Gerichtsakte - GA - Blatt 43 bis 45).

Entscheidungsgründe:

I.

Die Klage ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

Die Entscheidung erfolgt ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin, nachdem die Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2, § 79 a Absätze 3 u. 4 FGO ihr Einverständnis hierzu erklärt haben (vgl. Protokoll des Erörterungstermins vom 12.07.2007 Seite 3, Gerichtsakte Blatt 45).

Die Nichtigerklärung der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 durch das BVerfG mit Beschluss vom 09.03.2004 (a.a.O.) rechtfertigt nicht in Fällen bestandskräftiger Verwaltungsakte die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO. Im Streitfall beruht die Festsetzung der Einkommensteuer 1997 und 1998 in den bestandskräftigen Bescheiden hinsichtlich der von dem Kläger erklärten Spekulationsgewinne aus Wertpapiergeschäften auf den für nichtig erklärten § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997; sie ist einer Billigkeitsregelung aufgrund des § 79 Abs. 2 des BVerfGG nicht mehr zugänglich.

Der Beklagte hat die beantragte Billigkeitsmaßnahmen im Sinne von § 227 AO bzw. Änderung der Einkommensteuerbescheide für 1996 bis 1998 gem. § 163 AO zu Recht abgelehnt. Hierbei handelt es sich um Ermessungsentscheidungen, die nur einer bedingten gerichtlichen Überprüfung dahin zugeführt werden können, ob die gesetzlichen Ermessensgrenzen überschritten wurden oder von dem Ermessen in einer dem Zwecke der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 102 FGO). Ein derartiger Ermessensfehlgebrauch lässt sich im Fall des Klägers nicht feststellen.

1. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gem. § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Danach kann keine Rückabwicklung der auf einem für nichtig erklärten Gesetz beruhenden Normvollzugsakte erfolgen.

Dieses in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG enthaltene Rückabwicklungsverbot ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenngleich es auch zu einer Besserstellung jener Steuerpflichtigen führt, die entweder rechtzeitig einen Rechtsbehelf gegen die auf § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 beruhende Einkommensteuerfestsetzung für 1997 oder 1998 eingelegt, oder aber ihre Einkünfte aus Spekulationsgeschäften erst gar nicht erklärt haben. Denn der Gesetzgeber hat sich in verfassungskonformer Weise zwischen den im Rechtsstaatprinzip gegründeten Verfassungsgrundsätzen der Bestandskraft von Verwaltungsakten einerseits und der Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits zu Gunsten der Rechtssicherheit entschieden (BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1957, 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195, BStBl. I 1958, 52; vom 14.03.1963, 1 BvL 28/62, BVerfGE 15, 313). Das Prinzip der Rechtssicherheit steht der Einzelfallgerechtigkeit gleichrangig gegenüber, so dass der Gesetzgeber in seiner Entscheidung frei war, welchem Grundsatz er den Vorzug geben wollte. Die dabei eintretende Ungleichbehandlung zum Nachteil, möglicherweise aber auch zum Vorteil der Betroffenen, die die betreffenden Steuerbescheide rechtskräftig werden ließen, bzw. bei denen die Einkünfte nicht in den Einkommensteuerbescheiden berücksichtigt werden konnten, weil sie verschwiegen worden waren, gegenüber jenen, die mit Rechtsmittel gegen die Steuerbescheide vorgingen, hat der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen. Die Ungleichbehandlung von noch offenen und bereits bestandskräftig entschiedenen Fällen verletzt auch nicht den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Vielmehr ist die Ungleichbehandlung durch das Bedürfnis nach Rechtssicherheit gerechtfertigt (BFH, Urteil vom 11.02.1994, III R 50/92, BFHE 1973, 383, BStBl. II 1994, 398; BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1957, 1 BvR 678/57 a.a.O.; vom 14.03.1963, 1 BvL 28/62 a.a.O.; vom 16.01.1980, 1 BvR 127/78, 1 BvR 679/78, BVerfGE 53, 115, 131; FG-Hamburg, Urteil vom 18.01.2007, 5 K 43/05, StE 2007, 340).

2. Eine Ausnahme von dem Rückabwicklungsverbot des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG aus sachlichen Billigkeitsgründen im Sinne des § 227 AO kommt im Fall des Klägers nicht in Frage.

a. Die Vorschrift des § 227 AO, nach der Steuern zu erlassen bzw. zu erstatten sind, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, erlaubt eine Abweichung von der aus der Anwendung der Steuergesetze auf einen konkreten Sachverhalt resultierenden Rechtsfolge. Eine solche Billigkeitsmaßnahme ist gerechtfertigt, wenn der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Besteuerung aber im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist, mithin den Wertungen des Gesetzgebers zuwider läuft.

Eine Billigkeitsmaßnahme ist hingegen ausgeschlossen, wenn sie die einer gesetzlichen Regelung innewohnenden Wertungen des Gesetzesgebers generell durchbricht oder korrigiert (BVerfG, Beschluss vom 05.04.1978, 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102, BStBl. II 1978, 441; BFH Urteile vom 17.09.1987, III R 225/83, BFHE 151, 373, BStBl. II 1988, 324; vom 09.09.1994, III R 17/93, BFHE 175, 395, BStBl. II 1995, 8, 10). Dies gilt selbst unter den Voraussetzungen, dass die gesetzliche Regelung Härten enthält, die der Gesetzgeber bei Ausgestaltung der Norm bewusst in Kauf genommen hat.

b. Im Streitfall liegt ein atypischer und den Wertungen des Gesetzgebers zuwider laufender Sachverhalt nicht vor.

Ein atypischer Fall setzt voraus, dass die Einbeziehung oder Vollstreckung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall den Geboten der Gleichheit und des Vertrauensschutzes, den Grundsätzen von Treu und Glauben, dem Erfordernis der Zumutbarkeit und dem der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Zweck widerspricht (BFH, Urteil vom 26.10.1994, X R 104/92, BFHE 1976, 3, BStBl. II 1995, 297). Dem steht die Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung zwar grundsätzlich nicht entgegen (BVerfG Beschluss vom 05.04.1978, 1 BvR 117/73 a.a.O.; BFH, Urteil vom 08.10.1980, II R 8/76, BFHE 131, 446, BStBl. II 181, 82). Jedoch muss sich der Steuerpflichtige grundsätzlich daran festhalten lassen, Einwendungen gegen den festgesetzten Anspruch nicht rechtzeitig vorgebracht zu haben, denn Billigkeitsmaßnahmen sind nicht dazu bestimmt, die Folgen schuldhafter Versäumnisse eines Rechtsbehelfs auszugleichen. Ein Billigkeitserlass kommt nach ständiger Rechtsprechung nur in Betracht, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zuzumuten war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (BFH-Urteile vom 11.08.1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl. II 1988, 512; vom 13.01.2005, V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl. II 2005, 460, 461).

aa. Die erste Voraussetzung liegt für die Einkommensteuerfestsetzung für 1996 schon nicht vor, weil die Nichtigerklärung der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG durch das BVerFG (a.a.O.) sich nicht auf den Veranlagungszeitraum 1996 erstreckt, sondern das BVerFG das strukturelle Erhebungsdefizit nur für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 festgestellt hat.

bb. Für die Einkommensteuerfestsetzungen für 1997 und 1998 ist zweifelhaft, ob diese offensichtlich und eindeutig unrichtig sind, denn im Zeitpunkt des Erlasses der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide für 1997 am 26.03.1999 und für 1998 am 26.03.1999 mit Änderungsbescheid vom 09.04.1999 entsprachen sie der geltenden Rechtslage; die Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 stand noch nicht fest.

Eine Entscheidung dieser Frage kann indes dahinstehen, da es entgegen der Auffassung des Klägers an der Erfüllung der zweiten Voraussetzung fehlt.

cc. Dem Kläger war es auch möglich und zumutbar sich rechtzeitig - vor Eintritt der Bestandskraft - gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerbescheide für die Jahre 1996 und 1997 zu wehren. Sinn und Zweck des § 227 AO verbieten es, die Bestandskraft einer Steuerfestsetzung zu durchbrechen, sofern nicht ausnahmsweise ganz besondere Gründe dafür vorliegen. Dies entspricht der mit § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG korrespondierenden Zielsetzung, wonach eine generelle Rückabwicklung ausgeschlossen, jedoch keine darüber hinaus gehende erhöhte Bestandskraft gesichert werden soll (Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG Stand März 2006 § 79 Rn. 44 ff., 54). Wenn der Gesetzgeber im Fall der Unanfechtbarkeit eines Steuerbescheides den Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall einräumt, ist diese Grundsatzentscheidung auch bei der Anwendung des § 227 AO zu berücksichtigen. Die Nichtigerklärung durch das BVerfG rechtfertigt nur dann Billigkeitsmaßnahmen, wenn Gründe vorgetragen werden, die es insbesondere unter Berücksichtigung, dass es grundsätzlich Sache des Steuerpflichtigen ist, seine Rechte und Interessen durch fristgerechte Einlegung von Rechtsbehelfen selbst zu wahren, verständlich machen und rechtfertigen, dass von den Rechtsbehelfen kein Gebrauch gemacht worden ist (BFH, Urteil vom 11.08.1987, VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl. II 1988, 512).

Im Streitfall hatte der Kläger keinen Anlass auf die Einlegung von Einsprüchen etwa aus Gründen zu verzichten, die sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergeben. Unterlässt der Steuerpflichtige die Rechtsmitteleinlegung, so kann die eingetretene Rechtsfolge im Billigkeitswege nur korrigiert werden, wenn besondere Umstände, die im konkreten Verhältnis zur Behörde ihre Grundlage haben, dies rechtfertigen. Ein Ausnahmefall ist nicht etwa darin zu sehen, dass Rechtsauffassungen und Gesetzesinterpretationen der Verwaltung, auch wenn sie durch die Rechtsprechung oder Kommentierung abgesichert sind, durch die Gerichte korrigiert werden und angesichts der vorherrschenden Auffassung auf ein Rechtsmittel verzichten worden ist. Der Steuerpflichtige hat selbst die Chance einer Korrektur durch Einlegung eines Rechtsmittels unter Übernahme des Kostenrisikos. Unterlässt er es, so ist es grundsätzlich nicht unbillig, wenn ihn dann die gesetzlichen Rechtsfolgen der Unanfechtbarkeit treffen (BFH, Urteil vom 31.03.1981, VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl. II 1981, 507).

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 09.03.2004 nicht die Auffassung vertreten, dass eine Besteuerung der Spekulationsgewinne generell verfassungswidrig sei; es hat vielmehr auf das Vollzugsdefizit bei der Erhebung der Steuer für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 zur Begründung der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 abgestellt. Grundlage hierfür waren u.a. die in den Jahren 2002 und 2003 veröffentlichten Berichte des Bundesrechnungshofs und des Niedersächsischen Landesrechnungshofs.

Ein Erhebungsdefizit war aber bereits vorher bekannt. Schon 1994 hatte das Landesfinanzministerium Nordrhein-Westfalen zur Überprüfung der Möglichkeiten zur vollständigen Ausschöpfung von Steuerquellen eine Arbeitsgruppe "Steuerausfälle" eingesetzt, die in ihrem Abschlussbericht (veröffentlicht in: Der Steuerberater 1994, 399 und 446, 449 ff.) bemerkt hatte, dass Spekulationsgewinne weitestgehend nicht erklärt würden. Auch in der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf des Steuerentlastungsgesetzes 1999, 2000, 2002 (BT-Drs. 14/23) am 19.01.1999 war die Besteuerungsrealität bei Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften von den Sachverständigen kritisch gewürdigt worden. Schließlich war in der Zeitschrift "die Wirtschaftswoche" Nr. 6 vom 04.02.1999 (Seite 104 und 114), d.h. vor Erlass der hier in Rede stehenden Steuerbescheide auf ein Erklärungsdefizit hingewiesen worden. Insofern waren zumindest deutliche Hinweise vorhanden, die den Kläger zur Erhebung eines Einspruchs hätten veranlassen können.

3. Schließlich lässt sich eine Billigkeitsmaßnahme auch nicht aus § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG herleiten. Danach dürfen Entscheidungen die auf einer nichtigen Norm beruhen nicht vollstreckt werden. § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG "friert" die Abwicklung auf dem Stand ein, den sie zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG erreicht hat (Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 1991, § 20 Rn. 78; Schaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 5. Auflage 2001, Rn. 379 ff.). Lediglich für den Fall, dass der Rechtsdurchsetzungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, tritt das Anliegen des Schutzes der Rechtsbeständigkeit zurück. Nur in diesem Fall gibt das Gesetz der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang. Dies begründet aber keine Rechtfertigung, die auf der nichtigen Norm beruhende Steuerfestsetzung im Wege der Billigkeit zu mindern oder die festgesetzten oder gezahlten Steuern zu erlassen bzw. zu erstatten. Ist die Erhebung bzw. Vollstreckung beendet - im Streitfall hatte der Kläger das Leistungsgebot entsprechend den Einkommensteuerbescheiden 1996 bis 1998 erfüllt -, berechtigt die Nichtigerklärung nicht zu einer Rückabwicklung. Es bleibt dann bei der Fortbestandsgarantie des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG (Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG Stand März 2006 § 79 Rn. 57 ff.).

4. Soweit der Kläger die Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfG selbst für verfassungswidrig hält, folgt das Gericht dieser Ansicht nicht.

Die Ungleichbehandlung von noch offenen und bereits bestandskräftigen entschiedenen Fällen verstößt nicht gegen das Grundgesetz, insbesondere nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG in einer Reihe von Entscheidungen bestätigt (Entscheidungen des BVerfG vom 12.12.1957 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195 ff.; vom 07.07.1960 2 BvR 435, 440/60, BVerGE 11, 263, 265; vom 03.11.1965 1 BvR 62/61, BVerfGE 19, 150, 166 und vom 16.01.1980 1 BvR 127, 679, 78, BVerfGE 53, 115, 130). Zwar befriedigt die Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen durch Regelungen wie in § 54 EStG nicht das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall steht aber im Widerspruch zu der rechtsstaatlichen Forderung nach Rechtssicherheit, wozu auch die Rechtsbeständigkeit bestandskräftiger Entscheidungen gehört. Wenn der Gesetzgeber in diesem Widerstreit in § 79 Abs. 2 BVerfGG ähnlich wie z.B. bei den Verjährungsvorschriften der Rechtssicherheit den Vorzug gegeben hat, so ist dies nicht zu beanstanden (vgl. BFH, Urteil vom 11.02.1994 III R 50/92, BFHE 173, 383, BStBl. II 1994, 389).

Zwar ist die Regelung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfG kein ius cogens in dem Sinne, dass jede andere gesetzliche Regelung unzulässig wäre; vielmehr ist sie nur der vertretbare, aber nicht verfassungsrechtlich zwingende Schritt des Gesetzgebers, dem Konflikt zwischen den Verfassungsprinzipien der Gerechtigkeit einerseits und des Rechtsfriedens andererseits zu lösen. Es ist dem Gesetzgeber unbenommen, im Zusammenhang mit der Folgenbewältigung von konkreten Normenverwerfungen eine andere Regelung zu treffen (vgl. BVerfGE 81, 363 [384]; 94, 241 [266 ff.]; 99, 165 [184 ff.]; 101, 1 [45 ff.]; Steiner in: Festschrift für Walter Leisner 1999, Seite 578; Löwer HStR II 2. Auflage 1998, § 56 Rn. 102; Battis HStR VII 1992, § 165 Rn. 65, Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG § 79 Rn. 55). Auch eine Entscheidung des Gesetzgebers, dem Konflikt zwischen dem Prinzip der Gerechtigkeit und des Rechtsfriedens zu Gunsten des ersteren zu lösen, wie es der Kläger wünscht, würde ebenso nur eine verfassungsrechtlich vertretbare Regelungsmöglichkeit darstellen, die genauso wenig zwingend wäre, wie die vom Gesetzgeber derzeit getroffene Wahl.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 25.09.1992, 2 BvL 5/91, 8/91, 14/91 (BVerfGE 87, 153, BStBl. II 1993, 413). Dort hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass bei einer rückwirkenden Neuregelung von allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Tatbeständen eine Unterscheidung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren "schwerlich sachgerecht" sei. Diese Ausführungen beziehen sich aber auf eine rückwirkende Neuregelung, zu der der Gesetzgeber nicht gezwungen ist, sondern die er freiwillig trifft, obwohl das Bundesverfassungsgericht nur eine Neuregelung für die Zukunft für erforderlich gehalten hat. In einem solchen Fall mag es nicht gerechtfertigt sein, dass der Gesetzgeber die rückwirkende Neuregelung auf noch nicht bestandskräftig entschiedene Fälle beschränkt, wenn er sich überhaupt zu einer Neuregelung entschließt (so auch BFH, Urteil vom 11.02.1994 III R 50/92 BFHE 173, 383, BStBl. II 1994, 389). Ein derartiger Fall liegt hier jedoch nicht vor, weil der Gesetzgeber für die Besteuerung von Gewinnen aus Spekulationsgeschäften in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG nur eine Regelung für die Zukunft getroffen hat mit Wirkung ab 01.01.1999 (Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24.03.1999 BGBl. I, 402).

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

III.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür gem. § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.

RechtsgebieteEStG, AO, BVerfGG, GGVorschriftenEStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b AO § 163 AO § 227 BVerfGG § 79 Abs. 2 GG Art. 3 Abs. 1

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