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29.01.2008 · IWW-Abrufnummer 080283

Bundesgerichtshof: Urteil vom 20.11.2007 – VI ZR 8/07

Die besonderen Pflichten des § 10 Satz 1 StVO gelten für den Fahrer, der einen verkehrsberuhigten Bereich verlässt, auch dann, wenn das Zeichen 326 (Ende) nicht unmittelbar im Bereich der Einmündung oder Kreuzung, sondern einige Meter davor aufgestellt ist. Entscheidend ist, ob das Einfahren in eine andere Straße bei objektiver Betrachtung noch als Verlassen des verkehrsberuhigten Bereichs im Sinne des § 10 StVO erscheint. Dies ist in der Regel zu bejahen, wenn das Zeichen 326 nicht mehr als 30 m vor der Einmündung oder Kreuzung aufgestellt ist und keine konkreten Anhaltspunkte eine abweichende Beurteilung rechtfertigen.


BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

VI ZR 8/07

Verkündet am:
20. November 2007

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 12. Dezember 2006 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Im Januar 2006 befuhr der Kläger mit seinem Pkw eine durch Verkehrszeichen 325/326 geregelte verkehrsberuhigte Zone, wobei in seiner Fahrtrichtung das Verkehrsschild 326 (Ende) in einer Entfernung von etwa 10 Metern vom Einmündungsbereich der Straße in eine Querstraße stand. Auf dieser näherte sich von links der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherte Pkw der Beklagten zu 1. Im Einmündungsbereich kam es zum Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge, wobei der Pkw des Klägers beschädigt wurde. Der Kläger verlangt von den Beklagten vollen Ersatz seines Sachschadens.

Die Parteien streiten darum, ob die Beklagte zu 1 das Vorfahrtsrecht des von rechts kommenden Klägers verletzt hat, weil die verkehrsberuhigte Zone bereits 10 Meter vor der Einmündung endete, oder ob der Kläger unter Verletzung des Vorfahrtsrechts der Beklagten zu 1 aus der noch bis zum Einmündungsbereich fortbestehenden verkehrsberuhigten Zone ausgefahren ist.

Das Amtsgericht ist der letztgenannten Ansicht gefolgt und hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht der Klage unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils des Klägers von 25 % teilweise stattgegeben. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts verstieß die Beklagte zu 1 gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO, da sie die Vorfahrt des Klägers nicht beachtete. Die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, wann der nach dem Ausfahren aus einer durch Verkehrszeichen 326 (verkehrsberuhigte Zone) geregelte Bereich ende, sei dahin zu beantworten, dass ab dem konkreten Standpunkt des Verkehrsschildes Zeichen 326 die allgemeinen Verkehrsregeln gälten.

Bei der Abwägung seien demnach auf Seiten der Beklagten zu 1 der Verstoß gegen § 8 StVO sowie die Betriebsgefahr des Pkw zu berücksichtigen. Der Unfall sei indes für den Kläger nicht unabwendbar gewesen. Vielmehr habe sich dieser nicht hinreichend aufmerksam nach links orientiert und infolgedessen das von dort herannahende, gut sichtbare Fahrzeug der Beklagten zu 1 übersehen. Insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger eine verkehrsberuhigte Zone verlassen habe und der Regelungsbereich des § 10 StVO für ihn unklar gewesen sei, hätte der Kläger sich seines Vorfahrtsrechts vergewissern müssen. Das Fehlverhalten der Beklagten zu 1 wiege jedoch unter Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge und unter Berücksichtigung der gleich hohen Betriebsgefahr der unfallbeteiligten Fahrzeuge schwerer, so dass ein Haftungsanteil in Höhe von 75 % zu Lasten der Beklagten und in Höhe von 25 % zu Lasten des Klägers angemessen sei.

II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

1. § 42 Abs. 4a StVO normiert für verkehrsberuhigte Bereiche, die durch Zeichen 325 (Beginn) und 326 (Ende) gekennzeichnet werden, bestimmte Rechte und Pflichten der Fußgänger und der Kraftfahrer. Darüber hinaus hat nach § 10 Satz 1 StVO derjenige, der aus einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325/326) auf die Straße einfahren will, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Problematisch ist, dass für Kraftfahrer in Einmündungs- oder Kreuzungsbereichen je nach den Umständen nicht ausreichend klar erkennbar sein kann, ob die Verhaltensanforderung des § 10 Satz 1 StVO gilt oder die des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO, wonach an Kreuzungen und Einmündungen die Vorfahrt hat, wer von rechts kommt. Die Verwaltungsvorschrift zu § 42 Abs. 4a StVO bestimmt, das Zeichen 326 sei höchstens 30 m vor der nächsten Einmündung oder Kreuzung aufzustellen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass ein Kraftfahrer, der einen verkehrsberuhigten Bereich verlässt, dessen Verlassen im Einzelfall aufgrund der spezifischen Gestaltung des konkreten Straßenbereichs nicht mehr als Ausfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich erkennt.

2. a) Deshalb könnte für die Ansicht des Berufungsgerichts, ab dem konkreten Standpunkt des Verkehrsschildes gälten die allgemeinen Verkehrsregeln, der Gesichtspunkt einer klaren Regelung sprechen. Unter diesem Aspekt wird die Auffassung des Berufungsgerichts auch von Teilen der Rechtsprechung und Literatur vertreten (vgl. OLG Hamm, StVE Nr. 22 zu § 10 StVO - Zeichen 326 ca. 30 m vor der Einmündung; LG Koblenz, NJWE-VHR 1998, 260; AG Sömmerda, DAR 1999, 78 f. - Zeichen 326 ca. 24 m vor der Einmündung; Janiszewski, NStZ 1997, 267, 270; vgl. auch OLG Celle, OLGR 2004, 607). Andere - wie auch das Amtsgericht im vorliegenden Rechtsstreit - teilen diese Betrachtungsweise indes nicht (vgl. LG Gießen, NZV 1996, 456 - Abstand des Schildes 17,1 m; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 10 StVO Rn. 6a).

b) Auch der erkennende Senat hält die erstgenannte Ansicht nicht für richtig. Bezogen auf die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO hat das Zeichen 326 eine die Vorfahrt regelnde Bedeutung. Die sich aus dieser Regelung ergebenden Verpflichtungen enden nicht generell auf der Höhe des Verkehrsschildes. Sie enden vielmehr in der Regel erst dann, wenn sich das Gebot aktualisiert, beim Einfahren aus einem verkehrsberuhigten Bereich in eine andere Straße eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Dies ist regelmäßig an der nächsten Einmündung oder Kreuzung nach Ende des verkehrsberuhigten Bereichs der Fall.

Die abweichende Ansicht berücksichtigt nicht ausreichend, dass im vorliegenden Zusammenhang nicht der Begrenzung des verkehrsberuhigten Bereichs, sondern der vorfahrtregelnden Wirkung des Zeichens 326 entscheidende Bedeutung zukommt. Diese Wirkung kann nicht davon abhängen, ob das Zeichen unmittelbar im Einmündungs- bzw. Kreuzungsbereich steht oder einige Meter davor. Dass es unmittelbar im Einmündungs- oder Kreuzungsbereich aufgestellt ist, wird eher selten sein. Häufig wird es sich einige Meter vor der Kreuzung oder Einmündung befinden. Es erschiene aber verfehlt, in diesen Fällen von der Geltung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auszugehen, insbesondere wenn der Querverkehr aufgrund der für ihn sichtbaren Beschilderung oder der Gestaltung des Straßenverlaufs oder der Straßenflächen annehmen darf, der Fahrer des einfahrenden Fahrzeugs habe die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO zu beachten.

c) Freilich gelten die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO nicht stets bis zur nächsten Kreuzung oder Einmündung.

aa) Ist das Zeichen 326 mehr als 30 m vor der nächsten Einmündung oder Kreuzung aufgestellt, enden die Verpflichtungen aus § 10 StVO in der Regel am Aufstellungsort des Zeichens. Dies kann der Fall sein, wenn der verkehrsberuhigte Bereich nur für einen bestimmten Straßenabschnitt angeordnet ist oder sich die nächste Kreuzung oder Einmündung aus anderen Gründen mehr als 30 m hinter dem Aufstellungsort des Zeichens 326 befindet. Eine Fallgestaltung, bei der sich das aus § 10 StVO folgende Gebot aktualisieren kann, liegt dann nicht vor. Die in der Verwaltungsvorschrift zu § 42 Abs. 4a StVO angegebene Entfernung von 30 m erscheint dem erkennenden Senat als brauchbarer Anhaltspunkt, um für den Regelfall den örtlichen Bereich der Pflichten zu begrenzen, die sich beim Verlassen eines verkehrsberuhigten Bereichs ergeben. Es stellt für einen durchschnittlichen Kraftfahrer auch keine Überforderung dar, sich über diese Entfernung zu merken, dass er einen verkehrsberuhigten Bereich verlassen hat, und entsprechend vorsichtig zu fahren.

bb) Auch aus den örtlichen Umständen kann sich ergeben, dass die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO im Bereich der nächsten Einmündung oder Kreuzung nicht gelten. Auch wenn das Zeichen 326 im 30-m-Bereich aufgestellt ist, kann sich aus dem Ausbau oder der Gestaltung des nachfolgenden Straßenabschnitts ergeben, dass der Kraftfahrer bereits unmittelbar nach dem Passieren des Schildes wieder in den laufenden Verkehr integriert wird. Dann jedoch ist für eine Anwendung des § 10 StVO kein Raum.

3. In Fällen der vorliegenden Art ist also entscheidend darauf abzustellen, ob das Einfahren in eine andere Straße bei objektiver Betrachtung als Verlassen des verkehrsberuhigten Bereichs im Sinne des § 10 StVO erscheint. Dies ist nach dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale zu bestimmen (vgl. Senatsurteile vom 5. Oktober 1976 - VI ZR 256/75 - VersR 1977, 58 f.; vom 14. Oktober 1986 - VI ZR 139/85 - VersR 1987, 306, 307; vom 23. Juni 1987 - VI ZR 296/86 - NJW-RR 1987, 1237, 1238). Es kommt also nicht nur darauf an, in welcher Entfernung sich das Verkehrsschild vor der Einmündung befindet, sondern auch darauf, ob der Einmündungsbereich trotz der Aufstellung des Schildes einige Meter davor bei objektiver Betrachtung noch als Ausfahrtsbereich der verkehrsberuhigten Zone erscheint. Befindet sich das Zeichen 326 nicht mehr als 30 m vor der nächsten Einmündung oder Kreuzung, wird der Tatrichter in der Regel davon ausgehen können, dass für den Ausfahrenden die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO gelten, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Solche Anhaltspunkte können sich insbesondere aus der Straßenführung oder der baulichen Gestaltung im Bereich der Unfallörtlichkeit ergeben (etwa farblichen oder gestalterischen Abgrenzungen der Fahrbahnflächen). Entsprechende Feststellungen hat der Tatrichter zu treffen.

4. Das Berufungsurteil kann danach, soweit es von einer Vorfahrtsverletzung der Beklagten zu 1 ausgeht, nicht aufrechterhalten werden. Es stellt lediglich darauf ab, das Zeichen 326 habe sich 10 m vor der Einmündung befunden. Dies reicht nach den vorstehenden Ausführungen für die Feststellung einer Vorfahrtsverletzung der Beklagten zu 1 nicht aus, zumal die Revision darauf hin weist, aus der Beiakte ergebe sich, dass eine besondere Straßenpflasterung auf eine Zugehörigkeit des Einfahrtsbereiches zu der verkehrsberuhigten Zone schließen lasse. Der erkennende Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Im Streitfall befand sich das Zeichen 326 zwar erheblich näher als 30 m vor der Einmündung. Das Berufungsgericht hat indes keine Feststellungen getroffen, die eine abschließende Bewertung der Unfallörtlichkeit erlauben. Insoweit sind weitere Feststellungen und eine neue Würdigung der maßgeblichen Umstände erforderlich.

5. Das Berufungsgericht bewertet die von ihm bejahte Vorfahrtsverletzung der Beklagten zu 1 im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG mit 75 %, obwohl es dem Kläger vorwirft, sich nicht hinreichend aufmerksam nach links orientiert und infolgedessen das von dort herannahende, gut sichtbare Fahrzeug der Beklagten zu 1 übersehen zu haben, und obwohl es annimmt, der Kläger habe sich unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er eine verkehrsberuhigte Zone verlassen habe und der Regelungsbereich des § 10 StVO für ihn unklar gewesen sei, seines Vorfahrtsrechts vergewissern müssen. Auch wenn das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der oben dargelegten Rechtsauffassung erneut eine Vorfahrtsverletzung der Beklagten zu 1 bejahen sollte, wird es diese Abwägung zu überprüfen haben. In derartigen Fällen ist im Rahmen der Abwägung nicht stets davon auszugehen, dass der Verursachungsanteil desjenigen, der das Vorfahrtsrecht verletzt hat, denjenigen des Bevorrechtigten überwiegt. Ein Vorfahrtsberechtigter, der davon ausgehen muss, dass sein Vorfahrtsrecht von anderen Verkehrsteilnehmern aufgrund der örtlichen Gegebenheiten möglicherweise nicht erkannt wird, ist zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet; er muss damit rechnen, dass sein Vorfahrtsrecht missachtet wird und muss seine Fahrweise darauf einstellen (vgl. Senatsurteil vom 14. Oktober 1986 - VI ZR 139/85 - VersR 1987, 306, 308; vgl. auch BayObLG, NZV 1989, 121 f.). Derartige Situationen sind angesichts der für die Verkehrsteilnehmer nicht immer eindeutigen Verkehrslage nicht auszuschließen und können deshalb Bedeutung für die haftungsrechtliche Abwägung gewinnen.

III.

Die Revision führt danach zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

RechtsgebietStVOVorschriftenStVO § 42 Abs. 4a (Zeichen 325/326), StVO § 8 Satz 1, StVO § 10

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