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13.06.2008 · IWW-Abrufnummer 081805

Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 24.04.2008 – 2 Ss 164/08

1. Für die ordnungsgemäße Begründung der Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO ist erforderlich, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Begründung der Verfahrensrüge - ggf. unter Zuhilfenahme der Gründe des angefochtenen Urteils - prüfen können muss, ob ein Fall der "notwendigen Verteidigung" vorgelegen hat und deshalb die Anwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung erforderlich war.



2. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Jugendgerichtsverfahren


Beschluss

Strafsache

gegen K.W.

wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 28. Januar 2008 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 24. 04. 2008 durch den Vorsitzenden den Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - hat gegen den Angeklagten wegen (gemeinschaftlicher) gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) einen Dauerarrest von zwei Wochen verhängt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte zunächst Rechtsmittel eingelegt und dann - nach Urteilszustellung am 18. Februar 2008 - mit am 27. Februar 2008 eingegangenem Schriftsatz vom 26. Februar 2008 erklärt, dass das Rechtsmittel als Revision geführt werden soll. Zr Begründung hat der Angeklagte "ausschließlich die Verfahrensrüge erhoben". Mit dieser macht er einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO dadurch geltend, dass der Angeklagte im Hauptverhandlungstermin nicht von einem (notwendigen) Verteidiger verteidigt worden sei. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen.

II.

Das Rechtsmittel ist - entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft - zulässig und hat auch in der Sache vorläufig Erfolg.

1. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist die Verfahrensrüge noch ausreichend im Sinn des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO begründet worden. Nach dieser Vorschrift müssen bei Erhebung der Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht aufgrund dieser Darlegung das Vorhandensein - oder Fehlen - eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (vgl. u.a. für einen vergleichbaren Fall Senat in NStZ-RR 2001, 373 m.w.N.; vgl. auch noch Urteil des hiesigen 3. Strafsenats vom 12. Februar 2008 - 3 Ss 541/07 und auch Urteil des hiesigen 4. Strafsenats vom 15. April 2008 - 4 Ss 128/08). Für die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO bedeutet das, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Begründung der Verfahrensrüge - ggf. unter Zuhilfenahme der Gründe des angefochtenen Urteils (vgl. dazu Senat, a.a.O.; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., 2007, § 344 Rn. 20 m.w.N.) - prüfen können muss, ob ein Fall der "notwendigen Verteidigung" vorgelegen hat und deshalb die Anwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung erforderlich war.

Dem wird die Revisionsbegründung des Angeklagten noch gerecht. Zutreffend ist insoweit allerdings die Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, dass dem Senat zur Prüfung der ordnungsgemäßen Begründung der erhobenen Verfahrensrüge die Gründe des angefochtenen tatrichterlichen Urteils nicht zur Verfügung stehen. Der Blick in diese ist dem Senat verwehrt, da der Angeklagte "ausschließlich die Verfahrensrüge erhoben" hat. Demgemäß kann das Revisionsgericht nicht zur Schließung etwaiger Lücken in der Begründung der Verfahrensrüge auf die Urteilsgründe zurückgreifen (vgl. Senat, a.a.O., ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. u.a. BGH NStZ 1996, 145; 1997, 378; zuletzt Beschluss vom 26. März 2008, 2 StR 61/08). Dies wäre nur bei einer zugleich erhobenen zulässigen Sachrüge möglich.

Der Vortrag zur Begründung der Verfahrensrüge ist jedoch noch ausreichend für den geltend gemachten Verstoß gegen § 388 Nr. 5 StPO. Aus dem insoweit unfangreichen Revisionsvorbringen des Angeklagten ergibt sich, dass dieser 16 Jahre alt ist/war und ihm der Vorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB gemacht wird. Aus dem Revisionsvorbringen folgt weiter, dass die beiden mitangeklagten Mittäter in der Hauptverhandlung anwaltlich vertreten waren. Auch der "Nebenkläger", offenbar der Geschädigte, war anwaltlich vertreten. Der Angeklagte trägt weiter vor, dass er bereits einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten war. Zur Hauptverhandlung waren sechs Tatzeugen geladen, von denen vier in der Hauptverhandlung vernommen worden sind, und zwei Vernehmungsbeamte geladen. Auf die Vernehmung der übrigen Zeugen ist verzichtet worden. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung zunächst nicht zur Sache eingelassen, nach Verzicht auf die Vernehmung der Zeugen dann aber ein Geständnis abgelegt. Aus der Revisionsbegründung ergibt sich außerdem, dass der Angeklagte die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt hatte. Dies hat das Jugendschöffengericht u.a. mit der Begründung abgelehnt: "Der Angeklagte ist zwar laut Anklageschrift einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten, gleichwohl ist nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu rechnen."

Dieses Vorbringen reicht nach Auffassung des Senats - obwohl ihm die Urteilsgründe zur ergänzenden Einsicht nicht zur Verfügung stehen - für eine ordnungsgemäße Begründung des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO aus. Der Angeklagte trägt noch ausreichend die Tatsachen vor, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob ihm ein Pflichtverteidiger hätte bestellt werden müssen (vgl. Senat, a.a.O.).

2. Die Rüge ist auch begründet. Die Revision hat mit der formellen Rüge eines Verstoßes gegen § 338 Nr. 5 StPO vorläufig Erfolg, da dem Angeklagten als Heranwachsenden vom Amtsgericht gemäß §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen.

Nach Auffassung des Senats kann erneut die Frage dahinstehen, ob im Jugendgerichtsverfahren immer oder zumindest dann, wenn Jugendstrafe droht, ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (vgl. OLG Hamm, StraFo 2004, 280; Burhoff, Handbuch für strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 4. Aufl., 2006 An. 1234 m. w. N.; auch offen gelassen von Senat im Beschluss vom 17. September 2007, 2 Ss 380/07, StV 2008, 120 und im Beschluss vom 19. November 2007, 2 Ss 322/07). Insoweit ist allerdings nicht zu verkennen, dass das Jugendschöffengericht in seinem die Bestellung des Pflichtverteidigers ablehnenden Beschluss selbst davon ausgegangen ist, dass "nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu rechnen" ist. Dies versteht der Senat allerdings nicht als einen unmittelbaren Hinweis auf die konkrete Straferwartung, sondern nur als einen Hinweis auf die für das Erwachsenenstrafrecht herrschende Meinung, wonach die Bestellung eines Pflichtverteidigers immer dann erforderlich sein soll, wenn eine Straferwartung von mehr als einem Jahr droht (vgl. u.a. Senat in NStZ-RR 2001, 373; offenbar a.A. Urteil des hiesigen 3. Strafsenats vom 12. 2. 2008, 3 Ss OWi 541/07). Andererseits lässt sich diesem Hinweis aber auch entnehmen, dass das Amtsgericht offenbar eine andere, wesentliche einschneidendere Maßnahme als den dann letztlich verhängten Dauerarrest von zwei Wochen für möglich hielt. Anderenfalls wäre der Hinweis des Tatrichters nicht verständlich.

Es kann jedoch dahinstehen, ob allein dieser Hinweis, der bei einem Jugendlichen zumindest den Eindruck einer drohenden erheblichen Strafe erwecken und ihn deshalb in seiner Verteidigungsfähigkeit einschränken wird, ausreicht, um die Notwendigkeit der Bestellung eins Pflichtverteidigers zu begründen. Jedenfalls hätte dieser vorliegend deshalb bestellt werden müssen, weil der erst 16-jährige Angeklagte nach Auffassung des Senats aufgrund der Gesamtumstände nicht ausreichend fähig war, sich selbst zu verteidigen. Insoweit ist der dem Angeklagten gemachte Vorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung von Bedeutung. Dies ist ein nicht unerheblicher Vorwurf, der häufig - eben wegen der Beteiligung mehrerer Täter - nicht einfach aufzuklären und festzustellen ist. Zu diesem Vorwurf waren insgesamt 8 Zeugen, darunter allein sechs Tatzeugen, geladen. Schon dies spricht für einen umfangreichen Verfahrensstoff (vgl. dazu z.B. auch LG Osnabrück StV 1999, 249 für neun ausländische Zeugen), der für einen 16-jährigen Jugendlichen nicht einfach zu handhaben ist. Besondere Bedeutung hat in dem Zusammenhang, dass den beiden Mitangeklagten des Angeklagten anwaltliche Hilfe ihrer Verteidiger in der Hauptverhandlung zur Verfügung stand und auch der "Nebenkläger" anwaltlich vertreten war, wobei der Senat nicht verkennt, dass die Nebenklage im Jugendrecht nach § 80 Abs. 3 JGG (noch) unzulässig ist. Es kann dahinstehen, ob dann, wenn ein Mitangeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, allen anderen Mitangeklagten immer ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wofür allerdings der Rechtsgedanke des § 140 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 sprechen könnte (vgl. dazu OLG Hamm StV 1999, 11: OLG Zweibrücken StV 2005, 491 m.w.N.; LG Dortmund StraFo 2002, 21; Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn. 31). Jedenfalls gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens, im Jugendrecht einem 16-jährigen Jugendlichen dann wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung einen Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn alle anderen Verfahrensbeteiligten anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Erwachsenenrecht dann, wenn der Verletzte sich eines anwaltlichen Beistandes bedient, OLG Bremen StV 2004, 585 (Ls.), OLG Hamm StraFo 2004, 242; OLG München NJW 2006, 789; Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn. 31). Insoweit ist die Beiordnung Ausfluss des "Prinzips der Waffengleichheit" (OLG Hamm, a.a.O.). Dabei kann vorliegend dann in der Gesamtbetrachtung auch der "Hinweis" des Jugendschöffengericht, dass "nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu rechnen ist" nicht übersehen werden, auch wenn letztlich nur ein Dauerarrest von zwei Wochen verhängt worden ist.

RechtsgebietStPOVorschriftenStPO § 140 StPO § 344

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