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  • 26.08.2010 | Haftung Minderjähriger

    Auch Minderjährige können haften

    von RiLG Dr. Andreas Möller, Bochum

    Es kommt immer wieder vor, dass Minderjährige andere Personen verletzen oder Sachen beschädigen. Fraglich ist dann, ob der Minderjährige für die Schäden haften muss. Dazu ein Fall aus der Praxis:  

     

    Beispiel: Der praktische Fall

    Der 6-jährige Kläger spielt mit dem fast 9-jährigen Beklagten mit Stöcken „Starwars“. In der Spielsituation wirft der Beklagte einen Stock nach dem Kläger und trifft diesen am Auge. Das eingeholte psychologische Gutachten ergibt, dass der Beklagte in der Lage war, die Gefahrensituation zu erkennen. Er konnte aber u.a. wegen seiner ADHS-Erkrankung nicht entsprechend dieser Erkenntnis handeln. Ferner werden Zweifel geäußert, ob Jungen in dem Alter des Beklagten in der konkreten Situation in der Lage waren, entsprechend der Erkenntnis zu handeln.  

     

    Anspruch gem. § 823 Abs. 1 BGB

    In Betracht kommt zunächst ein Anspruch des Geschädigten gegen den Schädiger aus unerlaubter Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB. Problematisch ist in der Regel, ob der Beklagte deliktsfähig ist und schuldhaft gehandelt hat. Der Beklagte trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er i.S. von § 828 Abs. 3 BGB unzurechnungsfähig ist (Staudinger-Oechsler, BGB, Neubearbeitung 09, § 828, Rn. 56 m.w.N.).  

     

    Die Deliktsfähigkeit gem. § 828 Abs. 3 BGB entfällt nur, wenn der Minderjährige nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Nach der BGH-Rechtsprechung besitzt derjenige die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht i.S. von § 828 Abs. 3 BGB, der nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen. Er muss sich zudem der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst sein (z.B. NJW 05, 356). Auf die individuelle Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es insoweit nicht an. Die Frage der Steuerungsfähigkeit ist eine Frage der Fahrlässigkeit (BGH NJW 05, 356; Staudinger-Oechsler, a.a.O., § 828, Rn. 24). Nach Ansicht des BGH spricht gegen diese Auslegung von § 828 Abs. 3 BGB (damals § 828 Abs. 2 BGB) nicht, dass es dadurch zwischen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und zivilrechtlicher Haftung zu Unterschieden kommt (NJW 70, 1038). Die Entscheidung des Gesetzgebers sei zu akzeptieren. Dies gilt umso mehr, nachdem das Schuldrecht und auch § 828 BGB reformiert worden ist.  

     

    In der Praxis bleibt für § 828 Abs. 3 BGB nur ein sehr eingeschränkter Anwendungsbereich, da fast jeder normal entwickelte Siebenjährige über die allgemeine Einsichtsfähigkeit verfügt. § 828 Abs. 3 BGB (bzw. § 828 Abs. 2 BGB a.F.) wurde nur angewendet, wenn die Kinder einzelne Gefahren nicht einsehen konnten (vgl. OLG Hamm VersR 54, 418: Kalkbrei mit unbekannter Ätzwirkung; OLG Neustadt VersR 55, 178: gefundene, mit explosiver Flüssigkeit gefüllte Flasche; OLG Frankfurt VersR 78, 157: Gefährlichkeit von ungelöschtem Kalk).  

     

    Im Regelfall ist damit entscheidend, ob das schädigende Kind auch fahrlässig gehandelt hat. Dafür ist der Kläger darlegungs- und beweisbelastet (BGH NJW 70, 1038; NJW-RR 97, 1110).  

     

    Für den Fahrlässigkeitsmaßstab ist auf einen objektiven Maßstab abzustellen (BGH NJW 63, 1609; 70, 1038; 05, 354; NJW-RR 97, 1110). Es ist bei der Frage der Fahrlässigkeit darauf abzustellen, ob ein Mitglied der Altersgruppe des Schädigers in der konkreten Situation die Möglichkeit eines Schadenseintritts erkennen konnte (sog. Gruppenfahrlässigkeit).  

     

    Der BGH neigt in straßenverkehrsrechtlichen Fällen dazu, einen Fahrlässigkeitsvorwurf nicht daran scheitern zu lassen, ob das Kind im Spieleifer die Sorgfaltspflichten missachtet hat (NJW 05, 354; 70, 1038). Dagegen wird in Fällen ohne Straßenverkehrsbeteiligung häufig wegen der Gruppendynamik, der Spielsituation etc. die Fahrlässigkeit verneint (OLG Oldenburg VersR 92, 114 für ein 7-jähriges Kind in einer Spiel-Streit-Situation, Revision nicht angenommen; BGH NJW 63, 1610 für einen 12-jährigen, der bei einem Ritterspiel ein Holzmesser geworfen hat).  

     

    Anspruch gem. § 829 BGB

    Der BGH hat die Billigkeitshaftung auch auf folgende Fälle ausgedehnt: Ein Anspruch aus unerlaubter Handlung scheidet nicht wegen § 828 Abs. 3 BGB aus, sondern weil kein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann, da die Steuerungsfähigkeit fehlt (NJW 63, 1609). In den anderen Urteilen wird § 829 BGB dagegen regelmäßig nicht erörtert. Hintergrund ist folgender: Sofern der Täter vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat, besteht schon der Anspruch aus §§ 823 BGB ff. BGB. Sofern der Täter noch nicht einmal fahrlässig gehandelt hat, ist für die Billigkeitshaftung regelmäßig kein Raum. Es darf zwar im Rahmen der gebotenen Billigkeitsabwägung berücksichtigt werden, ob eine Haftpflichtversicherung besteht. Das Vorliegen einer Haftpflichtversicherung ist aber nicht anspruchsbegründend (so schon BGH NJW 79, 2096 jeweils für § 829 BGB; aktuell BGH NZV 10, 74 allerdings für die Frage, ob das Verschulden entbehrlich sein kann, wenn eine Versicherung vorhanden ist.).  

     

    Lösung

    Die Klage ist abzuweisen (auf Ansprüche gem. § 823 Abs. 2 StGB i.V. mit Körperverletzungsdelikten gem. dem StGB soll nicht eingegangen werden).  

     

    Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB. Zwar liegen die Tatbestandsvoraussetzungen vor. Der Beklagte war auch deliktsfähig. Denn § 828 Abs. 3 BGB greift nicht ein, da der Beklagte in der Lage war, die Gefahrensituation zu erkennen.  

     

    Der Beklagte handelte aber nicht fahrlässig i.S. von § 823 Abs. 1 i.V. mit § 276 BGB. Ohne Bedeutung ist, dass der Beklagte wegen seiner ADHS-Erkrankung nicht entsprechend seiner Einsichtsfähigkeit handeln konnte. Maßgeblich ist vielmehr die sog. Gruppenfahrlässigkeit. Die nach dem Sachverständigengutachten verbleibenden Zweifel, ob in der konkreten Situation andere Achtjährige fahrlässig gehandelt hätten und deswegen auch dem Beklagten ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann, gehen zulasten des Klägers.  

     

    Der Kläger hat auch keinen Anspruch aus § 829 BGB. Sofern von einem noch nicht einmal leicht fahrlässigen Verhalten des Beklagten ausgegangen wird, entspricht es nicht der Billigkeit allein wegen des Vorhandenseins der Haftpflichtversicherung eine Haftung gem. § 829 BGB zu bejahen.  

     

    Quelle: Ausgabe 09 / 2010 | Seite 159 | ID 138043